Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.216/2007
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2007
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2007


1B_216/2007 /daa

Urteil vom 11. Oktober 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Isabelle
Brunner Schwander,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Haftentlassung,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter,
vom 13. September 2007.

Sachverhalt:

A.
X. ________ befindet sich seit dem 13. Juni 2007 wegen des dringenden
Tatverdachts der einfachen Körperverletzung und der Gefährdung des Lebens in
Untersuchungshaft. Gemäss dem Antrag der Staatsanwaltschaft IV des Kantons
Zürich, Gewaltdelikte, auf Fortsetzung der Untersuchungshaft betrifft der
Tatverdacht folgendes Geschehen: Im Anschluss an eine verbale
Auseinandersetzung und in einer für ihn ausweglosen Situation habe der
Angeschuldigte seine in ihrem Bett schlafende Ehefrau Y.________ mit
Brennsprit übergossen. Als diese aufgewacht sei, habe der Angeschuldigte ein
Feuerzeug angezündet und ihr dieses in einer Entfernung von circa 17
Zentimeter zur mit Sprit übergossenen Matratze hingehalten. Dabei habe er auf
seine wenige Wochen zuvor erfolgte Selbstanzündung angespielt und die
Geschädigte in Angst und Schrecken versetzen wollen. Die Geschädigte habe den
Angeschuldigten an den verbrannten Ohren gepackt, worauf dieser von ihr
abgelassen habe. Darauf sei die Geschädigte die Treppe hinuntergelaufen,
während der Angeschuldigte im oberen Stock weiterhin getobt und die Matratze
inklusive Bettwäsche aus dem Fenster geworfen habe. Nachdem dieser ebenfalls
in das untere Stockwerk gekommen sei, habe er der Geschädigten wegen seiner
schmerzenden Ohren die Faust massiv ins Gesicht geschlagen. Die Geschädigte
habe dadurch eine circa 1 Zentimeter lange Rissquetschwunde im Bereich der
Oberlippe rechts erlitten.

Mit Verfügung vom 13. September 2007 verlängerte der Haftrichter des
Bezirksgerichts Zürich die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr um
weitere drei Monate bis zum 13. Dezember 2007.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________ beim Bundesgericht die
Aufhebung der haftrichterlichen Verfügung vom 13. September 2007 und seine
Entlassung aus der Untersuchungshaft, eventualiter die Rückweisung der Sache
zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz. Ferner ersucht er um Bewilligung
der unentgeltlichen Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren.

C.
Der Haftrichter liess sich vernehmen, ohne einen Antrag zu stellen. Die
Staatsanwaltschaft hat auf Vernehmlassung verzichtet. Der Beschwerdeführer
hat in der Sache nochmals Stellung bezogen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Der
angefochtene Entscheid erging später. Gemäss Art. 132 Abs. 1 BGG ist daher
das Bundesgerichtsgesetz anwendbar.

1.2 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der
die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in
Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Die Beschwerde in
Strafsachen ist hier somit gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den
angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist nach
Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Als erstes ist die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
zu prüfen. Der Beschwerdeführer macht geltend, seinem Antrag auf persönliche,
d.h. mündliche Anhörung sei nicht Folge geleistet worden. Zudem habe der
Haftrichter nicht begründet, weshalb auf eine persönliche Anhörung verzichtet
werde.

2.2 Nach der Praxis des Bundesgerichtes verlangen Art. 31 Abs. 4 BV bzw. Art.
5 Ziff. 4 EMRK nicht, dass im Haftprüfungsverfahren eine mündliche
Verhandlung vor dem Haftrichter stattfinden müsse. Eine Vorführung vor die
haftanordnende Behörde hat (gestützt auf Art. 31 Abs. 3 BV bzw. Art. 5 Ziff.
3 EMRK) lediglich bei der Haftanordnung zu erfolgen. Das kantonale
Strafprozessrecht kann jedoch über diese grundrechtlichen Minimalansprüche
hinausgehen und eine richterliche Anhörung auch für das Haftprüfungs- und
Haftverlängerungsverfahren gewährleisten (BGE 125 I 113 E. 2a S. 115 mit
Hinweisen). Soweit das rechtliche Gehör durch kantonales Verfahrensrecht
geregelt wird, verlangt die Bundesverfassung die Einhaltung dieser kantonalen
Vorschriften (vgl. BGE 126 I 97 E. 2 S. 102 f. mit Hinweisen).

In einer Eingabe an den Haftrichter am 12. September 2007 beantragte die
Strafverteidigerin des Beschwerdeführers, dieser solle persönlich angehört
werden, "sofern überhaupt noch notwendig". Diese Eingabe erfolgte, nachdem
der Beschwerdeführer auf dem Fragebogen der Staatsanwaltschaft am 6.
September 2007 eine persönliche Anhörung verlangt hatte. Der Beschwerdeführer
ist der Auffassung, er hätte aufgrund seines Antrags auf dem Fragebogen
persönlich, d.h. mündlich angehört werden müssen. Er zeigt indessen nicht
auf, inwiefern das kantonale Recht über die verfassungs- und
konventionsrechtlichen Garantien des rechtlichen Gehörs hinausgeht und einen
Anspruch auf persönliche Anhörung gewährleistet. Die Anforderungen an die
Beschwerdebegründung sind insoweit nicht erfüllt (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG;
BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254). In diesem Punkt ist auf die Beschwerde
deshalb nicht einzutreten.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer rügt sodann eine Verletzung des Grundrechts der
persönlichen Freiheit. Er bestreitet den Haftgrund der Wiederholungsgefahr.

3.2 Gemäss § 58 Abs. 1 Ziff. 3 des Gesetzes des Kantons Zürich betreffend den
Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH) ist die Anordnung und Fortdauer der
Untersuchungshaft zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder
Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ernsthaft befürchtet werden
muss, er werde, nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebliche
Vergehen verübt hat, erneut solche Straftaten begehen. Die Untersuchungshaft
ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf
diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH).

Zu den verübten Taten im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH gehören
strafbare Handlungen, aufgrund welcher eine Verurteilung erfolgt ist, sowie
Delikte, die Gegenstand eines noch pendenten Strafverfahrens bilden. Die
Vorstrafenlosigkeit des Angeschuldigten steht der Annahme der
Wiederholungsgefahr damit nicht entgegen (unpubl. Urteil des Bundesgerichts
1P.462/2003 vom 10. September 2003, E. 3.3.1, mit Hinweisen). Auch kommt es
grundsätzlich nicht darauf an, ob der Angeschuldigte "zahlreich" delinquiert
hat. Im Sinne der ratio legis der Präventivhaft ist massgeblich auf die
Schwere der Tat abzustellen, deren Wiederholung aufgrund der konkreten
Umstände droht (Urteil 1P.462/2003, E. 3.3.2-3.3.4, mit Hinweisen).

3.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundrecht der
persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit.
c EMRK) ist die Anordnung von Untersuchungsgefahr wegen Wiederholungsgefahr
verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und
anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Dabei ist
auch dem psychischen Zustand der verdächtigen Person bzw. ihrer
Unberechenbarkeit oder Aggressivität Rechnung zu tragen (BGE 123 I 268 E. 2e
S. 271 ff.). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte
sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden,
reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 125 I 60
E. 3a S. 62, mit Hinweisen).

3.4 Gemäss Haftverfügung handelt es sich bei den dem Beschwerdeführer
vorgeworfenen Delikten um schwerwiegende Straftaten, weshalb die Gefahr der
Wiederholung schwerer Straftaten bestehe. Die Rückfallprognose falle
ungünstig aus: der Beschwerdeführer sei durch die bevorstehende Trennung von
seiner Ehefrau belastet, habe keine Arbeitsstelle, stehe in einem gestörten
Verhältnis zu seiner angestammten Familie, sei aggressiv und leide unter
Alkohol- und Drogenproblemen. Ausserdem habe er selbst angegeben, er sei
schwer behindert, das Potential für "weitere Missgeschicke" sei gross, und er
sowie seine Ehefrau befänden sich seit 2001 in einer "Sackgasse". Der
Beschwerdeführer habe den äusseren Ablauf der ihm zur Last gelegten Taten
nicht bestritten, sondern angegeben, unter dem Einfluss von Medikamenten
gestanden zu sein. Die Strafuntersuchung sei weitgehend abgeschlossen. Per
Ende November 2007 werde ein psychiatrisches Gutachten erwartet, das
insbesondere über die Rückfallgefahr Auskunft gebe. Nach Eingang dieses
Gutachtens könne Anklage erhoben werden. Der Beschwerdeführer habe
möglicherweise mit einer empfindlichen Strafe zu rechnen. Insgesamt sei die
Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft somit verhältnismässig.

3.5 Dem Strafregisterauszug vom 12. Juni 2007 ist zu entnehmen, dass der
Beschwerdeführer in der Vergangenheit bereits mehrfach delinquierte
(Nötigung, Drohung, Tätlichkeiten). Diese Delikte richteten sich sämtliche
gegen die Ehefrau des Beschwerdeführers. Das vorliegende Strafverfahren
betrifft wiederum zum Nachteil der Ehefrau verübte Straftaten, wovon der
Tatbestand der Gefährung des Lebens (Art. 129 StGB) als schwere Straftat zu
qualifizieren ist. Die Voraussetzung nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH, wonach
zur Annahme von Wiederholungsgefahr die (mutmassliche) Begehung einer
schweren Straftat genügt (vgl. E. 3.2 hiervor), ist zweifelsohne gegeben.
Aufgrund der Lebensverhältnisse des Beschwerdeführers ist mit der Vorinstanz
von einer negativen Rückfallprognose auszugehen. Allein der Umstand, dass der
Beschwerdeführer, wie behauptet, bei einer Haftentlassung nicht mehr in die
eheliche Wohnung zurückkehre, lässt nicht darauf schliessen, dass er seine
Ehefrau nicht mehr angreifen wird. Gerade bei häuslicher Gewalt reicht das
Verlassen der gemeinsamen Wohnung oftmals nicht aus, um die gefährdete Person
wirksam gegen weitere Angriffe zu schützen. Die Frage, ob der
Beschwerdeführer sich emotional von seiner Ehefrau tatsächlich gelöst hat,
kann erst nach Eingang des psychiatrischen Gutachtens beantwortet werden. Im
Übrigen sind die vom Haftrichter angeführten Lebensumstände -
Arbeitslosigkeit, keine intakten familiären Verhältnisse - durchaus
Kriterien, die bei der Rückfallprognose eine wesentliche Rolle spielen. Auch
der vom Beschwerdeführer in den Einvernahmen eingestandene Alkohol- und
Drogenmissbrauch fällt negativ ins Gewicht (vgl. die Einvernahmen vom 12.
Juni 2007, S. 9-10, und vom 28. August 2007, S. 2-4).

Aufgrund der negativen Rückfallprognose und der Befürchtung, dass es zu
weiteren schweren Straftaten kommen könnte, ist die Fortsetzung der
Untersuchungshaft zumindest bis zum Eingang des psychiatrischen Gutachtens
über den Beschwerdeführer verhältnismässig. Im jetzigen Zeitpunkt sind
mildere Massnahmen nicht ersichtlich. Eine Verletzung des Grundrechts der
persönlichen Freiheit liegt damit nicht vor.

4.
Somit ergibt sich, dass die Beschwerde unbegründet und demzufolge abzuweisen
ist, soweit darauf eingetreten werden kann. Der Beschwerdeführer hat um
unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. Die
Voraussetzung hierzu, dass das gestellte Rechtsbegehren nicht von vornherein
aussichtslos erscheint, ist knapp erfüllt, so dass dem Antrag entsprochen
werden kann (vgl. Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwältin Isabelle Brunner Schwander wird zur unentgeltlichen
Rechtsbeiständin ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich, Gewaltdelikte, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Oktober 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: