Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.204/2007
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1B_204/2007 /fun

Urteil vom 3. Oktober 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Werner Greiner,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Untersuchungshaft,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 28. August 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen Nötigung, falscher Anschuldigung, sexuellen
Missbrauchs seiner Schwester und weiterer Vorwürfe. Der Beschuldigte befindet
sich seit 26. Mai 2007 in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 28. August
2007 verlängerte der Haftrichter des Bezirks Zürich die Untersuchungshaft bis
zum 28. November 2007.

B.
Mit Eingabe vom 13. September 2007 erhebt X.________ gegen die
haftrichterliche Verfügung vom 28. August 2007 Beschwerde in Strafsachen beim
Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und
die unverzügliche Haftentlassung. Ausserdem stellt er ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im bundesgerichtlichen
Verfahren.

Der Haftrichter verzichtet ausdrücklich auf eine Vernehmlassung. Die
Staatsanwaltschaft hat sich zur Sache nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Auf das Beschwerdeverfahren ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG: SR 173.110) anwendbar (vgl. Art.
132 Abs. 1 BGG). Der angefochtene Entscheid stützt sich auf kantonales
Strafprozessrecht und kann mit der Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78
Abs. 1 BGG angefochten werden. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
erfüllt sind, kann - unter dem Vorbehalt rechtsgenüglicher Rügen (Art. 42
Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) - auf die Beschwerde eingetreten werden.

2.
Die Untersuchungshaft darf nach Zürcher Strafverfahrensrecht nur angeordnet
bzw. fortgesetzt werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder
Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ein besonderer Haftgrund
vorliegt (§ 58 Abs. 1 der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 [StPO/ZH; LS
321]). Wiederholungsgefahr als besonderer Haftgrund liegt vor, wenn aufgrund
bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der Angeschuldigte
werde, "nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen
verübt hat, erneut solche Straftaten begehen" (§ 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH).
§ 58 Abs. 1 Ziff. 4 StPO anerkennt als besonderen Haftgrund auch die konkrete
Gefahr der Begehung eines Katalogs von Delikten, sofern die hängige
Untersuchung ein gleichartiges Verbrechen oder Vergehen betrifft.

Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, dass die genannten gesetzlichen
Voraussetzungen in seinem Fall gegeben seien. Er rügt eine Verletzung des
Grundrechts auf persönliche Freiheit.

3.
Zunächst bestreitet der Beschwerdeführer den dringenden Tatverdacht. Er tut
dies allerdings in pauschaler Weise. Unklar ist, ob er sich dabei bloss auf
den Vorwurf des Sexualdelikts oder auch auf die übrigen Tatvorwürfe bezieht.
Auch setzt sich die Beschwerdeschrift in keiner Weise mit den Erwägungen des
angefochtenen Entscheids zum Tatverdacht auseinander. An sich ist fraglich,
ob der entsprechende Einwand in der Beschwerde den Anforderungen von Art. 42
Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG entspricht. Die Frage kann jedoch
offenbleiben, weil dem Haftrichter beizupflichten ist, wenn er den dringenden
Tatverdacht mit Bezug auf das hier im Vordergrund stehende Sexualdelikt
bejaht hat.

Im angefochtenen Entscheid wird dabei im Wesentlichen auf die
haftrichterliche Verfügung vom 26. Mai 2007 betreffend Anordnung der
Untersuchungshaft verwiesen; die dort angestellten Erwägungen hätten nach wie
vor uneingeschränkte Gültigkeit. Die Schwester des Beschwerdeführers hat als
angebliches Opfer ihre Beschuldigungen nicht nur in der polizeilichen
Befragung vom 2. Mai 2007 geäussert. Sie hat diese in der Befragung vom 11.
Juli 2007 bei der Staatsanwaltschaft aufrecht erhalten. Dabei machte sie
wiederum geltend, der angeschuldigte Beschwerdeführer sei im Juli 2005 einmal
während ihres Tiefschlafs mit dem Penis in die Vagina eingedrungen.

Zwar steht jeder Angeschuldigte bis zur allfälligen rechtskräftigen
Verurteilung unter dem Schutz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV).
Dies schliesst aber weder die Anordnung bzw. Fortdauer von Untersuchungshaft
noch insbesondere die Annahme eines dringenden Tatverdachts aus. Im Gegensatz
zum erkennenden Sachrichter ist bei der Überprüfung des allgemeinen
Haftgrundes des dringenden Tatverdachts keine erschöpfende Abwägung
sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Macht
ein Inhaftierter geltend, er befinde sich ohne ausreichenden Tatverdacht in
strafprozessualer Haft, ist lediglich zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen
Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und
eine Beteiligung des Beschwerdeführers an dieser Tat vorliegen und die
kantonalen Behörden das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit
vertretbaren Gründen bejahen durften (BGE 116 Ia 143 E. 3c S. 146). Im Lichte
dieser Grundsätze ist es nicht zu beanstanden, wenn sich der angefochtene
Entscheid bei der Annahme eines dringenden Tatverdachts auf die belastenden
Aussagen der Schwester abstützt; aus ihren Aussagen ergeben sich ausreichende
Anhaltspunkte für eine mögliche Täterschaft des Beschwerdeführers am
fraglichen Delikt.

Da ein dringender Tatverdacht insoweit in verfassungsmässiger Weise  bejaht
worden ist, muss hier auch nicht weiter erörtert werden, ob dies für die
übrigen Deliktsvorwürfe ebenfalls zutrifft.

4.
Die Vorinstanz geht im angefochtenen Entscheid von Wiederholungsgefahr (§ 58
Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH) und von Ausführungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4
StPO/ZH) aus; dabei nimmt sie keine eindeutige Zuordnung unter die beiden
Tatbestände vor. Aus dem angefochtenen Entscheid lässt sich schliessen, dass
die Vorinstanz bei der Rechtfertigung von Präventivhaft hauptsächlich § 58
Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH als erfüllt betrachtet hat. Ob der entsprechende
Haftgrund zu Recht bejaht wurde, ist zunächst zu prüfen.

4.1 Das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Sexualdelikt ist nach der
Vorinstanz schwerer Natur; damit sei die Anlasstat gegeben. Weiter habe der
Beschwerdeführer unter anderem wegen Raubes bereits eine Gefängnisstrafe von
zwölf Monaten verbüssen müssen. In dem von der Staatsanwaltschaft eingeholten
psychiatrischen Kurzgutachten vom 15. August 2007 werde dem Beschwerdeführer
eine schlechte Rückfallprognose gestellt. Hinzu kämen konkrete Hinweise auf
ein Aggressionspotenzial des Beschwerdeführers gegenüber Dritten, namentlich
gegenüber der ihn belastenden Schwester.

4.2 Die bundesgerichtliche Praxis versteht unter den verübten Taten im Sinne
von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH sowohl strafbare Handlungen, aufgrund derer
eine Verurteilung erfolgt ist, als auch Delikte, die Gegenstand eines noch
pendenten Strafverfahrens bilden. Es muss sich um eine grössere Anzahl
schwererer Delikte, jedenfalls nicht um solche mit Bagatellcharakter,
handeln, wobei bei schwerwiegenden Einzeltaten eine kleinere Anzahl genügt
(Urteile 1P.462/2003 vom 10. September 2003, E. 3.3; 1P.150/2006 vom 3. April
2006, E. 3.2).
Demgegenüber ist der Haftgrund der Ausführungsgefahr bzw. der qualifizierten
Wiederholungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 4 StPO/ZH anwendbar, wenn nur eine
Anlasstat vorliegt, jedoch für die Zukunft schwere Delikte zu erwarten sind.
Der Haftgrund knüpft primär vorausschauend daran an, dass zu befürchten ist,
der Täter werde - wenn in Freiheit belassen oder dahin entlassen - eines der
im entsprechenden Deliktskatalog aufgeführten gefährlichen Gewaltdelikte, wie
insbesondere ein solches gegen Leib und Leben, begehen (vgl. Urteil
1P.580/2006 vom 28. September 2006, E. 2.5).

Hier liegen, die Vorbestrafung wegen Raubes eingerechnet, mehrere Vorfälle
von qualifizierten Nötigungsdelikten bzw. Gewaltdelikten vor, was
grundsätzlich für die Begründung von Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58
Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH ausreichen kann. Dass die fraglichen Delikte erheblich
im Sinne der genannten Bestimmung sind, stellt der Beschwerdeführer nicht in
Abrede. Es hilft ihm daher nicht, wenn er sinngemäss geltend macht, bisher
sei er nur wegen Raubes vorbestraft.

4.3 Dem Beschwerdeführer ist gutachterlich eine schlechte Rückfallprognose
gestellt worden. Gemäss dem erwähnten Kurzgutachten besteht bei ihm eine
wahnhafte Störung des Inhalts, dass man sein Geld haben und ihn ins Gefängnis
bringen wolle. Aufgrund dieser wahnhaften Störung sehe er die ihn belastende
Schwester, die Justiz und auch den psychiatrischen Gutachter als
bedingungslos gegen ihn gerichtet an. Die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
des Beschwerdeführers erscheine im aktuellen Zeitpunkt als reduziert.
Insbesondere könnten aggressive Verhaltensweisen gegenüber der Schwester
nicht ausgeschlossen werden, weil sie eine zentrale Stelle im Wahnsystem des
Beschwerdeführers einnehme. Der Gutachter hat bei dieser Würdigung den
äusseren Ablauf des zweiten Untersuchungsgesprächs einbezogen; dabei hatte
der Beschwerdeführer ihm gegenüber einen aggressiven Durchbruch gezeigt.
Diesen Vorfall interpretierte der Gutachter vor dem Hintergrund der von ihm
geäusserten psychiatrischen Diagnose.

Die Schlussfolgerungen im Gutachten sind für den Beschwerdeführer nicht
nachvollziehbar. Dass der Gutachter eine derartige Einschätzung bereits
gestützt auf zwei längere Untersuchungsgespräche und die Vorakten abgegeben
habe, könne nicht angehen; vielmehr hätten zusätzliche psychiatrische
Untersuchungen, wie Testverfahren, durchgeführt werden müssen. Mit diesem
Einwand vermag der Beschwerdeführer keine mangelhafte Tatsachenfeststellung
durch die Vorinstanz im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG (vgl. dazu BGE 133 II
249 E. 1.2.2 S. 252) darzutun. Dafür genügt es insbesondere nicht, den
Vorfall anlässlich des zweiten Untersuchungsgesprächs nachträglich zu
bagatellisieren, weil der Beschwerdeführer dabei den Querbezug zur
psychiatrischen Diagnose auszublenden scheint. Der Beschwerdeführer gibt auch
zu, dass er auf die ihn belastende Schwester nicht gut zu sprechen ist. Vor
diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz das
Gutachten für schlüssig erachtet hat. Damit bestand auch kein Anlass, im
vorliegenden Zusammenhang ergänzende Abklärungen zum Aggressionspotenzial des
Beschwerdeführers zu verlangen.

4.4 Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, die Rückfallprognose laute zu
wenig ungünstig, als dass die Fortsetzung der Untersuchungshaft deswegen
geboten sei. Es sei festgestellt worden, dass er nicht mit Gewalt gegen
Personen gedroht habe. Auch im Übrigen würden konkrete Anhaltspunkte für ein
erhebliches Fremdgefährdungsrisiko fehlen.

Es trifft zu, dass nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich
hohe Anforderungen an die Annahme von Wiederholungsgefahr zu stellen sind;
die rein hypothetische Möglichkeit der Begehung weiterer Delikte sowie die
Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen
nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 124
I 208 E. 5 S. 213, je mit Hinweis). Die Vorinstanz geht beim Beschwerdeführer
angesichts der festgestellten psychischen Verfassung von einem hohen und
konkreten Risiko aus, dass er sich in Freiheit gegenüber Dritten nicht nur in
geringfügiger Weise aggressiv verhalten würde. Es hält vor der Verfassung
stand, wenn die Vorinstanz vor diesem Hintergrund die Präventivhaft mit dem
aktuellen Aggressionspotenzial des Beschwerdeführers begründet. Über das
Gutachten hinaus bedarf es keiner zusätzlichen Anhaltspunkte, wie
ausdrücklicher Drohungen, für eine derartige Würdigung. Insbesondere besteht
hinreichend Grund zur Annahme, ein wirksamer Schutz der Schwester lasse sich
derzeit nur mit der Aufrechterhaltung der Haft bewerkstelligen.

Da sich die Annahme von Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3
StPO/ZH als verfassungsmässig erweist, muss nicht geprüft werden, ob auch der
Haftgrund von § 58 Abs. 1 Ziff. 4 StPO/ZH gegeben ist.

4.5 Ergänzend sei angemerkt, dass sich eine weitere Verlängerung der
Untersuchungshaft nicht beliebig mit der Annahme von Wiederholungsgefahr bzw.
Ausführungsgefahr rechtfertigen lässt. Die im Kurzgutachten diagnostizierten
massiven psychischen Probleme des Beschwerdeführers lassen jedenfalls die
Frage nach anderweitigen Massnahmen, etwa solchen fürsorgerischer Natur,
aufkommen. Der psychiatrische Begutachtungsprozess hinsichtlich des
Beschwerdeführers ist mit dem Vorliegen des Kurzgutachtens nicht
abgeschlossen. Es darf davon ausgegangen werden, dass die Staatsanwaltschaft
die notwendigen Vorkehren trifft, damit die Begutachtung - trotz der vom
Beschwerdeführer geäusserten Widerstände - beförderlich weitergeführt wird.
Spätestens bei Ablauf der angefochtenen Hafterstreckung wird gestützt auf
weitere Ergebnisse der psychiatrischen Untersuchung zu prüfen sein, ob
fürsorgerische Massnahmen angezeigt sind oder ob anstelle der
Untersuchungshaft taugliche Ersatzmassnahmen angeordnet werden können.

5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten
ist. Bei diesem Ausgang wird der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung gestellt. Dieses ist gutzuheissen, weil seine
Bedürftigkeit ausgewiesen erscheint und die Beschwerde nicht von vornherein
aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Werner Greiner wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl
und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Oktober 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: