Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.231/2007
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1B_231/2007 /fun

Urteil vom 8. November 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Isabelle
Brunner Schwander,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, 4. Abteilung, Badenerstrasse 90, Postfach, 8026
Zürich.

Haftentlassung,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Präsidialverfügung des Bezirksgerichts
Zürich, 4. Abteilung, vom

27. September 2007.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde am 27. März 2007 von der Stadtpolizei Zürich verhaftet. Mit
Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 4. Abteilung, vom 2. Juli 2007 wurde er
wegen mehrfacher Widerhandlung und Übertretung gegen das
Betäubungsmittelgesetz, der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer sowie der Hinderung einer
Amtshandlung (Art. 286 StGB) für schuldig gesprochen. Des Weitern wurde die
Rückversetzung bezüglich mehrerer, früher ausgefällter unbedingter
Freiheitsstrafen angeordnet und eine Gesamtstrafe von zehn Monaten
Freiheitsstrafe verhängt, unter Anrechnung von insgesamt 97 Tagen
Untersuchungs- und Sicherheitshaft sowie vorzeitigem Strafvollzug bis und mit
Urteilsdatum. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde nicht aufgeschoben. Das
bezirksgerichtliche Urteil ist noch nicht rechtskräftig. X.________ befindet
sich seit dem 19. April 2007 im vorzeitigen Strafvollzug.

Am 29. August 2007 stellte der Verurteilte ein Gesuch um bedingte Entlassung
aus dem vorzeitigen Strafvollzug per 16. Oktober 2007. Dieses Gesuch wurde
zusammen mit einem vom 21. September 2007 datierenden Führungsbericht des
Gefängnisses Affoltern, wo X.________ inhaftiert ist, an das Bezirksgericht
Zürich überwiesen.

Mit Präsidialverfügung vom 27. September 2007 wies der Präsident der 4.
Abteilung des Bezirksgerichts Zürich das Gesuch von X.________ um bedingte
Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug wegen Flucht- und
Wiederholungsgefahr ab.

B.
X.________ hat gegen die Präsidialverfügung Beschwerde in Strafsachen
erhoben. Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die
Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug. Eventualiter sei die Sache zu
neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht er um
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege im bundesgerichtlichen
Verfahren.

C.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl als auch der Präsident der 4. Abteilung
des Bezirksgerichts Zürich haben auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Der
angefochtene Entscheid erging später. Gemäss Art. 132 Abs. 1 BGG ist daher
das Bundesgerichtsgesetz anwendbar.

1.2 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der
die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in
Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Die Beschwerde in
Strafsachen ist hier somit gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den
angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist nach
Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, nach Verbüssung von zwei Dritteln der
verhängten Strafe sei die bedingte Entlassung des Straftäters aus dem
Strafvollzug (Art. 86 StGB) die Regel. Die Abweisung seines Gesuchs um
bedingte Entlassung werde einzig mit den Vorstrafen begründet. Gemäss BGE 133
IV 201 E. 2.3 sei bei der Prognose über das zukünftige Wohlverhalten des
Straftäters aber eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, die neben dem Vorleben
auch die Persönlichkeit des Straftäters, das Verhalten während des
Strafvollzugs, die Einstellung zu den Taten, die allfällige Besserung und die
nach der Entlassung zu erwartenden Lebensverhältnisse berücksichtige. Da ein
bundesrechtlicher Anspruch auf bedingte Entlassung aus dem (vorzeitig
angetretenen) Strafvollzug bestehe, sei ein kantonaler Haftgrund im Sinn von
§ 58 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 betreffend den
Strafprozess (StPO/ZH) nicht mehr gegeben. Der Beschwerdeführer rügt eine
Verletzung von Art. 86 StGB, von § 58 StPO/ZH, des Grundrechts auf
persönliche Freiheit und des Anspruchs auf rechtliches Gehör mangels
Abklärung und hinreichender Auseinandersetzung mit allen rechtserheblichen
Faktoren.

2.2 Der Präsident der 4. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich befand gestützt
auf einen Entscheid des Kassationsgerichts Zürich vom 25. März 1991 (= ZR
97/1998 Nr. 13), dass das Gesuch um bedingte Entlassung aus dem vorzeitigen
Strafvollzug mangels Rechtskraft des gegen den Beschwerdeführer
ausgesprochenen Strafurteils des Bezirksgerichts Zürich vom 2. Juli 2007
nicht nach der bundesrechtlichen Vorschrift über die bedingte Entlassung
(Art. 86 StGB) zu beurteilen sei, sondern nach der kantonalen Bestimmung über
die Untersuchungs- und Sicherheitshaft (§ 58 StPO/ZH), wobei die Möglichkeit
einer bedingten Entlassung berücksichtigt werden müsse. Der Richter
betrachtet die Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1
Ziff. 1 und 3 StPO/ZH) als gegeben. Angesichts der Vorstrafenbelastung sei
dem Beschwerdeführer eine ungünstige Prognose zu stellen. Eine vorzeitige
Haftentlassung sei daher nicht gerechtfertigt.

2.3 Der Beschwerdeführer befindet sich in Sicherheitshaft (§ 58 i.V.m. § 67
StPO/ZH) resp. im vorzeitigen Strafvollzug. Eine übermässige Dauer der
strafprozessualen Haft stellt eine unverhältnismässige Beschränkung des
Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 BV,
Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK) dar. Sie liegt dann vor, wenn die Haftfrist die
mutmassliche Dauer der zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion
übersteigt. Der Haftrichter darf die strafprozessuale Haft deshalb nur so
lange erstrecken, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der konkret zu
erwartenden Freiheitsstrafe rückt (BGE 126 I 172 E. 5a S. 176; 124 I 208 E. 6
S. 215, mit Hinweisen).

Die Frage, ob die Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist
aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen. Die
Möglichkeit einer späteren bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug nach
Verbüssung von zwei Dritteln der auferlegten Strafe (Art. 86 StGB) ist dabei
grundsätzlich ausser Acht zu lassen, da die Zulässigkeit der bedingten
Entlassung im Haftprüfungsverfahren regelmässig noch nicht beurteilt werden
kann und der Haftrichter bereits hinsichtlich der voraussichtlich vom
Sachrichter auszufällenden Freiheitsstrafe von einer Hypothese ausgehen muss.
Von dieser Regel ist gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts allerdings
abzuweichen, wenn die konkreten Umstände im Einzelfall, namentlich die
Festlegung der zu erwartenden Freiheitsstrafe in einem erstinstanzlichen
Urteil, dies ausnahmsweise gebieten (Urteile des Bundesgerichts 1P.18/2005
vom 31. Januar 2005, E. 1 und E. 2; 1P.246/2000 vom 11. Mai 2000, E. 2;
1P.611/1998 vom 17. Dezember 1998, E. 4).
Trifft Letzteres zu und kommt der Haftrichter zum Schluss, eine
Haftentlassung sei wegen Flucht- und Wiederholungsgefahr nicht
gerechtfertigt, so hat er das Haftentlassungsgesuch an die für den Entscheid
betreffend die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug zuständige Behörde zu
überweisen oder auf andere Weise für eine koordinierte Anwendung der
strafprozessualen Haftvorschriften und der bundesrechtlichen Vorschrift über
die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug (Art. 86 StGB) zu sorgen (Urteil
1P.18/2005, E. 2).

Bei der Beurteilung, ob eine für die bedingte Entlassung erforderliche
günstige Prognose bezüglich des zukünftigen Wohlverhaltens des Inhaftierten
gestellt werden kann (Art. 86 Abs. 1 StGB), ist gemäss der vom
Beschwerdeführer zitierten Rechtsprechung eine Gesamtwürdigung der
Verhältnisse zu erstellen, welche nebst dem Vorleben, der Persönlichkeit und
dem Verhalten des Inhaftierten während des Strafvollzugs vor allem dessen
neuere Einstellung zu seinen Taten, seine allfällige Besserung und die nach
der Entlassung zu erwartenden Lebensverhältnisse berücksichtigt. Der Verzicht
auf eine Gesamtwürdigung aller für die Prognose relevanten Umstände und das
alleinige Abstellen auf die Vorstrafen stellt eine Ermessensüberschreitung
dar (BGE 133 IV 201 E. 2.3 S. 204). Im Rahmen der Prüfung des Gesuchs um
bedingte Entlassung ist ein Bericht der Anstaltsleitung einzuholen und ist
der Inhaftierte anzuhören (Art. 86 Abs. 2 StGB).

2.4 Im vorliegenden Fall wurde die vom Beschwerdeführer zu erwartende
Freiheitsstrafe erstinstanzlich auf zehn Monate festgesetzt. Gemäss der
Beschwerdeschrift ist das Urteil des Bezirksgerichts lediglich deshalb nicht
rechtskräftig, weil die schriftliche Urteilsbegründung noch aussteht. Da die
Rechtsmittelfrist zur Urteilsanfechtung abgelaufen ist (vgl. § 414 StPO/ZH),
steht die Dauer des Freiheitsentzugs definitiv fest. Unter diesen Umständen
hätte die Möglichkeit der bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei
Dritteln der ausgesprochenen Freiheitsstrafe bei der Prüfung der
Verhältnismässigkeit der Dauer der strafprozessualen Haft berücksichtigt
werden müssen. Dabei hätte sich der zuständige Abteilungspräsident mit
sämtlichen, für die Frage der bedingten Entlassung aus dem vorzeitigen
Strafvollzug relevanten Faktoren auseinandersetzen müssen. Da der
Abteilungspräsident keine Gesamtwürdigung vornahm, sondern die
Sicherheitshaft allein gestützt auf die Vorstrafen aufrechterhielt, verletzt
der angefochtene Entscheid sowohl die verfassungs- und konventionsrechtlichen
Garantien als auch Art. 86 StGB.

2.5 Eine sofortige Entlassung des Beschwerdeführers aus dem vorzeitigen
Strafvollzug ist indessen nicht gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer befindet
sich seit dem 27. März 2007 in Haft. Somit dauert die auf zehn Monate
festgesetzte Freiheitsstrafe längstens bis 27. Januar 2008. Aufgrund der
grossen Anzahl der Vorstrafen steht trotz gutem Führungsbericht der
Gefängnisleitung keineswegs fest, dass dem Beschwerdeführer die für die
bedingte Entlassung nach Art. 86 StGB erforderliche gute Prognose ohne
weiteres gestellt werden kann.

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, die angefochtene Präsidialverfügung
aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an das
Bezirksgericht Zürich, 4. Abteilung, zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG).
Der Abteilungspräsident wird die Verhältnismässigkeit der strafprozessualen
Haft neu zu prüfen haben. Das Gesuch um bedingte Entlassung aus dem
vorzeitigen Strafvollzug ist abzuweisen.

Ausgangsgemäss sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der
Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
im bundesgerichtlichen Verfahren ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die angefochtene Präsidialverfügung des
Bezirksgerichts Zürich, 4. Abteilung, vom 27. September 2007 aufgehoben und
die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an das Bezirksgericht
zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch um bedingte Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug wird
abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl
und dem Bezirksgericht Zürich, 4. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. November 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Die Gerichtsschreiberin: