Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.105/2007
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1B_105/2007 /fun

Urteil vom 26. Juni 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Pascal Veuve,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026
Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter,
Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Haftentlassung,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 25. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
X. ________ befindet sich seit dem 10. Oktober 2006 in Untersuchungshaft. Es
wird ihr zur Last gelegt, mit mehreren Männern ungeschützt geschlechtlich
verkehrt zu haben, ohne diese über ihre HIV-Infizierung, von der sie selbst
wusste, informiert zu haben. Damit steht X.________ unter dem dringenden
Tatverdacht der mehrfachen versuchten schweren Körperverletzung und des
versuchten Verbreitens menschlicher Krankheiten.

Am 22. Mai 2007 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch. Der Haftrichter
des Bezirksgerichts Zürich wies das Gesuch mit Verfügung vom 25. Mai 2007 ab
und bestätigte die Haftverlängerung bis zum 10. Juli 2007 gemäss
haftrichterlicher Verfügung vom 11. April 2007 wegen qualifizierter
Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 4 des Gesetzes des Kantons
Zürich vom 4. Mai 1919 betreffend den Strafprozess (StPO/ZH).

B.
X.________ hat gegen die haftrichterliche Verfügung vom 25. Mai 2007 beim
Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Sie beantragt die Aufhebung
der angefochtenen Verfügung und ihre unverzügliche Entlassung aus der
Untersuchungshaft verbunden mit der Weisung, sich weiterhin sowohl einer
ambulanten Therapie als auch der überwachten Einnahme von antiretroviralen
Medikamenten zu unterziehen. Ferner ersucht die Beschwerdeführerin um
unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

C.
Sowohl der Haftrichter als auch der zuständige Staatsanwalt der
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich haben auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Die
angefochtene Verfügung erging später. Gemäss Art. 132 Abs. 1 BGG ist daher
das Bundesgerichtsgesetz anwendbar.

1.2 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der
die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in
Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Die Beschwerde in
Strafsachen ist hier somit gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den
angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Die Beschwerdeführerin ist nach
Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Grundrechts auf
persönliche Freiheit. Sie macht geltend, der Haftgrund der qualifizierten
Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4 StPO/ZH) sei nicht gegeben.

2.2 Gemäss § 58 Abs. 1 Ziff. 4 StPO/ZH ist die Anordnung und Fortdauer der
Untersuchungshaft zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder
Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ernsthaft befürchtet werden
muss, er werde eines der in dieser Vorschrift genannten Verbrechen oder
Vergehen, insbesondere ein Verbrechen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff.
StGB) oder gegen die öffentliche Gesundheit (Art. 231 ff. StGB) begehen,
sofern das Verfahren ein gleichartiges Verbrechen oder Vergehen betrifft. Die
Untersuchungshaft ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der
Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f.
StPO/ZH).

2.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundrecht der
persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit.
c EMRK) ist die Anordnung von Untersuchungsgefahr wegen Wiederholungsgefahr
verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und
anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Dabei ist
auch dem psychischen Zustand der verdächtigen Person Rechnung zu tragen (BGE
123 I 268 E. 2e S. 271 ff.). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung
weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige
Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu
begründen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62, mit Hinweisen).

2.4 Gemäss dem angefochtenen Entscheid besteht die Befürchtung, die
Beschwerdeführerin könnte, wenn sie aus der Haft entlassen würde, erneut ohne
Aufklärung ihrer Partner über ihre HIV-Infizierung ungeschützten
Geschlechtsverkehr haben und damit zumindest den Versuch der schweren
Körperverletzung und des Verbreitens menschlicher Krankheiten begehen.

Zur Begründung seines Entscheids verwies der Haftrichter auf die ausführlich
begründete Haftverfügung vom 11. April 2007 und auf den entsprechenden
Haftantrag vom 4. April 2007. Darin äusserten die Behörden den dringenden
Verdacht, dass die Beschwerdeführerin seit 1997/98 von ihrer HIV-Infizierung
Kenntnis gehabt und trotzdem in den vergangenen zehn Jahren mit mehreren
Partnern ungeschützt verkehrt habe, ohne diese über ihren HIV-Status
aufzuklären. Im Gegenteil habe die Beschwerdeführerin sogar auf dem
ungeschützten Sexualkontakt bestanden.

Gemäss einem von den Untersuchungsbehörden in Auftrag gegebenen Gutachten vom
26. März 2007 sei die Unreife der Persönlichkeit der Beschwerdeführerin so
ausgeprägt, dass die Gefahr einer emotionalen Überforderung bei neuen
Gelegenheiten zur Anknüpfung von Männerbeziehungen auch in Zukunft nicht von
der Hand zu weisen sei. Es sei mindestens denkbar, dass die
Beschwerdeführerin in entscheidenden Momenten nicht den "Rank findet", einen
Partner über die Infektionsgefahr aufzuklären, sich ihre Angst wie bisher
auch mit einem Zweckoptimismus mische und sie sich folgedessen zu
ungeschütztem Geschlechtsverkehr hinreissen lassen könnte. Dass die
Beschwerdeführerin trotz der zahlreichen ungeschützten Geschlechtskontakte
bisher niemanden angesteckt habe, verhelfe diesem Optimismus sogar zu einer
gewissen Berechtigung, die auch Schuldgefühle mindere (Gutachten, S. 47).

Aus dem Gutachten ergibt sich des Weitern, dass die Beschwerdeführerin von
Ärzten darauf hingewiesen worden sei, dass bei jedem Geschlechtsverkehr
Kondome benutzt und die Partner informiert werden müssten. Ausserdem habe die
Beschwerdeführerin zeitweise die Medikation abgesetzt, um ihre Krankheit
gegen aussen zu verbergen (Gutachten, S. 18 f.). Der Gutachter kommt zum
Schluss, dass bei der Beschwerdeführerin zwar keine Verminderung der
Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht der Taten bestanden habe, dass sie
jedoch zur Zeit der Taten infolge einer diagnostizierten abhängigen
Persönlichkeitsstörung nur teilweise zum Handeln gemäss der vorhandenen
Einsicht fähig gewesen sei (Gutachten, S. 48 f.).

Die Frage, ob die Beschwerdeführerin in der Zukunft erneut gleichartige
Straftaten begehen könnte, wurde vom Gutachter eindeutig bejaht (Gutachten,
S. 49).

2.5 Aufgrund dieser Aktenlage ist nicht zu beanstanden, dass der Haftrichter
von einer negativen Rückfallprognose ausgeht. Ins Gewicht fällt insbesondere,
dass die Beschwerdeführerin nicht eines einmaligen, sondern eines mehrfachen
und langjährigen strafbaren Verhaltens verdächtigt wird. Hinzu kommt ihre
instabile, unreife Persönlichkeit, was befürchten lässt, sie könnte auch in
Zukunft in Situationen geraten, in denen sie ihren HIV-Status gegenüber ihren
Partnern verheimliche. Die zu befürchtenden Delikte - schwere
Körperverletzung und Verbreiten menschlicher Krankheiten - wiegen schwer.

Mildere Massnahmen anstelle der Untersuchungshaft sind zur Zeit nicht
ersichtlich. Die Weisung, sich der überwachten Einnahme von antiretroviralen
Medikamenten zu unterziehen, würde die Beschwerdeführerin nicht daran
hindern, weiterhin ungeschützten Geschlechtsverkehr zu pflegen. Die
Fortsetzung der begonnenen Psychotherapie könnte zwar geeignet sein, diese
Gefahr für die Zukunft zu bannen. Jedoch kann im jetzigen Zeitpunkt noch
nicht mit einem Therapieerfolg gerechnet werden. Im vom 26. März 2007
datierenden Gutachten wurde die Rückfallgefahr bejaht und dauert die
psychotherapeutische Behandlung der Beschwerdeführerin erst seit dem 24.
April 2007.

Hinzu kommt, dass die Hauptverhandlung im Oktober 2007 zu erwarten ist und
das Ende der Untersuchungshaft ohnehin herannaht.

Insgesamt sind die Voraussetzungen der Untersuchungshaft wegen qualifizierter
Wiederholungsgefahr somit erfüllt. Aufgrund der negativen Prognose besteht
die ernsthafte Gefahr, die Beschwerdeführerin könnte ein in § 58 Abs. 1 Ziff.
4 StPO/ZH genanntes schweres Delikt begehen. Das laufende Strafverfahren
bezieht sich auf gleichartige Verbrechen und Vergehen. Eine mildere Massnahme
kommt zur Zeit nicht in Betracht. Die Fortsetzung der Untersuchungshaft ist
somit auch im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Grundrecht
auf persönliche Freiheit zulässig.

3.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist
demzufolge abzuweisen. Die Beschwerdeführerin hat um unentgeltliche
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. Diesem Antrag kann
entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Pascal Veuve wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt
und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit
einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 26. Juni 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: