Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 68/2006
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{T 7}
U 68/06

Urteil vom 4. Januar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Borella, Vorsitzender,
Bundesrichterin Leuzinger und Kernen,
Gerichtsschreiberin Polla.

J. ________, 1957, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Markus
Schultz, Rorschacher Strasse 107, 9000 St. Gallen,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau
vom 16. November 2005.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 15. November 2002 stellte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) die seit einer am 3. März 2000 erlittenen
Kopfverletzung (commotio cerebri sowie linksseitige Bulbuskontusion)
erbrachten Leistungen an J.________, geboren 1957, Ende November 2002 ein.
Die weiterhin geklagten Beschwerden, für welche psychische Gründe
verantwortlich seien, stünden in keinem rechtserheblichen Kausalzusammenhang
zum Unfallereignis vom 3. März 2000, bei dem J.________ mit einer Bierflasche
einen Schlag auf den Kopf erhalten hatte. Die Verfügung blieb unangefochten.
Am 5. November 2003 gelangte der Rechtsvertreter des Versicherten nach
Vorliegen eines mehrfach durch die SUVA eingeforderten psychiatrischen
Berichts des Dr. med. S.________, Spezialarzt für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 20. Oktober 2003, an die Unfallversicherung und führte
aus, der damalige Entscheid sei "nicht vollständig und aufgrund einer
unvollständigen Aktenlage entstanden". Man habe weder das in Auftrag gegebene
psychiatrische Gutachten abgewartet, noch einen anderen Arzt mit der
Begutachtung beauftragt, weshalb er die SUVA ersuche, auf die Verfügung vom
15. November 2002 zurückzukommen. Nach Beizug einer Beurteilung durch ihren
Neurologen Dr. med. H.________, SUVA-Versicherungsmedizin, (vom 9. September
2004) entschied die SUVA verfügungsweise am 2. Juni 2004, die Eingabe vom
5. November 2003, welche sie als Wiedererwägungs- und Revisionsgesuch
betrachte, sei abzuweisen. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 15. März 2005).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 16. November 2005 ab.

C.
J.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache zu materiellem
Entscheid über das Leistungsbegehren an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es
seien ihm rückwirkend per 1. Dezember 2002 Taggelder im bisherigen Umfang
zuzusprechen; eventualiter sei ein neues neuropsychiatrisches Gutachten
einzuholen. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während
das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V [I 618/06] Erw. 1.2).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen über die prozessuale
Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG; BGE 127 V 469 oben) und die Wiedererwägung
(Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 127 V 469 Erw. 2c in fine) zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

2.2 Als "neu" gelten Tatsachen, welche sich bis zum Zeitpunkt, da im
Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren,
verwirklicht haben, jedoch der um Revision ersuchenden Person trotz
hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner
erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage
des angefochtenen Urteils zu verändern und bei zutreffender rechtlicher
Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen. Beweismittel haben entweder
dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem
Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt
gewesen, aber zum Nachteil der gesuchstellenden Person unbewiesen geblieben
sind. Sollen bereits vorgebrachte Tatsachen mit den neuen Mitteln bewiesen
werden, so hat die Person auch darzutun, dass sie die Beweismittel im
früheren Verfahren nicht beibringen konnte. Entscheidend ist ein
Beweismittel, wenn angenommen werden muss, es hätte zu einem andern Urteil
geführt, falls das Gericht im Hauptverfahren hievon Kenntnis gehabt hätte.
Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der
Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsermittlung dient. Es genügt
daher beispielsweise nicht, dass ein neues Gutachten den Sachverhalt anders
bewertet; vielmehr bedarf es neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die
Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen. Für die
Revision eines Entscheides genügt es nicht, dass die Gutachterin oder der
Gutachter aus den im Zeitpunkt des Haupturteils bekannten Tatsachen
nachträglich andere Schlussfolgerungen zieht als das Gericht. Auch ist ein
Revisionsgrund nicht schon gegeben, wenn das Gericht bereits im
Hauptverfahren bekannte Tatsachen möglicherweise unrichtig gewürdigt hat.
Notwendig ist vielmehr, dass die unrichtige Würdigung erfolgte, weil für den
Entscheid wesentliche Tatsachen nicht bekannt waren oder unbewiesen blieben
(BGE 127 V 358 Erw. 5b, 110 V 141 Erw. 2, 293 Erw. 2a, 108 V 171 Erw. 1;
vgl. auch BGE 118 II 205).

3.
3.1 Nachdem der Beschwerdeführer keine veränderten tatsächlichen Verhältnisse
und damit weder einen Rückfall noch Spätfolgen des rechtskräftig beurteilten
Unfallereignisses vom 3. März 2000 geltend machte, sondern eine
Neubeurteilung der Leistungseinstellung beantragte, hat die Vorinstanz das
Gesuch vom 5. November 2003 zu Recht unter dem Blickwinkel der prozessualen
Revision und der Wiedererwägung geprüft. Strittig ist somit letztinstanzlich
einzig, ob der Bericht des behandelnden Arztes Dr. med. S.________ vom
20. Oktober 2003 Anlass zu einer prozessualen Revision oder zu einer
Wiedererwägung der auf den 30. November 2002 verfügten Leistungseinstellung
gibt.

3.2 Wie die Vorinstanz bereits darlegte, besteht kein gerichtlich
durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung (BGE 117 V 13 Erw. 2a), woran das
Inkrafttreten des ATSG nichts geändert hat (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar,
Zürich 2003, N 22 zu Art. 53). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
hat die SUVA, obwohl sie in ihrer Verfügung vom 2. Juni 2004 aufführte, die
Eingabe vom 5. November 2003 sei abzuweisen, einzig materiell geprüft, ob die
Voraussetzungen einer prozessualen Revision im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG
erfüllt sind. Die Wiedererwägungsvoraussetzungen hat sie indessen nicht
geprüft und ist auf das Gesuch nicht eingetreten; die dispositivmässige
Abweisung der Eingabe ist nicht ausschlaggebend (BGE 117 V 8). Damit kann
unter dem Titel der Wiedererwägung nicht auf die leistungseinstellende
Verfügung vom 15. November 2002 zurückgekommen werden.

3.3 Hinsichtlich des in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten
Einwandes, die verfügte Leistungseinstellung sei angesichts des noch
ausstehenden psychiatrischen Berichtes des Dr. med. S.________ unzulässig
gewesen, ist nochmals festzuhalten, dass dieses Vorbringen hier - unter
prozessual revisionsrechtlichem Blickwinkel (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit
Hinweisen) - unbehelflich ist. Sofern der Versicherte die Ansicht vertritt,
der Sachverhalt wäre bei Verfügungserlass medizinisch unvollständig abgeklärt
gewesen, hätte er eine Verletzung der nach dem Untersuchungsgrundsatz
obliegenden Pflicht zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung vielmehr im
Rahmen des an die Verfügung vom 15. November 2002 anschliessenden
Einspracheverfahrens geltend machen müssen, worauf die Vorinstanz bereits
hinwies. Zweifellos hat die Rechtskraft der Verfügung vom 15. November 2002
Bestand.

3.4 Der Beschwerdeführer stützt sich zur Begründung seines Revisionsbegehrens
auf den Bericht des Dr. med. S.________ vom 20. Oktober 2003, wonach er an
einem organischen Psychosyndrom nach Schädel-Hirntrauma sowie an
Panikattacken leidet und weiterhin vollständig arbeitsunfähig sei.

3.5 Richtig ist zwar, dass mit dem Bericht des Dr. med. S.________ (vom
20. Oktober 2003) erstmals eine von einem Facharzt gestellte psychiatrische
Diagnose vorliegt; der Bericht enthält aber keine neuen ärztlichen
Feststellungen. Bereits Dr. med. M.________, Spezialarzt FMH für
Otorhinolaryngologie, Hals- und Gesichtschirurgie, diagnostizierte bei dem
neurologisch und neuro-otologisch eingehend untersuchten Versicherten anhand
des posttraumatischen klinischen Bildes mit Gesichts- und Kopfschmerzen,
visueller und Schwindel-Symptomatik ein postcommotionelles Syndrom
(audio-neurootologischer Bericht vom 9. August 2000). Anlässlich der
Untersuchungen in der Klinik für Neurologie am Spital X.________, wurden
sodann bereits Schwindel, Kopfschmerzen und Angstgefühle thematisiert, welche
Beschwerden Dr. med. S.________ u.a. auch aufführte, wobei die Ärzte an der
Klinik keinerlei neurologischen Funktionsausfälle nachweisen konnten. Im
Sinne einer neuropsychiatrischen Erkrankung stellten sie einen phobischen
Attackenschwindel fest, der zu ausgeprägter physischer und psychischer
Beeinträchtigung führen könne (Gutachten vom 3. Januar 2001). Ebenso wurde in
den weiteren medizinischen Akten auf Angstzustände, innere Nervosität und
Panikattacken hingewiesen sowie der Eindruck einer geringgradigen depressiven
Verstimmung festgehalten (Neuro-otologischer Bericht der Klinik für Ohren-,
Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Spital Y.________, vom 12. März 2001
und Bericht der Klinik für Neurologie am Spital X.________, vom 19. Oktober
2001). Wie sich mit Blick auf die Ausführungen des Dr. med. H.________ in
seiner neurologischen Beurteilung vom 9. Februar 2004 ergibt, liegen somit
mit der aus psychiatrischer Sicht gestellten Diagnose eines organischen
Psychosyndroms (ICD-10: F07.02) und den festgestellten Panikattacken keine
neuen Elemente tatsächlicher Natur vor; es handelt sich vielmehr lediglich um
eine andere (psychiatrische) Würdigung desselben medizinischen Sachverhalts,
zumal mit einem organischen Psychosyndrom dieselbe Palette von Symptomen und
Beschwerden bezeichnet werden wie bei dem aus neurologischer Sicht
diagnostizierten postcommotionellen Syndrom (neurologische Beurteilung vom
9. Februar 2004).

3.6 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der nach Abschluss des ersten
Verwaltungsverfahrens zu den Akten genommene ärztliche Bericht keine
Feststellungen enthält, welche - im Sinne einer prozessualen Revision - eine
Neubeurteilung der rechtlichen Schlussfolgerungen gemäss rechtskräftiger
Verfügung vom 15. November 2002 erforderten. Der psychiatrischen
Diagnosestellung des Dr. med. S.________ im Bericht vom 20. Oktober 2003
liegen keine neuen Befunde zu Grunde; sie stellt nach dem Gesagten keine
neue, bisher unverschuldet verborgen gebliebene, rechtserhebliche Tatsache
dar. Damit hält der auf Ende November 2002 verfügte Fallabschluss unter
revisionsrechtlichen Gesichtspunkten Stand. Ergänzende medizinische
Abklärungen zum Gesundheitszustand im eventualiter beantragten Sinn erübrigen
sich (zur antizipierten Beweiswürdigung vgl. BGE 124 V 94 Erw. 4b; SVR 2006
IV Nr. 1 S. 2 Erw. 2.3 mit Hinweisen [= Urteil K. vom 8. April 2004,
I 573/03]).

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG [in der seit 1. Juli 2006 geltenden
Fassung]). Dem Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung (Art. 152 Verbindung mit Art. 135 OG) ist stattzugeben, da die
Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu
bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 128 I 232 ff. Erw. 2.5, 125 V
202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Markus
Schultz, St. Gallen, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der
Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 4. Januar 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Vorsitzende: Die Gerichtsschreiberin: