Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.199/2007
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1B_199/2007 /fun

Urteil vom 27. September 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Steinmann.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas
Fingerhuth,

gegen

Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026
Zürich,
Obergericht des Kantons Zürich, Präsidentin der Anklagekammer, Hirschengraben
15,
Postfach 2401, 8021 Zürich.

Haftentlassung,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung
des Obergerichts des Kantons Zürich, Präsidentin der Anklagekammer, vom
30. August 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1979 geborene X.________ befindet sich seit dem 12. Dezember 2003 in
strafprozessualer Haft.

Mit Urteil des Geschworenengerichts des Kantons Zürich vom 21. Januar 2006
wurde X.________ der vorsätzlichen Tötung, der mehrfachen Gefährdung des
Lebens, des Vergehens gegen das Waffengesetz sowie der groben Verletzung der
Verkehrsregeln schuldig gesprochen und mit 16 Jahren Zuchthaus bestraft.

Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hob das Urteil des
Geschworenengerichts mit Sitzungsbeschluss vom 18. Juni 2007 auf und wies die
Sache zur Neubeurteilung an das Geschworenengericht zurück.

Am 5. Juli 2007 ersuchte X.________ um Entlassung aus der Haft. Der
Stellvertreter der Präsidentin der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons
Zürich wies das Gesuch mit Verfügung vom 17. Juli 2007 ab. Mit Urteil vom 6.
August 2007 hiess das Bundesgericht die von X.________ dagegen erhobene
Beschwerde gut, hob die Verfügung vom 17. Juli 2007 auf und wies die Sache an
die Anklagekammer zurück (Verfahren 1B_149/2007).

In der Folge wies die Präsidentin der Anklagekammer das Haftentlassungsgesuch
von X.________ mit Verfügung vom 30. August 2007 erneut ab. Sie ging davon
aus, dass X.________ wegen Abgabe von Schüssen von der Liegenschaft Ulrich
Hegnerstrasse 4 der vorsätzlichen Tötung (unter Umständen als Mittäter)
verdächtig sei, bejahte die Fluchtgefahr und erachtete die Aufrechterhaltung
der Haft als verhältnismässig.

B.
Gegen diesen Entscheid hat X.________ beim Bundesgericht am 6. September 2007
Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt die Aufhebung der
angefochtenen Verfügung und die Entlassung aus der Haft. Ferner ersucht er um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Er macht im Wesentlichen eine
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend, weil die Fluchtgefahr
nicht hinreichend begründet und der Antrag auf Freilassung unter Anordnung
von Pass- und Schriftensperre sowie Meldepflicht nicht behandelt worden
seien; ferner rügt er im Zusammenhang mit der Bejahung der Fluchtgefahr
Willkür. Schliesslich erachtet er die Haft als unverhältnismässig.
Die Staatsanwaltschaft und die Anklagekammer des Obergerichts haben auf
Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerde in Strafsachen und die gestellten Anträge sind zulässig. Auf
die Beschwerde ist einzutreten.

2.
Nach § 58 Abs. 1 i.V.m. § 67 ff. StPO kann Sicherheitshaft angeordnet bzw.
aufrechterhalten werden bei Annahme eines dringenden Tatverdachts sowie bei
Bejahung eines speziellen Haftgrundes; zu den speziellen Haftgründen zählt
namentlich die Fluchtgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO).

Der Beschwerdeführer zieht das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts (zu
Recht) nicht in Frage und setzt sich mit den entsprechenden Erwägungen im
angefochtenen Entscheid nicht auseinander. Daran vermag eine nicht näher
begründete Anmerkung in der Beschwerdeschrift nichts zu ändern. Demnach ist
vom Vorliegen des dringenden Tatverdachts im Sinne von § 58 Abs. 1 StPO
auszugehen.

3.
Im angefochtenen Entscheid bejahte die Präsidentin der Anklagekammer das
Vorliegen von Fluchtgefahr. In dieser Hinsicht macht der Beschwerdeführer
geltend, zum einen werde er in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt
und zum andern sei die Fluchtgefahr zu Unrecht bejaht worden.

3.1 Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV ergibt sich
für die Entscheidbehörde die Pflicht, ihren Entscheid zu begründen und die
Vorbringen der Betroffenen in der Entscheidfindung tatsächlich zu
berücksichtigen (BGE 124 I 49 E. 3a S. 51 und 241 E. 2 S. 242, je mit
Hinweisen). Sie muss wenigstens kurz die wesentlichen Überlegungen aufzeigen,
von denen sie sich leiten liess. Der Bürger soll wissen, warum entgegen
seinem Antrag entschieden wurde. Dabei muss sich die Behörde nicht mit allen
tatsächlichen Behauptungen und rechtlichen Einwänden auseinandersetzen und
kann sich auf die für ihren Entscheid erheblichen Gesichtspunkte beschränken
(BGE 126 I 97 E. 2b, 123 I 31 E. 2c, 121 I 54 E. 2c, je mit Hinweisen).
In Bezug auf die Annahme von Fluchtgefahr im Speziellen hat das Bundesgericht
festgehalten, dass die Höhe der dem Angeschuldigten drohenden Freiheitsstrafe
für sich allein nicht ausreicht. Die Fluchtgefahr kann nicht schon bejaht
werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr
müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als
möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Dabei kann die Höhe
der drohenden Freiheitsstrafe mitberücksichtigt werden (BGE 125 I 60 E. 3a S.
62, mit Hinweisen).

3.2 Vor diesem Hintergrund ist vorerst festzustellen, dass im angefochtenen
Entscheid auf den Eventualantrag um Freilassung unter Anordnung einer
Schriftensperre und einer Meldepflicht nicht näher eingegangen wird. Dieser
Umstand stellt für sich genommen nicht schon eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs dar. Wird die Gefahr, dass sich die betroffene Person durch Flucht der
Strafverfolgung, dem gerichtlichen Verfahren und dem Strafvollzug entziehen
könnte, bejaht, so kann auch ein Eventualbegehren um Anordnung sichernder
Massnahmen wie Schriftensperre und Meldepflicht als zurückgewiesen betrachtet
werden. In diesem Sinne gilt mit der Annahme der Fluchtgefahr und der
Abweisung des Haftentlassungsgesuches im vorliegenden Fall auch das
Eventualbegehren als abgewiesen. Damit kann nicht von einer Verletzung des
rechtlichen Gehörs gesprochen werden.

3.3 Eine Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV kann auch im Bezug auf die Bejahung
der Fluchtgefahr nicht angenommen werden. Obgleich die Begründung hierzu
knapp ausgefallen ist, kann festgestellt werden, dass die Präsidentin der
Anklagekammer verschiedene Gründe festgehalten hat, welche sie zur Annahme
der Fluchtgefahr bewegten. Insbesondere wird Bezug genommen auf die Herkunft
des Beschwerdeführers und den Umstand, dass dieser eine Lehre früh
abgebrochen habe und seither arbeitslos sei. Daraus wird geschlossen, dass
von einer engen Verwurzelung zur Schweiz nicht gesprochen werden könne und es
damit an Anhaltspunkten fehle, die den Beschwerdeführer von einer Flucht ins
Ausland abhalten würden. Damit vermag der angefochtene Entscheid in formeller
Hinsicht den Begründungsanforderungen zu genügen.

3.4 In materieller Hinsicht bestreitet der Beschwerdeführer das Vorliegen von
Fluchtgefahr. Insbesondere erachtet er die Annahme mangelnder Verwurzelung in
der Schweiz vor den gegebenen Lebensumständen als willkürlich.
Bei der Prüfung der Fluchtgefahr darf, wie dargetan, von der Höhe der
drohenden Freiheitsstrafe ausgegangen werden. Das Geschworenengericht hat
eine Freiheitsstrafe von 16 Jahren ausgesprochen. Diese Strafe wiegt nicht
nur abstrakt gesehen äusserst schwer, sondern trifft den noch jugendlichen
Beschwerdeführer in massiver Weise und verwehrt ihm weitestgehend den Aufbau
einer Existenz in der Schweiz. Hinzu tritt der Umstand, dass er vom
Geschworenengericht lebenslänglich des Landes verwiesen wird. Das bedeutet,
dass er auch nach Verbüssung der Freiheitsstrafe nicht in der Schweiz
verbleiben kann. Bei dieser Sachlage ist es nicht nur abstrakt möglich,
sondern konkret wahrscheinlich, dass er alles daran setzen könnte, sich dem
erneuten Verfahren vor dem Geschworenengericht und einer drohenden
langjährigen Freiheitsstrafe zu entziehen. Diese Annahme wird nicht schon
dadurch ausgeschlossen, dass sich der Beschwerdeführer nach der Tat nicht ins
Ausland abgesetzt hatte und sich auf telefonische Aufforderung hin vor
Durchführung der Strafuntersuchung selbst der Polizei gestellt hatte. Bei
dieser Sachlage stellen auch eine Meldepflicht und eine Passsperre keine
wirksamen Massnahmen dar, um eine Flucht tatsächlich auszuschliessen. In
Anbetracht der mangelnden Aussichten über einen Verbleib in der Schweiz
vermag an dieser Beurteilung schliesslich auch der Umstand nichts zu ändern,
dass sich die engere Familie des Beschwerdeführers in der Schweiz befindet.
Ebenso wenig ist von ausschlaggebender Bedeutung, ob tatsächlich angenommen
werden könne, er sei in der Schweiz nicht hinreichend verwurzelt.

Demnach erweist sich die Beschwerde als unbegründet, soweit der
Beschwerdeführer die Annahme von Fluchtgefahr im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff.
1 StPO in Frage stellt.

4.
Unter Hinweis auf die Rechtsprechung zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK macht der
Beschwerdeführer schliesslich geltend, die Haft mit einer Dauer von rund 3 ?
Jahren sei unverhältnismässig.

4.1 Art. 5 Ziff. 1 EMRK unterscheidet einerseits den rechtmässigen
Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht (lit. a) und
die rechtmässige Festnahme oder den rechtmässigen Freiheitsentzug zur
Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde (lit. c). Die Bestimmung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK bezieht sich einzig auf die Haft im Sinne von Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK (vgl. BGE 121 I 208 E. 4c S. 214 ff.). Es kann im
vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob die umstrittene Haft nach dem Urteil
des Kassationsgerichts - welches das Urteil des Geschworenengerichts zwar
aufhob, indessen die Schuld des Beschwerdeführers in einem weiten Ausmass
bejahte - eine solche nach Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK darstellt oder ob lit.
c von Art. 5 Ziff. 1 EMRK und damit auch Art. 5 Ziff. 3 EMRK zur Anwendung
gelangen (vgl. Renizowski, Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, Rz. 120 und 257 zu Art. 5 mit Hinweisen auf die
Rechtsprechung des EGMR).

4.2 Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in
strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer
angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens
aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine
unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie liegt dann vor,
wenn die Haftfrist die mutmassliche Dauer der zu erwartenden
freiheitsentziehenden Sanktion übersteigt. Bei der Prüfung der
Verhältnismässigkeit der Haftdauer ist namentlich der Schwere der
untersuchten Straftaten Rechnung zu tragen. Der Richter darf die Haft nur so
lange erstrecken, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der (im Falle einer
rechtskräftigen Verurteilung) konkret zu erwartenden Dauer der
freiheitsentziehenden Sanktion rückt. Im Weiteren kann eine Haft die
zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht
genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl das Verhalten der Justizbehörden
als auch dasjenige des Inhaftierten in Betracht gezogen werden müssen. Nach
der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesgerichtes und des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte ist die Frage, ob eine Haftdauer als
übermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der konkreten Verhältnisse des
einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 132 I 21 E. 4.1 S. 27; 133 I 168 E. 4.1
S. 170, je mit Hinweisen).

4.3 Der Beschwerdeführer macht in dieser Hinsicht vorerst eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) geltend, weil sich der angefochtene
Entscheid zur Verhältnismässigkeit der Haft nicht ausspreche. Er übersieht
indes, dass die Präsidentin der Anklagekammer die Frage der
Verhältnismässigkeit vor dem Hintergrund der in Betracht fallenden Delikte
tatsächlich behandelte und bejahte (E. 2.4). Zu der nur in allgemeiner Weise
und ohne Auseinandersetzung mit den konkreten Verhältnissen der Untersuchung
angesprochenen Verfahrensdauer brauchte sie sich nicht zu äussern (vgl.
nachfolgend E. 3.4).
4.4 Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, dass er sich sich seit Dezember
2003 in Haft befinde und dass das Geschworenengericht im Januar 2006 das
erstinstanzliche Urteil gefällt und das Kassationsgericht im Juni 2007 seinen
Entscheid getroffen hätten; für diese Verfahrensdauer könne er nicht
verantwortlich gemacht werden. Diese Umstände lassen indes die Dauer der Haft
für sich genommen nicht als unverhältnismässig erscheinen. Es gilt zu
berücksichtigen, dass es sich um ein umfangreiches und komplexes Verfahren
handelt, in dessen Verlauf in Anbetracht der Bestreitung und der wenigen
Zeugen zahlreiche Beweismassnahmen zu treffen waren. Der Beschwerdeführer
begnügt sich denn auch mit allgemeinen Hinweisen auf die Länge des Verfahrens
und unterlässt jegliche Hinweise, wonach die Behörden das Verfahren verzögert
hätten und das Strafverfahren wegen angeblich geringer Komplexität insgesamt
in einem wesentlich kürzeren Zeitraum hätte abgeschlossen werden können.

Unter dem Gesichtswinkel der absoluten Dauer der Haft wurde im angefochtenen
Entscheid von einer vorsätzlichen Tötung als schwerstem in Betracht fallenden
Delikt und einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ausgegangen. Bei
dieser Sachlage, die der Beschwerdeführer nicht in Frage stellt, kann nicht
gesagt werden, dass die bisher erstandene Haft von rund 3 ? Jahren die
mutmassliche Dauer der zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion
übersteigt.

Damit erweist sich die Rüge der Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK (bzw. von
Art. 31 Abs. 3 BV) als unbegründet.

5.
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen.

Der Beschwerdeführer hat um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
ersucht. Seine Bedürftigkeit kann gestützt auf die Akten angenommen werden,
und die vorliegende Beschwerde erweist sich nicht von vornherein als
aussichtslos. Dem Ersuchen kann daher stattgegeben werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth wird als amtlicher Rechtsvertreter
bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft
Limmattal/Albis und dem Obergericht des Kantons Zürich, Präsidentin der
Anklagekammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. September 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: