Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 90/2006
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U 90/06

Urteil vom 18. Mai 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Schön, Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.

V. ________, 1946, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Galligani, Ruederstrasse 8, 5040
Schöftland,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1,
6004 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau
vom 21. Dezember 2005.

Sachverhalt:

A.
Der 1946 geborene V.________ war ab November 1999 als selbstständig
erwerbender Gipser tätig und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) freiwillig nach UVG versichert. Am
15. Oktober 2001 rutschte er bei der Arbeit mit der Gipsmaschine aus und
verletzte sich am rechten Arm. Eine Arthro-MRI der rechten Schulter vom
17. Januar 2002 ergab eine ausgeprägte Rotatorenmanschettenruptur mit
praktisch vollständigem Abriss der Supraspinatussehne sowie breitem Abriss
der Subscapularissehne und Ruptur der langen Bizepssehne. Die SUVA zog
Berichte des Dr. med. K.________, Physikalische Medizin und Rehabilitation
FMH, des Spitals X.________ sowie des Spitals Y.________, Orthopädische
Klinik, bei und liess den Versicherten am 24. Juni 2002 durch den Kreisarzt
Dr. med. W.________ untersuchen. In der Folge erklärte die Anstalt mit
Schreiben vom 1. Juli 2002, die Heilbehandlungsleistungen würden eingestellt,
sprach dem Versicherten mit Verfügung vom 13. September 2002 eine
Integritätsentschädigung von Fr. 18'690.- (Integritätseinbusse 17,5 %) zu und
stellte gemäss Schreiben vom 15. August 2003 die bis dahin (mit Blick auf in
Prüfung befindliche Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung)
ausgerichteten Taggelder auf den 30. September 2003 ein. Mit Verfügung vom
13. Oktober 2003 sprach die SUVA dem Versicherten schliesslich ab 1. Oktober
2003 eine Invalidenrente auf Grund einer Erwerbsunfähigkeit von 24 % zu.
Diese wurde - nach Beizug von Stellungnahmen des Dr. med. M.________,
Allgemeine Medizin FMH, vom 18. Februar und 13. Juli 2004 sowie des
Kreisarztes Dr. med. W.________ vom 9. August 2004 - mit Einspracheentscheid
vom 10. September 2004 auf 30 % erhöht. Die Abweichung gegenüber der
Verfügung resultierte aus einer neuen Berechnung des Invalideneinkommens bei
unverändertem Zumutbarkeitsprofil.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 21. Dezember 2005 ab. Im Verlauf des
Beschwerdeverfahrens hatte der Versicherte einen Bericht des Dr. med.
M.________ vom 15. Dezember 2004 auflegen lassen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt V.________ beantragen, es sei der
Sachverhalt zu ergänzen resp. zu berichtigen, eventuell unter Rückweisung der
Sache an die Vorinstanz oder die SUVA, und es sei der Invaliditätsgrad neu zu
berechnen. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
ersucht. Mit der Beschwerdeschrift wurde ein Bericht des Kreisarztes Dr. med.
W.________ über eine Abschlussuntersuchung vom 21. September 2005
eingereicht.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch
auf eine Invalidenrente der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 18
Abs. 1 UVG), den Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), die Bestimmung
des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG; BGE 114 V 310 E. 3a S. 313 mit
Hinweisen), den für die Invaliditätsbemessung massgebenden Zeitpunkt (BGE 128
V 174), die zeitliche Grenze der gerichtlichen Überprüfung (BGE 130 V 445
E. 1.2 S. 446) und die Berücksichtigung später eingetretener Tatsachen (BE 99
V 98 E. 4 S. 102 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zum Beweiswert und zur
Würdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352
ff.).

3.
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch ab 1. Oktober 2003.

3.1 Gestützt auf die medizinischen Unterlagen gelangte das kantonale Gericht
zum Ergebnis, dem Beschwerdeführer sei eine leichte bis mittelschwere
Tätigkeit unter der Schulterhorizontalen (ohne Arbeiten über
Schulter-Kopfhöhe) im Rahmen einer Arbeitsfähigkeit von 100 % zumutbar. Die
Vorinstanz stellte dabei auf die Stellungnahmen des SUVA-Kreisarztes Dr. med.
W.________ vom 24. Juni 2002 und 9. August 2004 ab, welchen sie volle
Beweiskraft beimass. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen diese
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit, indem er einerseits die Aussagekraft der
Berichte von Dr. med. W.________ bestreitet und sich andererseits auf die
abweichende Auffassung Dr. med. M.________ beruft.

3.2 Auf Grund der Arthro-MRI vom 17. Januar 2002 steht fest, dass der
Beschwerdeführer als Folge des Unfalls vom 15. Oktober 2001 an einer
ausgeprägten Rotatorenmanschettenruptur mit praktisch vollständigem Abriss
der Supraspinatussehne sowie breitem Abriss der Subscapularissehne und Ruptur
der langen Bizepssehne leidet. Diese Befunde wurden durch die erneute
bildgebende Abklärung vom 12. Dezember 2002 bestätigt, welche im Bereich des
M. subscapularis eine etwas stärkere Fetteinlagerung nachwies, ansonsten
jedoch einen gegenüber der Voruntersuchung vom 17. Januar 2002 stationären
Befund ergab. Dr. med. W.________ stützte seine durch die Vorinstanz
übernommene Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit auf die Vorakten und seine
eigenen Untersuchungen vom 24. Juni 2002. Die daraus abgeleiteten Aussagen
zum Zumutbarkeitsprofil sind nachvollziehbar und leuchten ein. Wenn SUVA und
Vorinstanz auf dieser Grundlage eine geeignete Tätigkeit als vollzeitlich
zumutbar angesehen haben, lässt sich dies - bezogen auf den Zeitpunkt der
Untersuchung vom 24. Juni 2002 - nicht beanstanden.

3.3 Zu prüfen bleibt, ob die Stellungnahme des Kreisarztes vom 24. Juni 2002
auch in Bezug auf den hier zu beurteilenden Zeitraum vom 1. Oktober 2003
(Rentenbeginn) bis 10. September 2004 (Einspracheentscheid) eine hinreichende
Grundlage für die Invaliditätsbemessung bildet.
Nachdem der Versicherte im Juni 2004 erklärt hatte, auch nach dem 1. Juli
2002 (Schreiben betreffend Einstellung der Heilbehandlungsleistungen) sei die
Behandlung fortgesetzt worden, nahm Dr. med. W.________ am 9. August 2004
nochmals Stellung. Er empfahl die Übernahme der Physiotherapiekosten und auch
der medikamentösen Behandlung, erklärte jedoch gleichzeitig, man könne zur
Zeit wahrscheinlich nicht von einer eigentlichen Zustandsverschlechterung
sprechen. Diese Stellungnahme erfolgte gestützt auf die Akten. Im
letztinstanzlich aufgelegten Bericht über die Abschlussuntersuchung vom
21. September 2005 gelangte der Kreisarzt zum Ergebnis, der
Integritätsschaden habe sich verschlechtert. Es bestehe nun ein Vollbild
einer schweren Periarthropathie der rechten Schulter mit Pseudoparese bei
entsprechender Mehrsehnenpathologie einer Rotatorenmanschettenläsion.
Zumutbar sei grundsätzlich nur noch eine körperlich leichte Arbeit auf
Tischwerkbankhöhe. Jegliche Tätigkeiten ab etwa 60°, d.h. auf jeden Fall ab
Schulterhöhe, seien wegen der Pseudoparese nicht mehr möglich. Die
Feststellung einer zwischenzeitlich - im Vergleich zur Untersuchung vom
24. Juni 2002 - eingetretenen Verschlechterung stimmt (in diesem Punkt) mit
dem Bericht des Dr. med. M.________ vom 15. Dezember 2004 überein. Damit
bestehen Hinweise auf eine Entwicklung, welcher nicht von vornherein jegliche
Anspruchsrelevanz abgesprochen werden kann. Die im Bericht des Dr. med.
W.________ vom 24. Juni 2002 enthaltene, für den damaligen Zeitpunkt
grundsätzlich beweiskräftige Aussage zur Arbeitsfähigkeit in einer
Verweisungstätigkeit bildet daher keine hinreichende Grundlage für die
Anspruchsbeurteilung während des in Frage stehenden Zeitraums vom 1. Oktober
2003 bis 10. September 2004. Auch die weiteren medizinischen Akten bringen
diesbezüglich keine zuverlässige Klärung: Die Aussage desselben Arztes vom
9. August 2004, von einer "eigentlichen Zustandsverschlechterung" könne man
"wahrscheinlich zurzeit nicht sprechen", lässt bereits auf Grund der
gewählten Formulierung Unsicherheiten erkennen. Sie basiert zudem auf keinen
eigenen Untersuchungen, weshalb ihr mit Blick auf die Regeln über die
Würdigung medizinischer Stellungnahmen (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) nur
geringer Beweiswert beizumessen ist. Dies gilt umso mehr, zumal Dr. med.
W.________ später gestützt auf seine Untersuchung vom 21. September 2005 eine
Verschlechterung bejahte. Dr. med. M.________ beurteilt die verbliebene
Leistungsfähigkeit ohnehin ungünstiger. Eine bereits vor dem
Einspracheentscheid eingetretene anspruchsrelevante Veränderung des
Zumutbarkeitsprofils gegenüber der Situation am 24. Juni 2002 lässt sich
demnach nicht mit der für eine antizipierte Beweiswürdigung erforderlichen
(hohen) Gewissheit ausschliessen. Die Sache ist deshalb an die SUVA
zurückzuweisen, damit sie ergänzende Abklärungen vornehme und anschliessend
über den Rentenanspruch neu entscheide.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG [bis 30. Juni 2006 gültig gewesene
Fassung] respektive Art. 134 Satz 1 OG [gültig gewesen vom 1. Juli bis
31. Dezember 2006]; E. 1 hiervor), so dass sich das Gesuch um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten
als gegenstandslos erweist. Dem Beschwerdeführer ist eine volle
Parteientschädigung zuzusprechen, da die Rückweisung an den Versicherer
diesbezüglich als Obsiegen gilt (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235). Das Gesuch um
unentgeltliche Verbeiständung wird damit ebenfalls gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. Dezember 2005 und der
Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt vom
10. September 2004 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das letztinstanzliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 18. Mai 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: