Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 80/2006
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{T 7}
U 80/06

Urteil vom 24. Januar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter U. Meyer, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1955, Frankreich, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat
Dominik Zehntner, Spalenberg 20, 4051 Basel.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft
vom 19. Oktober 2005.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene S.________ arbeitete seit Oktober 1976 als Automechaniker
in der Firma Garage X.________ und war in dieser Eigenschaft bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von
Unfällen obligatorisch versichert. Am 4. Juni 1997 war er in eine
Auffahrkollision verwickelt und zog sich gemäss Arztzeugnis des Dr. med.
C.________, Chirurgische Klinik am Spital Y.________, vom 7. Juli 1997 eine
Contusio der Hals- (HWS), der Brust- (BWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS)
inguinal beidseits sowie eine Distorsion der Unterarme beidseits zu.
Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld).
Gestützt auf ein durch Dr. med. H.________, Leiter Wirbelsäulenchirurgie der
Klinik und Poliklinik für Orthopädische Chirurgie des Spitals Z.________, am
2. Februar 1999 verfasstes Gutachten stellte die SUVA ihre Leistungen mit
Verfügung vom 1. März 1999 auf 31. März 1999 ein. Daran hielt sie auf
Einsprache des Versicherten hin fest (Entscheid vom 23. März 2001).
Die von S.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Basel-Landschaft mit Entscheid vom 1. März 2002 in dem Sinne gut,
dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur weiteren Abklärung
im Sinne der Erwägungen und zum Erlass einer neuen Verfügung an die SUVA
zurückwies. Gestützt auf die in Nachachtung des kantonalen Entscheides
vorgenommenen Abklärungen, namentlich ein Gutachten des Zentrums für
medizinische Begutachtung (ZMB) vom 6. Mai 2003, gelangte die SUVA zum
Ergebnis, dass die geklagten Beschwerden seit Ende 1999 nicht mehr mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom
4. Juni 1997 stehen, und stellte die Versicherungsleistungen auf 31. Dezember
1999 ein (Verfügung vom 12. Juli 2004). Die vom Versicherten dagegen erhobene
Einsprache lehnte sie ab (Entscheid vom 29. März 2005).

B.
S.________ liess Beschwerde einreichen und das Rechtsbegehren stellen, es sei
der Einspracheentscheid aufzuheben und die SUVA zu verpflichten, ab 1. Januar
2000 die ihm zustehenden Versicherungsleistungen auszurichten. Mit Entscheid
vom 19. Oktober 2005 hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft die Beschwerde
in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur
weiteren Abklärung im Sinne der Erwägungen und zum Erlass einer neuen
Verfügung an die SUVA zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA die Aufhebung des
kantonalen Entscheides.
Während S.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 E. 1.2).

2.
Streitig und zu prüfen ist die Frage, ob der von der Beschwerde führenden
SUVA im Nachgang zum ersten vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid vom
1. März 2002 am 12. Juli 2004 schliesslich auf 31. Dezember 1999 verfügte
Fallabschluss unter Ablehnung weiterer Versicherungsleistungen
(Invalidenrente, Integritätsentschädigung) rechtens ist. Im angefochtenen
Entscheid vom 19. Oktober 2005 bezeichnete das kantonale Gericht die für die
Beurteilung dieser Frage erhebliche Tatsachen- und Aktenlage als nach wie vor
nicht spruchreif, weshalb es die Sache erneut an die SUVA zurückwies.
Hiergegen richtet sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, welcher der
Beschwerdegegner vernehmlassungsweise opponiert.

3.
Im angefochtenen Entscheid wird zutreffend davon ausgegangen, dass das am
1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) anwendbar ist, soweit
es um allfällige Leistungen ab 1. Januar 2003 geht, und für den Zeitraum
davor altes Recht gilt (BGE 130 V 445). Des Weitern hat die Vorinstanz die
Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers
vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem
eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 129 V 181 E. 3.1, 406
E. 4.3.1, je mit Hinweisen) und zur vorausgesetzten Adäquanz des
Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (BGE 129 V 181 E. 3.2 mit Hinweis)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Zu ergänzen ist, dass bei der Beurteilung der Adäquanz von organisch nicht
(hinreichend) nachweisbaren Unfallfolgeschäden wie folgt differenziert werden
muss (BGE 127 V 103 E. 5b/bb): Es ist zunächst abzuklären, ob die versicherte
Person beim Unfall ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule, eine dem
Schleudertrauma äquivalente Verletzung oder ein Schädel-Hirntrauma erlitten
hat. Ist dies nicht der Fall, gelangt die Rechtsprechung gemäss BGE 115 V 138
ff. E. 6 zur Anwendung. Ergeben die Abklärungen indessen, dass die
versicherte Person eine der soeben erwähnten Verletzungen erlitten hat, muss
beurteilt werden, ob die zum typischen Beschwerdebild einer solchen
Verletzung gehörenden Beeinträchtigungen (vgl. dazu: BGE 119 V 338, 117 V 360
E. 4b, 377 E. 3c, 382 E. 4b; SVR 2003 UV Nr. 12 S. 36 E. 3.1.2 [Urteil E. vom
25. Februar 2003, U 78/02]) zwar teilweise vorliegen, im Vergleich zur
psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten (BGE 123 V 99
E. 2a; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 438 f. E. 3a und b [Urteil W. vom 18. Juni
2002, U 164/01]). Trifft dies zu, sind für die Adäquanzbeurteilung ebenfalls
die in BGE 115 V 138 ff. E. 6 (140 E. 6c/aa) für Unfälle mit psychischen
Folgeschäden aufgestellten Grundsätze massgebend; andernfalls erfolgt die
Beurteilung der Adäquanz gemäss den in BGE 117 V 366 E. 6a und 382 E. 4b
festgelegten Kriterien.

4.
Der kantonale Gerichtsentscheid spricht sich nur zur Leistungsvoraussetzung
des in Art. 6 Abs. 1 UVG angelegten natürlichen Kausalzusammenhanges aus und
kommt zum Schluss, es könne nicht abschliessend beantwortet werden, ob diese
erfüllt sei. Diese Frage kann offen bleiben. Denn das zusätzliche Erfordernis
des adäquaten Kausalzusammenhanges, welches die Rechtsprechung im Rahmen von
Art. 6 Abs. 1 UVG verlangt, zählt zum eingangs erwähnten Anfechtungs- und
Streitgegenstand (Ablehnung weiterer Leistungen über den 31. Dezember 1999
hinaus) im Sinne der Rechtsprechung (BGE 125 V 413).
Wie schon im Einspracheentscheid und im kantonalen Verfahren äussert sich die
SUVA auch im letztinstanzlichen Prozess zur Frage der Adäquanz des
Kausalzusammenhanges. Der Beschwerdegegner spricht sich dazu ebenfalls aus.
Es steht daher aus Gründen des rechtlichen Gehörs (vgl. dazu RKUV 2005
Nr. U 558 S. 391 [Urteil A. vom 24. Mai 2005, U 53/05]) nichts entgegen, dass
das Bundesgericht im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (BGE 110 V 20
E. 1) die Sache unter dem Gesichtswinkel des adäquaten Kausalzusammenhanges
abschliessend beurteilt, vorausgesetzt, die Aktenlage lasse dies zu.

5.
5.1 Es steht aufgrund der Akten fest, dass der Beschwerdegegner beim
Auffahrunfall vom 4. Juni 1997 Verletzungen an der Wirbelsäule erlitten hat,
die in den medizinischen Unterlagen als Distorsion, Prellung, Kontusion oder
ähnlich bezeichnet werden, jedenfalls aber keine bleibenden strukturellen
Schädigungen zurückgelassen haben. Damit liegt eine zum Formenkreis der
Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule zu zählende oder damit
vergleichbare Schädigung (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 E. 2) vor. Hingegen hat
sich aufgrund der initial eingeholten, dem Unfallgeschehen zeitlich am
nächsten liegenden Berichte (Arztzeugnis des Spitals Y.________ vom 7. Juli
1997; ärztlicher Zwischenbericht des Dr. med. R.________ vom 30. August 1997;
Bericht über die kreisärztliche Untersuchung vom 7. Oktober 1997) das von der
Rechtsprechung ebenfalls verlangte so genannte "bunte Beschwerdebild" mit
einer Häufung von Beschwerden wie diffusen Kopfschmerzen, Schwindel,
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rascher Ermüdbarkeit,
Visusstörungen, Reizbarkeit, Affektlabilität, Depressionen, Wesensveränderung
usw. (vgl. SVR 2003 UV Nr. 12 S. 36 E. 3.1.2 [Urteil E. vom 25. Februar 2003,
U 78/02]) nicht eingestellt, wie schon aus dem Arztzeugnis des Spitals
Y.________ vom 7. Juli 1997 hervorgeht, wo der Beschwerdegegner am Unfalltag
(4. Juni 1997) röntgenologisch abgeklärt, analgetisch behandelt und
gleichentags wieder entlassen wurde.
Entgegen den Vorbringen in der Vernehmlassung lässt sich keinem der
nachträglich zu den Akten genommenen Berichte entnehmen, dass sich das im
Sinne der Rechtsprechung verlangte spezifische Beschwerdebild jemals
eingestellt hätte. Vielmehr war der Verlauf schon initial durch eine
Unfallfehlverarbeitung gekennzeichnet, wie sich namentlich aus dem Gutachten
des ZMB vom 6. Mai 2003 (wonach beim Versicherten eine lang anhaltende
Anpassungsstörung bei längerer depressiver Reaktion mit Angst gemischt
vorlag, die dann in eine hypochondrische und anhaltende somatoforme
Schmerzstörung umschlug) und dem Zwischenbericht des Dr. med. R.________ vom
18. November 1997 (in welchem von einem "probable syndrome subjectif de
traumatisme du rachis" die Rede ist) ergibt. Dabei ist es in der Folgezeit
geblieben.

5.2 Bei dieser Sachlage ist das Erfordernis des adäquaten
Kausalzusammenhanges nicht nach der Rechtsprechung gemäss BGE 117 V 359 zu
prüfen, sondern nach der mit BGE 115 V 133 eingeleiteten Rechtsprechung,
gemäss welcher bei der Prüfung der Adäquanzkriterien die psychischen Anteile
ausser Acht zu bleiben haben.

5.3 Die Auffahrkollision vom 4. Juni 1997 ist aufgrund des augenfälligen
Geschehensablaufs und der Verletzungen, die sich der Beschwerdeführer dabei
zugezogen hat, im Rahmen der Einteilung, wie sie für die Belange der
Adäquanzbeurteilung Anwendung findet (BGE 115 V 138 ff. E. 6), als höchstens
mittelschweres Ereignis im Grenzbereich zu den leichten Unfällen zu
qualifizieren (vgl. auch RKUV 2005 Nr. U 549 S. 237 E. 5.1.2 mit Hinweisen
[Urteil C. vom 15. März 2005, U 380/04]).

5.3.1 Damit die Adäquanz des Kausalzusammenhangs bejaht werden könnte, müsste
ein einzelnes der in die Beurteilung einzubeziehenden Kriterien in besonders
ausgeprägter Weise erfüllt sein oder die zu berücksichtigenden Kriterien
müssten in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sein (BGE 115 V 140
E. 6c/bb, 117 V 367 E. 6b, 384 E. 4c).

5.3.2 Der Unfall vom 4. Juni 1997, bei welchem ein Auto von hinten auf das
Fahrzeug des Beschwerdegegners auffuhr, war weder besonders eindrücklich noch
ereignete er sich unter besonders dramatischen Begleitumständen. Ebenso wenig
erfüllt die HWS-Distorsion oder die Distorsion der Unterarme, welche sich der
Versicherte zuzog, das Kriterium der Schwere oder besonderen Art der
erlittenen Verletzungen (vgl. auch RKUV 2005 Nr. U 549 S. 238 E. 5.2.3 mit
Hinweisen [Urteil C. vom 15. März 2005, U 380/04]). Anhaltspunkte für eine
ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmerte,
liegen nicht vor. Ebenso wenig kann von einem schwierigen Heilungsverlauf und
erheblichen Komplikationen gesprochen werden. Was schliesslich die geltend
gemachten Dauerschmerzen, die lange Dauer der ärztlichen Behandlung sowie die
anhaltende Arbeitsunfähigkeit anbelangt, sind diese - wie namentlich aus dem
Gutachten des ZMB vom 6. Mai 2003 hervorgeht - auf psychische Ursachen
zurückzuführen, welche im Rahmen der Adäquanzbeurteilung nach BGE 115 V 140
E. 6c/aa unberücksichtigt zu bleiben haben. Da somit kein Kriterium in
besonders ausgeprägter Weise gegeben ist und die zu berücksichtigenden
Kriterien nicht insgesamt in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sind,
ist die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zu verneinen.

6.
Bei dieser Sachlage erübrigen sich die im vorinstanzlichen
Rückweisungsentscheid angeordneten Abklärungen zur Frage des natürlichen
Kausalzusammenhanges.

7.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Anspruch auf eine
Parteientschädigung haben weder der Beschwerdegegner als unterliegende Person
noch die SUVA als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation
(Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom
19. Oktober 2005 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.
Luzern, 24. Januar 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: