Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.257/2007
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1B_257/2007

Urteil vom 5. Dezember 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Scherrer.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Pascal Veuve,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026
Zürich.

Haftentlassung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 7. November 2007 des Bezirksgerichts
Zürich, Haftrichter.
Sachverhalt:

A.
Am 11. Mai 2007 beantragte die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich dem
Haftrichter des Bezirkes Zürich die Anordnung von Untersuchungshaft für
X.________. Die Staatsanwaltschaft begründete ihr Ersuchen damit, dass der
Angeschuldigte dringend verdächtigt werde, am Abend des 10. Mai 2007 bei
einer Streitigkeit im Zusammenhang mit Parkplätzen und den von den
Beteiligten benutzten Motorfahrzeugen einen geladenen und schussbereiten
Revolver gegen eine Person gerichtet und darauf gegen eine zweite Person
einen Schuss abgegeben zu haben. Diese zweite Person sei im Kopf-/Halsbereich
getroffen worden. Der dringende Tatverdacht ergebe sich aus Angaben der
Geschädigten und Auskunftspersonen, der Sachverhaltsfeststellungen sowie der
Aussagen des Angeschuldigten. Dieser gestehe die Schussabgabe zu; er habe
sich allerdings bedroht gefühlt und den Schuss nicht absichtlich abgegeben.
Als besondere Haftgründe machte die Staatsanwaltschaft Flucht- sowie
Kollusionsgefahr geltend.

Der Haftrichter gab dem Gesuch am 12. Mai 2007 statt und ordnete die
Untersuchungshaft wegen Kollusions- und Fluchtgefahr an.

B.
Mit haftrichterlichen Verfügungen vom 8. August und 27. September 2007 wurde
die Untersuchungshaft jeweils verlängert. Am 5. November 2007 stellte die
Staatsanwaltschaft einen weiteren Antrag auf Verlängerung der
Untersuchungshaft. Diesem Ersuchen kam der Haftrichter am 7. November 2007
nach, indem er die Fortsetzung der Untersuchungshaft bis 12. Februar 2008
verfügte.

C.
In seiner Beschwerde in Strafsachen vom 16. November 2007 beantragt
X.________ die Aufhebung der Verfügung vom 7. November 2007 und seine
umgehende Entlassung aus der Untersuchungshaft, allenfalls unter
gleichzeitiger Anordnung von Ersatzmassnahmen. Eventualiter sei das Verfahren
zur Prüfung des Haftgrundes der Fluchtgefahr inklusive diesbezüglicher
Ersatzmassnahmen an den Haftrichter zurückzuweisen.

Der Haftrichter des Bezirksgerichtes Zürich verzichtet auf eine
Vernehmlassung, während die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich auf
Abweisung der Beschwerde schliesst.
In seiner Replik hält der Beschwerdeführer sinngemäss an seinen Anträgen
fest.

Erwägungen:

1.
Die Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.

2.
Untersuchungshaft darf nach Zürcher Strafprozessrecht nur angeordnet werden,
wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt
wird und ausserdem ein besonderer Haftgrund vorliegt (§ 58 Abs. 1 des
Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919/StPO/ZH [LS 321]). Die
besonderen Haftgründe der Flucht- respektive Kollusionsgefahr sind gegeben,
wenn auf Grund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der
Angeschuldigte werde sich der Strafverfolgung oder der zu erwartenden Strafe
durch Flucht entziehen (§ 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH), beziehungsweise er
werde Spuren oder Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu
verleiten suchen oder die Abklärung des Sachverhalts auf andere Weise
gefährden (§ 58 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH).

2.1 Der Haftrichter verweist in seinem Entscheid in erster Linie auf die
bisher in dieser Sache ergangenen Verfügungen und die Anträge der
Staatsanwaltschaft. Bis anhin waren sowohl die Flucht- als auch die
Kollusionsgefahr bejaht worden. Auch der Staatsanwalt hat in seinem Antrag
vom 5. November 2007 beide Haftgründe angeführt. Indes hat sich der
Haftrichter mit der Prüfung der Kollusionsgefahr begnügt und die Frage, ob
auch die Fluchtgefahr nach wie vor gegeben ist, offen gelassen.

Der Beschwerdeführer streitet sowohl das Vorliegen von Kollusions- als auch
von Fluchtgefahr ab. Im Übrigen sei allfälligen Bedenken mit Ersatzmassnahmen
zu begegnen, etwa in Form von Kontaktverboten. Unbestritten ist der dringende
Tatverdacht, zumal der Beschwerdeführer die Schussabgabe zugesteht.

2.2 Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen,
Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen
setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren
und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr
soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit oder einen Urlaub dazu
missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu
vereiteln oder zu gefährden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes
genügt indessen die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in
Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft oder die
Nichtgewährung von Urlauben unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen
vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen.
Das Vorliegen des Haftgrundes ist nach Massgabe der Umstände des Einzelfalles
zu prüfen (BGE 132 I 21 E. 3.2 S. 23; 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4b
S. 261, je mit Hinweisen).

Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtes namentlich ergeben aus dem bisherigen
Verhalten des Angeschuldigten im Strafprozess (Aussageverhalten,
Kooperationsbereitschaft, Neigung zu Kollusion usw.), aus seinen persönlichen
Merkmalen (Leumund, allfällige Vorstrafen usw.), aus seiner Stellung und
seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den
persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen (Art
der beruflichen, freundschaftlichen, familiären oder sozialen Kontakte). Bei
der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung der
Strafuntersuchung wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung
der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der
untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen
(vgl. BGE 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4b S. 261, je mit Hinweisen).

2.3 Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit
(Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV) wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen des kantonalen Haftrichters
willkürlich sind (vgl. BGE 132 I 21 E. 3.2.3 S. 24 mit Hinweisen).

2.4
2.4.1 Der Staatsanwalt hat sowohl in seinen Verlängerungsanträgen als auch in
seiner Vernehmlassung ans Bundesgericht sinngemäss dargetan, dass es für eine
umfassende Abklärung der sehr schweren Tat, welche dem Beschwerdeführer zur
Last gelegt wird, unabdingbar sei, dass alle massgeblichen
(Zeugen-)Einvernahmen der zahlreichen Auskunftspersonen und der beiden
Geschädigten absolut unbeeinflusst stattfinden könne. Der Haftrichter gibt
dazu zu bedenken, gerade bei nicht vollumfänglich geständigen Tätern liege es
auf der Hand, dass sie versuchten, die Tatmotivation und die subjektive
Komponente der Tat zu beschönigen oder gar zu verharmlosen. In diesem
Zusammenhang führt der Staatsanwalt aus, da der Beschwerdeführer lediglich in
Bezug auf die eigentliche Schussabgabe geständig sei, sich hingegen im
Zusammenhang mit dem subjektiven Tatbestand höchst indifferent äussere -
einerseits behaupte er, gar nicht bewusst geschossen zu haben, andererseits
mache er eine Notwehrsituation geltend - sei bei dieser Sachlage von einem
Prozess vor dem Geschworenengericht auszugehen. Dabei seien die massgeblichen
Zeugenaussagen erst direkt vor Gericht zu machen, weshalb die diesbezügliche
Kollusionsgefahr bis zur Hauptverhandlung andauere. Das sei umso mehr der
Fall, als es sich bei den noch in Frage kommenden Zeugen um Schützenkollegen
des Beschwerdeführers handle, zu welchen dieser ein freundschaftliches
Verhältnis pflege. Diese Beeinflussungsgefahr dauere bis zur Hauptverhandlung
vor Geschworenengericht an und sei von einer allfälligen früheren
zusätzlichen Zeugeneinvernahme im Rahmen der Untersuchung unabhängig.

2.4.2 Weiter nimmt der Staatsanwalt Bezug auf zwei Briefe, welche der
Beschwerdeführer in der Haft an seine Ehefrau und das Opfer geschrieben hat
(Briefe vom 15. und 17. Mai 2007). Der Haftrichter stellt jedoch - zu Recht -
nicht auf diese Schreiben ab, da verschiedene Interpretationsmöglichkeiten
beständen und die Darstellung des Beschwerdeführers dazu plausibel erscheine.

2.4.3 Der Staatsanwalt zieht ergänzend in Erwägung, es sei auch nicht
entscheidend, ob Beeinflussungsversuche aussichtsreich seien, da eine
Gefährdung der Wahrheitsfindung genüge. Dieses Stadium der Wahrheitsfindung
dauere bis zum Geschworenenprozess an. Massgeblich erscheint dem Haftrichter,
dass der in Frage stehende Tatvorwurf äusserst schwer wiegt und der
Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung eine empfindliche Strafe zu
gewärtigen hat. Die Konsequenzen für den Beschwerdeführer seien erheblich.

2.5 Diese Ausführungen sind nachvollziehbar und lassen eine Aufrechterhaltung
der Haft wegen Kollusionsgefahr gerade mit Blick auf die Schwere der Tat und
die hohe Mindeststrafe, welche dem Beschwerdeführer im Fall einer
Verurteilung wegen versuchter Tötung droht, als verfassungs- und
konventionsrechtlich zulässig erscheinen. Wenn der Beschwerdeführer geltend
macht, die befreundeten Auskunftspersonen oder Zeugen seien bei der Tat gar
nicht anwesend gewesen, verkennt er, dass diese allenfalls zur subjektiven
Tatkomponente, welche nach wie vor ungeklärt ist, Auskunft geben können.
Gerade dem Angeschuldigten nahestehende Zeugen und Auskunftspersonen, welche
den Beschwerdeführer besser kennen, können eventuell die Gründe, welche zur
Tat geführt haben, erhellen. Für die Annahme von Kollusionsgefahr genügt es
bereits, dass - wie hier - konkret befürchtet werden muss, der
Beschwerdeführer werde in Freiheit auf Opfer und Zeugen einwirken, um den
Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Ob dieses Unterfangen mehr oder
weniger aussichtsreich ist, ist nicht ausschlaggebend, da auch eine
Gefährdung der Wahrheitsfindung genügt. Auch der Einwand, die massgeblichen
Freunde des Beschwerdeführers seien bereits polizeilich angehört worden, ist
unbehelflich. Die gerichtliche Vorladung der geschädigten Partei bzw. von
Zeugen oder Auskunftspersonen, deren Abhörung das erkennende Gericht für
angebracht erachtet, ist im zürcherischen Strafprozess ausdrücklich
vorgesehen (vgl. §§ 171 Abs. 2 und 179 StPO/ZH). Falls zur Abklärung des
Tatbestandes weitere Beweiserhebungen erforderlich erscheinen, können auch
schon einvernommene Zeugen erneut abgehört werden (§ 183 Abs. 2 StPO/ZH).
Geschädigte haben im Übrigen das Recht, zur Hauptverhandlung vorgeladen zu
werden (§ 192 Abs. 4 StPO/ZH).

2.6 Bei Würdigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Falles ist den
kantonalen Behörden die Bejahung von Kollusionsgefahr nicht vorzuwerfen. Es
ist dabei davon auszugehen, dass die kantonalen Behörden für den weiteren
Verlauf des Verfahrens dem Beschleunigungsgebot die nötige Beachtung schenken
werden. Da der Haftrichter die Frage, ob Fluchgefahr bestehe, offen gelassen
hat, erübrigen sich weitere Erwägungen dazu. Immerhin ist in diesem
Zusammenhang anzuführen, dass das Verhalten des Beschwerdeführers unmittelbar
nach der Tat zeigt, dass sein erster Reflex die Flucht war. Will er heute den
Eindruck vermitteln, er sei zum Tatort zurückgekehrt, um sich zu stellen,
überzeugt dies nicht. Erst nachdem ihm die Polizei gefolgt war, liess er sich
- wenn auch widerstandslos - festnehmen. Zu Recht nennt der Staatsanwalt auch
die Suiziddrohung vom April 2002, welche - neben der zur Diskussion stehenden
Tat - ebenfalls aufzeigt, dass der Beschwerdeführer in schwierigen
Situationen zu extremen Reaktionen neigt.

2.7 Was die Anordnung von Ersatzmassnahmen anbelangt, ist dem Haftrichter
darin zuzustimmen, dass keine mildere Massnahme ersichtlich ist, welche der
Verdunkelungsgefahr hinreichend entgegenwirken könnte. Ein Kontaktverbot ist
jedenfalls nicht tauglich, um der Kollusionsgefahr wirksam zu begegnen, zumal
es vorliegend schwerlich durchsetzbar oder überprüfbar wäre, da die
massgeblichen Personen alle aus dem engeren Bekanntenkreis des
Beschwerdeführers stammen.

3.
Der Beschwerdeführer rügt überdies eine Verletzung des rechtlichen Gehörs,
weil der Haftrichter sich nicht zur vom Staatsanwalt geltend gemachten
Fluchtgefahr geäussert habe. Dazu war der Haftrichter nicht gehalten, nachdem
er den besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr als gegeben erachtete. Das
Vorliegen eines besonderen Haftgrundes genügt, um die Aufrechterhaltung von
Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Von weiteren Ausführungen durfte der
Haftrichter darum absehen. Das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers wurde
durch dieses Vorgehen nicht verletzt.

4.
Die Beschwerde ist als unbegründet abzuweisen. Dem Ausgang des Verfahrens
entsprechend, sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art.
66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs.
1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. Dezember 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Scherrer