Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.120/2007
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1B_120/2007 /ggs

Urteil vom 10. Juli 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Till
Gontersweiler,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026
Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Art. 9, 29, 31 BV, Art. 5, 6 EMRK (Haftentlassung),

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 22. Mai 2007.
Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Widerhandlung
gegen das Waffengesetz. Dem Beschwerdeführer wird von der Staatsanwaltschaft
namentlich vorgeworfen, an zwei unterschiedlichen Daten je einen anderen
Menschen mit einem oder mehreren Faustschlägen ins Gesicht verletzt zu haben.
Der Beschuldigte befindet sich seit 4. April 2007 in Untersuchungshaft. Mit
Verfügung vom 22. Mai 2007 lehnte der Haftrichter des Bezirks Zürich ein
Haftentlassungsgesuch des Angeschuldigten ab.

B.
X.________ ficht die Verfügung vom 22. Mai 2007 mit Beschwerde in Strafsachen
vom 20. Juni 2007 an. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids
und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Ausserdem
stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im
bundesgerichtlichen Verfahren.

Der Haftrichter hat auf eine Vernehmlassung ausdrücklich verzichtet. Die
Staatsanwaltschaft ersucht um Abweisung der Beschwerde. In der Replik vom 5.
Juli 2007 hält der Beschwerdeführer an seinen Begehren fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der
die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in
Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Die Beschwerde in
Strafsachen ist hier somit gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den
angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist als
beschuldigte Person nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde
befugt.

1.2 Zu prüfen ist an sich aus prozessualer Sicht, ob der Beschwerdeführer
immer noch ein aktuelles Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde hat.

Wie sich aus der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft vom 27. Juni 2007
ergibt, hat diese einen Antrag auf Haftverlängerung vorbereitet, weil die
Haftfrist am 4. Juli 2007 ablaufe. Es ist folglich absehbar, dass der
angefochtene Entscheid selbst im Zeitpunkt des bundesgerichtlichen Urteils
keine Wirkung mehr entfaltet, sondern durch eine neue Verfügung des
Haftrichters ersetzt worden ist. Die Frage, ob im angefochtenen Entscheid zu
Recht materielle Haftgründe bejaht wurden, ist allerdings nicht Gegenstand
des vorliegenden Beschwerdeverfahrens. Der Beschwerdeführer hat sich
ausdrücklich darauf beschränkt, eine Verletzung von Gehörsansprüchen zu
rügen. Die materiellen Entscheidgründe hat er nicht angefochten.

Ob der Beschwerdeführer bei dieser Sachlage über ein aktuelles Interesse an
seiner Beschwerde verfügt, kann offenbleiben; seine Rügen vermögen in der
Sache ohnehin nicht durchzudringen, wie im Folgenden aufzuzeigen ist. Aus
demselben Grund muss auch nicht erörtert werden, ob die vom Beschwerdeführer
aufgeworfenen Rechtsfragen eine grundsätzliche Bedeutung besitzen, die ein
Eintreten auf die Beschwerde selbst bei fehlendem aktuellem Interesse
erfordern würde.

2.
2.1 Der Haftrichter hat den Beschwerdeführer auf dessen Antrag hin mündlich
zum Haftentlassungsgesuch angehört. Auf Aufforderung des Haftrichters hatte
der Verteidiger vorgängig schriftlich zur Eingabe der Staatsanwaltschaft, mit
der sie sich gegen die Gutheissung dieses Gesuchs aussprach, Stellung
genommen. Bei der mündlichen Anhörung durch den Haftrichter waren der
Beschwerdeführer und sein Verteidiger, nicht aber eine Vertretung der
Staatsanwaltschaft anwesend. Vor Bundesgericht beanstandet der
Beschwerdeführer, dass sein Verteidiger ihm anlässlich der Anhörung nur
Ergänzungsfragen stellen durfte und nicht zu einem ergänzenden Plädoyer
zugelassen wurde. Der Beschwerdeführer erachtet den von ihm als Redeverbot
für den Anwalt bezeichneten Mangel als Verstoss gegen den verfassungsmässigen
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) sowie als Missachtung von
Art. 5 Ziff. 4 und Art. 6 EMRK. Zudem bringt er sinngemäss vor, dass
einschlägige kantonale Verfahrensrecht sei vom Haftrichter insoweit
willkürlich gehandhabt worden.

2.2 Gemäss der Rechtsprechung zu Art. 31 Abs. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK
verlangen Verfassung und EMRK ein Mindestmass an kontradiktorischer
Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens; sie gebieten jedoch nicht zwingend,
dass im Haftprüfungsverfahren eine mündliche Verhandlung vor dem Haftrichter
stattfinden müsse. Eine persönliche Vorführung vor den Haftrichter hat
(gestützt auf Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK) lediglich bei der
Haftanordnung obligatorisch zu erfolgen (vgl. BGE 126 I 172 E. 3b/c S. 175;
Urteile des EGMR i.S. Reinprecht gegen Österreich vom 15. November 2005,
Ziff. 31 ff., und i.S. Fodale gegen Italien vom 1. Juni 2006, Ziff. 39 ff.,
je mit Hinweisen).

Die in Art. 6 EMRK garantierten Ansprüche kommen vor dem eigentlichen
Strafprozess im Stadium der Untersuchung insoweit zur Anwendung, als das
Vorverfahren die Fairness des ganzen Verfahrens zu beeinträchtigen droht. Aus
dem Fairnessgebot und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK kann unter Umständen
abgeleitet werden, dass ein inhaftierter Beschuldigte bereits im anfänglichen
Stadium des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens einen Rechtsvertreter
beiziehen darf. Dabei ist allerdings eine Einzelfallbeurteilung geboten und
in diesem Rahmen zu entscheiden, ob bei Gesamtbetrachtung des Verfahrens der
Beschuldigte angesichts von Einschränkungen einem fairen Verfahren entzogen
worden ist (BGE 131 I 350 E. 3.2 S. 356 f. mit weiteren Hinweisen auf die
Rechtsprechung des EGMR). Auch aufgrund von Art. 31 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2
BV haben die mit der Strafverfolgung betrauten Behörden - im Rahmen ihrer
Fürsorge- und Aufklärungspflicht - für die Voraussetzungen eines fairen
Strafverfahrens zu sorgen (BGE 131 I 350 E. 4.2 S. 361).

2.3 Das kantonale Strafprozessrecht kann über die grundrechtlichen
Minimalregeln hinausgehen. So sieht § 11 Abs. 2 Ziff. 2 der Zürcher
Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321) eine notwendige
Verteidigung vor, wenn die Untersuchungshaft mehr als fünf Tage dauert (vgl.
dazu unveröffentlichtes Urteil 1P.411/2002 vom 6. November 2002, E. 4.3). Es
gewährleistet ausserdem eine richterliche Anhörung auch für das
Haftprüfungsverfahren. Zwar legt das zürcherische Strafprozessrecht die
Durchführung einer mündlichen Haftprüfungsverhandlung grundsätzlich in das
Ermessen des Haftrichters: "Der Haftrichter kann eine mündliche Verhandlung
anordnen und den Untersuchungsbeamten zum persönlichen Erscheinen
verpflichten" (§ 61 Abs. 2 Satz 1 StPO/ZH). Zwingend vorgeschrieben ist
freilich die persönliche Anhörung des Angeschuldigten durch den Haftrichter,
falls der Inhaftierte einen entsprechenden Verfahrensantrag stellt: "Der
Angeschuldigte ist auf sein Verlangen persönlich anzuhören" (§ 61 Abs. 1 Satz
3 StPO/ZH). Diese Regelung gilt nicht nur für das Haftanordnungs-, sondern
ebenso für das Haftprüfungsverfahren, so bei der Beurteilung eines
Haftentlassungsgesuchs (Urteile 1P.520/2002 vom 16. Oktober 2002, E. 2.3, in:
Pra 92/2003 Nr. 45 S. 215, und 1P.546/2002 vom 25. November 2002, E. 2.5 in:
Pra 92/2003 Nr. 97 S. 519, je mit Hinweisen).

2.4 Soweit das rechtliche Gehör durch kantonales Verfahrensrecht geregelt
wird, gebietet die Bundesverfassung die Einhaltung dieser kantonalen
Vorschriften. Dies ändert indessen nichts daran, dass das Bundesgericht die
Auslegung des kantonalen Prozessrechts nur unter dem Gesichtswinkel der
Willkür prüft. Mit freier Kognition beurteilt es anschliessend, ob die
unmittelbar aus der Verfassung bzw. der EMRK folgenden Minimalgarantien
verletzt sind (BGE 126 I 19 E. 2a S. 21 f.; Urteil 1P.546/2002 vom 25.
November 2002, E. 2.3). Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind unter der
Geltung von Art. 95 i.V.m. Art. 106 BGG weiterzuführen.

Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich der Verletzung von
Grundrechten sowie von kantonalem und interkantonalem Recht eine
qualifizierte Rügepflicht gilt (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht
prüft eine solche Rüge nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise
vorgebracht und begründet worden ist (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil
1C_3/2007 vom 20. Juni 2007, E. 1.4.2).
2.5 Der vorliegende Rechtsstreit dreht sich einzig um die Frage, inwiefern
der an der Anhörung teilnehmende Verteidiger zu eigenen Äusserungen befugt
ist. Im Vordergrund der Verhandlung im Haftprüfungsverfahren steht die
Anhörung des Inhaftierten selbst. Es ist nicht der Sinn von § 61 StPO/ZH, den
Verteidiger an dieser Verhandlung, soweit er bereits schriftlich zum Antrag
der Staatsanwaltschaft Stellung genommen hat, zum mündlichen Vortrag
zuzulassen (vgl. Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl., Zürich 2004,
Rz. 712a). Auch die vom Beschwerdeführer angeführte Literaturstelle (Andreas
Donatsch/Niklaus Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons
Zürich, Zürich 1996, Rz. 23 und 26 zu § 61 StPO/ZH) befürwortet nicht in
allgemeiner Weise ein Recht des Verteidigers auf ein ergänzendes Plädoyer,
sondern hält ein solches nur zur Abklärung offener Fragen für geboten.

Inwiefern hier aufgrund von offenen Fragen ein Plädoyer erforderlich gewesen
wäre, zeigt der Beschwerdeführer nicht rechtsgenüglich auf. Er macht zwar
geltend, er habe an der Anhörung neue Aussagen gemacht. Insofern reiche es
nicht aus, dass sein Anwalt nur zu ergänzenden Fragen, nicht aber zu einem
ergänzenden Vortrag zugelassen worden sei. Es lässt sich jedoch nicht
abstrakt, sondern nur im Lichte der Haftgründe beurteilen, ob und inwiefern
ein konkreter Äusserungsbedarf des Verteidigers bestand. Der Anspruch auf
rechtliches Gehör verfolgt keinen Selbstzweck, sondern dient der
Verwirklichung des materiellen Rechts. Der Beschwerdeführer stellt die
Zulässigkeit der materiellen Haftgründe gerade nicht in Frage (vgl. E. 1.2,
hiervor). Ebenso wenig zeigt er auf, inwiefern eine Missachtung seiner
Gehörsansprüche einen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens gehabt hätte.
Insoweit fehlt es an einer hinreichenden Begründung der erhobenen Rügen, so
dass darauf nicht eingegangen werden kann (vgl. E. 2.4, hiervor). Eine
willkürliche Handhabung des kantonalen Rechts liegt damit nicht vor, soweit
diesbezüglich der Rügepflicht Genüge getan ist.

Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass das Haftentlassungsgesuch vom
Beschwerdeführer ausging und sein Verteidiger bereits im Vorfeld der Anhörung
zu den abschlägigen Argumenten der Untersuchungsbehörde Stellung nahm. Da der
Anwalt Ergänzungsfragen stellen konnte und dies auch getan hat, kann von
einem Redeverbot für den Verteidiger keine Rede sein. Vor diesem Hintergrund
geht der Beschwerdeführer fehl, wenn er aus dem verfassungsrechtlichen
Gehörsanspruch und Fairnessgebot ableitet, neue eigene Aussagen von ihm an
der Anhörung müssten in jedem Fall bereits an dieser Verhandlung noch durch
den Verteidiger kommentiert werden dürfen. In dieser Hinsicht ist - soweit
rechtsgenüglich gerügt - auch kein Verstoss gegen die Minimalgarantien der
Bundesverfassung bzw. der EMRK ersichtlich.

3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten
ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung gestellt. Dieses ist gutzuheissen, weil seine
Bedürftigkeit ausgewiesen erscheint und die Beschwerde nicht von vornherein
aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Till Gontersweiler wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat
und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Juli 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: