Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.153/2007
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1B_153/2007 /fun

Urteil vom 25. September 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz
Gerichtsschreiber Steinmann.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Christe,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026
Zürich,
Obergericht des Kantons Zürich, Präsidentin
der Anklagekammer, Hirschengraben 15, Postfach, 8023 Zürich.

Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung
des Obergerichts des Kantons Zürich, Präsidentin
der Anklagekammer, vom 9. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Anlässlich eines Vorfalls vom 12. Mai 2007 wurde X.________ Opfer einer
Auseinandersetzung, in deren Verlauf er durch Y.________ verletzt wurde und
einen Durchschuss am linken Oberschenkel erlitt. Er wurde im Kantonsspital
Zürich ärztlich versorgt, nach rund einer Woche entlassen und zur
regelmässigen Wundkontrolle durch den Hausarzt angehalten.

Rechtsanwalt Daniel Christe vertritt X.________ als Offizialverteidiger
unabhängig vom genannten Vorfall in einem gegen diesen geführten
Strafverfahren, in dessen Verlauf am 15. Juni 2007 Untersuchungshaft
angeordnet worden ist. Der Rechtsvertreter ersuchte die Staatsanwaltschaft IV
des Kantons Zürich am 29. Juni 2007 um Bewilligung der unentgeltlichen
Vertretung des Geschädigten X.________ im Verfahren gegen Y.________ als
mutmasslichen Täter der genannten Schussverletzung. Die Staatsanwaltschaft IV
unterbreitete dieses Ersuchen mit dem Antrag um Bewilligung der Präsidentin
der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2007 wies die Präsidentin der Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Zürich das Ersuchen sowohl unter dem Gesichtswinkel
von § 10 Abs. 5 der Zürcher Strafprozessordnung als auch nach Art. 29 Abs. 3
BV ab. Sie hielt im Wesentlichen dafür, dass X.________ in der Lage sei,
seine Anträge für nicht bedeutenden Schadenersatz und für eine Genugtuung
selber geltend zu machen.

B.
Gegen diesen Entscheid hat X.________ beim Bundesgericht Beschwerde in
Strafsachen erhoben und zur Hauptsache beantragt, es sei ihm unter Aufhebung
des angefochtenen Entscheides ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu
bestellen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Auf eine Vernehmlassung wurde sowohl von Seiten der Anklagekammer als auch
von der Staatsanwaltschaft verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Im vorliegenden Verfahren ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff.
BGG zulässig. Die Verweigerung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes stellt
einen Zwischenentscheid dar, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil
bewirken (vgl. BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131, 129 I 281 E. 1.1 S. 283) und
demnach gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG angefochten werden kann. Auf die
Beschwerde ist einzutreten.

2.
Im Zusammenhang mit der Schwere des Vorfalls und den sich daraus ergebenden
Folgen rügt der Beschwerdeführer vorerst eine offensichtlich unrichtige
Feststellung des Sachverhalts im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG. Er macht
insbesondere geltend, die Nachwirkungen des Vorfalls seien nicht richtig
festgehalten und im Hinblick auf die Gewährung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters bagatellisiert worden.

Im Gesuch des Rechtsvertreters vom 29. Juni 2007 wurde ausgeführt, dass der
Beschwerdeführer Opfer eines schweren Verbrechens geworden sei und erhebliche
Körperverletzungen erlitten habe; auch in psychischer Hinsicht mache ihm die
Tat schwer zu schaffen. Im angefochtenen Entscheid hielt die Präsidentin der
Anklagekammer fest, dass die Verletzungen nicht besonders schwer wögen und
keine neuromuskulären Strukturen zeigten, dass keine bleibenden Schäden oder
langanhaltenden Schmerzen bekannt seien und dass gesundheitliche oder
psychische Schwierigkeiten nicht erwähnt würden.

Diese Ausführungen, die sich auf die der Präsidentin der Anklagekammer zur
Verfügung stehenden Akten (Arztbericht bei Austritt aus dem Spital vom 18.
Mai 2007, Befragung als Geschädigter vom 21. Mai 2007) stützen, verkennen,
dass der Beschwerdeführer in der Zeugenbefragung vom 22. Juni 2007 und
anlässlich der Hafteinvernahme vom 13. Juni 2007 wie auch in seinem Ersuchen
sowohl körperliche Beschwerden als auch psychische Beeinträchtigungen zum
Ausdruck brachte. Diesen Äusserungen, die sich auf den Ausgang des Verfahrens
auswirken können, ist bei der nachfolgenden materiellen Beurteilung Rechnung
zu tragen.

3.
3.1 Der Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand wird in erster Linie
durch das kantonale Verfahrensrecht umschrieben. Dessen Anwendung wird im
Verfahren vor Bundesgericht lediglich unter dem Gesichtswinkel der Willkür
überprüft. Darüber hinaus gewährt Art. 29 Abs. 3 BV jeder Person, die nicht
über die erforderlichen Mittel verfügt, einen Anspruch auf einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand. Dabei handelt es sich um eine Minimalgarantie
von Verfassung wegen, die im bundesgerichtlichen Verfahren frei überprüft
wird (Art. 95 lit. a BGG).

3.2 Nach § 10 Abs. 5 StPO wird einem Geschädigten auf Verlangen ein
unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben, wenn es dessen Interessen und
persönlichen Verhältnisse erfordern. Der Wortlaut bringt zum Ausdruck, dass
die Verbeiständung für die Interessenwahrung erforderlich sein muss (vgl. Max
Hauri, Die Bestellung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes für Geschädigte im
Zürcher Strafprozess, Zürich 2002, S. 133 ff.). Vor diesem Hintergrund hat
die Präsidentin der Anklagekammer im angefochtenen Urteil die interessen-,
fall- und personenbezogenen Umstände berücksichtigt und ihren Entscheid
aufgrund einer umfassenden Beurteilung der Umstände getroffen.

Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung nach Art. 29 Abs. 3 BV
besteht, soweit eine solche für die Wahrung der Rechte notwendig ist (und im
Übrigen der Betroffene bedürftig ist und das Verfahren nicht als aussichtslos
erscheint). Notwendigkeit bedeutet, dass der Betroffene, auf sich selbst
gestellt, seine Sache nicht sachgerecht und hinreichend wirksam vertreten
kann. Sie beurteilt sich aufgrund der Gesamtheit der konkreten Umstände; dazu
zählen namentlich die Schwere der Betroffenheit, die tatsächlichen und
rechtlichen Schwierigkeiten sowie die Fähigkeit, sich im Verfahren
zurechtzufinden (vgl. BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232).

Vor diesem Hintergrund ist sowohl unter dem Gesichtswinkel von § 10 Abs. 5
StPO als auch nach Art. 29 Abs. 3 BV vor dem Hintergrund der gesamten
Umstände zu prüfen, ob der Beschwerdeführer für die Wahrung seiner Interessen
als Geschädigter im Verfahren gegen Philipp Frank auf eine Verbeiständung
angewiesen ist.

3.3 In dem gegen Philipp Frank geführten Strafverfahren wird der
Beschwerdeführer als Geschädigter teilnehmen. In dieser Eigenschaft kann er
insbesondere Ansprüche auf Schadenersatz und allenfalls Genugtuung stellen.
Hierfür ist die rechtliche Qualifikation der Philipp Frank vorgeworfenen Tat
von untergeordneter Bedeutung.

Im Allgemeinen kann dem Geschädigten zugemutet werden, seine Ansprüche auf
Schadenersatz und Genugtuung ohne anwaltliche Vertretung geltend zu machen
(vgl. BGE 116 Ia 459; Hauri, a.a.O., S. 136 ff.). Der unmittelbar
eingetretene Schaden kann im Normalfall leicht belegt werden, sei es durch
eine Schätzung oder aber durch die Vorlage von Rechnungen für die
Wiedergutmachung. Auch im Hinblick auf eine Genugtuung kann die erlittene
Unbill vom Betroffenen üblicherweise ohne weitere Hilfe zum Ausdruck gebracht
werden.

Aufgrund der konkreten Umstände ist dies auch im vorliegenden Fall
anzunehmen. In Bezug auf den unmittelbar entstandenen Schaden können
insbesondere Rechnungen für ärztliche Behandlungen und Belege für allfälligen
Verdienstausfall und weitere Nachteile beigebracht werden. Hinsichtlich der
erlittenen Verletzungen und der Folgen ist vom Bericht des Spitals vom 18.
Mai 2007 und von der Befragung vom 21. Mai 2007 auszugehen, wonach vorerst
keine Anhaltspunkte für Verletzungen neuromuskulärer Strukturen bestünden und
es dem Beschwerdeführer den Umständen entsprechend gut gehe. In den
nachfolgenden Befragungen vom 13. Juni und 22. Juni 2007 gab der
Beschwerdeführer indessen an, dass es ihm schlecht gehe. Daraus kann
geschlossen werden, dass ihn der Durchschuss stärker beeinträchtigt als
vorerst angenommen worden ist. Diese Nachwirkungen konnte der
Beschwerdeführer anlässlich der genannten Befragungen klar äussern und wird
sie auch im Strafverfahren ohne weiteres zum Ausdruck bringen können. Es ist
ihm zuzumuten, sich von einem Arzt behandeln und von diesem ein Zeugnis über
allfällige Spätfolgen der Verletzung ausstellen zu lassen. Hierfür Beweis zu
erbringen, steht ihm auch während der Untersuchungshaft zu. Gleichermassen
kann der Beschwerdeführer seine erlittene Unbill zum Ausdruck bringen und zur
Begründung einer Genugtuungsforderung darlegen, in welchem Ausmasse ihn die
Auseinandersetzung vom 12. Mai 2007 belaste und verfolge.

Länger andauernde Untersuchungshaft kann die Wahrnehmung der Rechte
beeinträchtigen (vgl. Arthur Haefliger, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze
gleich, Bern 1985, S. 174). Im vorliegenden Fall kann indes nicht gesagt
werden, dass die Untersuchungshaft den Beschwerdeführer daran hindern würde,
seine Ansprüche sachgerecht geltend zu machen. Wie dargetan, ist es ihm
durchaus möglich, seine gesundheitliche Beeinträchtigung zum Ausdruck zu
bringen und die hierfür erforderlichen Belege beizubringen sowie die
seelische Unbill zu schildern.

In rechtlicher Hinsicht bietet die Geltendmachung von Schadenersatz- und
Genugtuungsansprüchen im Normalfall keine besondern Schwierigkeiten. Dies
kann dem Beschwerdeführer auch ohne Beihilfe eines Rechtsvertreters zugemutet
werden. Daran vermag die angebliche unterdurchschnittliche Bildung
grundsätzlich nichts zu ändern. Denn es darf mitberücksichtigt werden, dass
die Behörden und Gerichte nach § 19 Abs. 2 StPO gehalten sind, die
Persönlichkeitsrechte der Geschädigten in allen Abschnitten zu wahren und
diese über ihre Rechte zu informieren (vgl. Hauri, a.a.O., S. 168).

Aus diesen Umständen ergibt sich, dass der Beschwerdeführer vor dem
Hintergrund der zurzeit ersichtlichen Folgen der Verletzung für die
Geltendmachung seiner Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung auf keine
anwaltliche Vertretung angewiesen ist. Dies schliesst ein neues Ersuchen um
Bewilligung eines Rechtsvertreters und eine künftige Neubeurteilung bei
veränderten Umständen nicht aus. Dies fällt insbesondere in Betracht, wenn
die Untersuchungshaft länger andauern sollte oder wenn sich im Laufe der Zeit
schwerere Nachwirkungen der Verletzung sowohl in gesundheitlicher als auch in
physischer Hinsicht zeigen sollten, die eine vertiefte Prüfung verlangen und
die Geltendmachung von Schadenersatz und Genugtuung erschweren.

Gesamthaft ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer zur Geltendmachung
seiner Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche im Strafverfahren gegen
Philipp Frank zurzeit nicht auf einen unentgeltlichen Rechtsvertreter
angewiesen ist. Damit erweisen sich die Rügen der willkürlichen Anwendung von
§ 10 Abs. 5 StPO und der Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV als unbegründet.

4.

Demnach ist die Beschwerde abzuweisen. Der Beschwerdeführer hat um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG ersucht.
Angesichts der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers und des Umstandes, dass
die Beschwerde nicht von vornherein als aussichtslos bezeichnet werden kann,
ist dem Begehren stattzugeben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Daniel Christe wird als amtlicher Rechtsvertreter bezeichnet
und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr.
1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV und dem
Obergericht des Kantons Zürich, Präsidentin der Anklagekammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 25. September 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: