Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.258/2007
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1B_258/2007

Urteil vom 30. November 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Pascal Veuve,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich.

Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 12. Oktober 2007 des Obergerichts des
Kantons Zürich, Anklagekammer.
Sachverhalt:

A.
Der 1969 geborenen X.________ wird vorgeworfen, am 5. September 2005 in
Zürich ihren Ehemann getötet zu haben, indem sie ihn im Verlauf einer
Auseinandersetzung mit einem Messerstich ins Herz gestochen habe.

Sie wurde am 5. September 2005 verhaftet und später in Untersuchungshaft
versetzt. Mit Anklageschrift vom 3. August 2007 erhob die Staatsanwaltschaft
IV des Kantons Zürich Anklage wegen vorsätzlicher Tötung. Mit Verfügung vom
9. August 2007 ordnete die Präsidentin der Anklagekammer des Obergerichts des
Kantons Zürich Sicherheitshaft an. Mit Beschluss der Anklagekammer vom 14.
September 2007 wurde die Anklage zugelassen und dem Obergericht des Kantons
Zürich zur Beurteilung überwiesen.

B.
Nach Anhörung von X.________ wies die Anklagekammer, Stellvertreter der
Präsidentin, am 12. Oktober 2007 das Gesuch um Aufhebung der Sicherheitshaft
und Haftentlassung ab.

C.
Mit Eingabe vom 12. November 2007 führt X.________ Beschwerde an das
Bundesgericht mit dem Antrag, die Verfügung der Anklagekammer vom 12. Oktober
2007 aufzuheben, sie sei unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen,
eventuell sei das Verfahren zur Prüfung von Ersatzmassnahmen und zur
anschliessenden Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen und es sei
ihr die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Die
Anklagekammer hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Die Beschwerdeführerin
hat mit Eingabe vom 28. November 2007 auf eine Replik verzichtet.

Erwägungen:

1.
Auf das Beschwerdeverfahren ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG, SR 173.110) anwendbar (siehe Art.
132 Abs. 1 BGG). Die angefochtene Verfügung vom 12. Oktober stützt sich auf
kantonales Strafprozessrecht und kann mit der Beschwerde in Strafsachen
gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001
zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001, S. 4313).

2.
Voraussetzung für die strafprozessuale Haft (hier: Sicherheitshaft) sind das
Vorliegen eines dringenden Tatverdachts sowie eines besonderen Haftgrunds (§
67 Abs. 2 i.V.m. § 58 StPO/ZH). Der dringende Tatverdacht ist nicht
bestritten. Die Beschwerdeführerin ist bezüglich des Anklagesachverhalts im
Wesentlichen geständig.

3.
Als besondere Haftgründe nennt die Anklagekammer Flucht- und
Kollusionsgefahr.

Fluchtgefahr liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft
befürchtet werden muss, die Angeklagte werde sich der Strafverfolgung oder
der zu erwartenden Strafe durch Flucht entziehen (§ 58 Abs. 1 Ziff. 1
StPO/ZH). Die Anklagekammer führt aus, die Beschwerdeführerin habe vor der
Festnahme häufig die Wohnung gewechselt und massiv Alkohol konsumiert. Sie
sei keiner geregelten Arbeit nachgegangen, habe finanzielle Unterstützung vom
Sozialamt bezogen und sei verschuldet. Aufgrund ihres Vorlebens bestehe die
Gefahr, dass sie in Freiheit erneut Alkohol und/oder Drogen konsumiere, in
einen unsteten Lebenswandel abgleite und dadurch dem erkennenden Gericht
nicht zur Verfügung stehe. Zudem lebten ihr Vater und ihre Tante in
Deutschland und es sei nicht auszuschliessen, dass sie zu ihnen Kontakt
suchen könnte. Überdies drohe der Beschwerdeführerin im Falle einer
Verurteilung eine empfindliche Freiheitsstrafe. Eine mildere Massnahme als
Sicherheitshaft sei ausgeschlossen, weil damit die Fluchtgefahr nicht wirksam
gebannt werde.

Kollusionsgefahr liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft
befürchtet werden muss, die Angeschuldigte werde Spuren oder Beweismittel
beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen oder die
Abklärung des Sachverhalts auf andere Weise gefährden (§ 58 Abs. 1 Ziff. 2
StPO/ZH). Nach Ansicht der Anklagekammer werden für die gerichtliche
Beurteilung die Aussagen eines Zeugen relevant sein, zu dem die
Beschwerdeführerin früher eine enge Beziehung pflegte. Es bestehe die Gefahr,
dass sie diesen in seinen Aussagen zu beeinflussen versuchen könnte.

4.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit. Sie
bestreitet das Vorliegen von Flucht- und Kollusionsgefahr und die
Verhältnismässigkeit der Haftdauer. Zudem habe die Anklagekammer die
möglichen Ersatzmassnahmen nur unvollständig geprüft.

5.
Fluchtgefahr darf nach der Rechtsprechung nicht schon angenommen werden, wenn
die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen
konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich,
sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden
Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden
Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62 mit Hinweisen).

Die mutmassliche Lebensführung der Angeschuldigten nach der Haftentlassung
interessiert für die Beurteilung der Haft nur insoweit, als dies auf einen
Haftgrund bezogen wird. Dies heisst im vorliegenden Fall insoweit, als
ernsthaft befürchtet werden muss, die Angeschuldigte werde sich der
Strafverfolgung oder der zu erwartenden Strafe durch Flucht entziehen.

Da die Anklagekammer im vorliegenden Fall die Gefahr des Untertauchens bzw.
des Nichterscheinens zur Gerichtsverhandlung glaubhaft darlegt und überdies
von einer baldigen gerichtlichen Beurteilung auszugehen ist, erscheint die
Fortsetzung der Haft wegen Fluchtgefahr bei verfassungsrechtlicher
Beurteilung gerade noch haltbar. Folglich durfte im Interesse der
Fluchtsicherung darauf verzichtet werden, mildere Massnahmen anzuordnen. Bei
diesem Ergebnis kann offenbleiben, ob die Haft auch wegen Kollusionsgefahr
weitergeführt werden darf.

6.
Strafprozessuale Haft (hier: Sicherheitshaft) ist nicht Strafhaft. Sie
bezweckt die Sicherung des Strafverfahrens und der allfälligen
Strafvollstreckung (Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Auflage, Zürich
2004, Rz. 690 f.; Robert Hauser/Erhard Schweri/Karl Hartmann, Schweizerisches
Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 68 Rz. 1) und nicht die
Bestrafung des Tatverdächtigen. Dieser gilt bis zur rechtskräftigen
Verurteilung vermutungsweise als unschuldig (Art. 32 Abs. 1 BV) und hat
Anspruch auf ein Urteil (gemeint: Sachurteil) innert angemessener Frist (Art.
29 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 3 Satz 2 BV).

Im vorliegenden Fall dauert der Freiheitsentzug nunmehr rund zwei Jahre und
drei Monate. Immerhin wurde am 3. August 2007 Anklage erhoben und es ist -
nach Angaben der Anklagekammer - davon auszugehen, dass das erkennende
Gericht den Fall prioritär und speditiv behandeln wird. Unter dieser
Voraussetzung erscheint die Haftdauer gerade noch verhältnismässig.

7.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen. Bei diesem Ausgang wird die
Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 BGG). Sie ersucht
um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Die Voraussetzungen gemäss
Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG sind erfüllt. In Bewilligung des Gesuchs sind keine
Gerichtskosten zu erheben und dem Anwalt der Beschwerdeführerin ist eine
angemessene Entschädigung auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Rechtsanwalt Pascal Veuve wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich,
Anklagekammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. November 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Thönen