Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 612/2006
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U 612/06

Urteil vom 5. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Holzer.

S. ________, 1966, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Joseph Hostetter,  Schweizer
Paraplegiker-Vereinigung, Kantonsstrasse 40, 6207 Nottwil,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Laupenstrasse 27, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern
vom 1. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1966 geborene S.________ war als Sachbearbeiterin der Organisation
X.________ bei der Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachstehend:
Allianz oder Beschwerdegegnerin) gegen die Folgen von Unfällen versichert,
als sie am 8. September 2004 gegen 22 Uhr vom Balkon ihrer Wohnung im zweiten
Stock stürzte und sich schwere Verletzungen zuzog. Nach eigenen Angaben
wollte sie im Laufe einer Auseinandersetzung mit ihrem Freund diesen in Angst
versetzen und vom Balkon auf den Erdboden hinunterklettern, worauf sie
plötzlich gefallen sei. Das Institut für Rechtsmedizin der Universität
Y.________ stellte bei der Versicherten für den Zeitpunkt der Blutentnahme,
mithin ca. eine Stunde nach dem Ereignis, einen Alkoholgehalt im Blut von
1,97 Gewichtspromillen (Mittelwert) fest. Mit Verfügung vom 1. September 2005
kürzte die Allianz die Geldleistungen an die Versicherte um 50 %, da der
Unfall vom 8. September 2004 auf ein Wagnis zurückgehe; daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 17. Oktober 2005 fest.

B.
Die gegen diesen Einspracheentscheid erhobene Beschwerde der S.________ wies
das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, mit Entscheid vom 1. Dezember 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt S.________, ihr seien unter
Aufhebung des Einsprache- und des kantonalen Gerichtsentscheides die ihr
zustehenden Geldleistungen auf Grund des Unfalles vom 8. September 2004
ungekürzt auszurichten.
Während die Allianz auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit weiteren Eingaben vom 14. und 23. März 2007 halten S.________ und die
Allianz an ihren jeweiligen Rechtsbegehren fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10
Rz. 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid am 1. Dezember 2006 und somit vor dem
1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis
31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2
S. 395).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin zu Recht ihre
Geldleistungen wegen Eingehens eines Wagnisses um 50 % gekürzt hat.

3.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf
Leistungen der Unfallversicherung im Allgemeinen (Art. 6 Abs. 1 UVG) und zur
Kürzung der Geldleistungen bei Nichtberufsunfällen, die auf ein Wagnis
zurückgehen (Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 UVV), ebenso zutreffend
dargelegt, wie die Rechtsprechung zur Einteilung der Wagnisse in absolute und
relative (BGE 112 V 297 E. 1b S. 300). Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass ihr Versuch, vom Balkon ihrer
Wohnung im zweiten Obergeschoss zum Erdboden hinunterzuklettern, objektiv als
Wagnis zu qualifizieren ist. Nach Sinn und Zweck von Art. 39 UVG in
Verbindung mit Art. 50 UVV sei eine Leistungskürzung wegen Eingehens eines
Wagnisses nur bei Unfällen möglich, welche sich während der Ausübung
risikoreicher Sportarten ereigneten. Der Vorfall vom 8. September 2004 sei
jedoch kein Sportunfall gewesen.

4.1.1 Obwohl absolute Wagnisse oft im Zusammenhang mit gefährlichen
Sportarten eingegangen werden, ist die Anwendung von Art. 50 UVV nicht auf
den Bereich des Sportes beschränkt (vgl. Jean-Maurice Frésard/Margit
Moser-Szeless, L'assurance-accidents obligatoire, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007,
Rz. 326 S. 938). So wurde von der Rechtsprechung etwa auch das Zerdrücken
eines Trinkglases in der Hand aus Wut oder Jux als absolutes Wagnis
bezeichnet (SVR 2007 UV Nr. 4 S. 10 E. 2.1 [U 122/06]).

4.1.2 Nach eigenen Angaben wollte die Versicherte - um ihren Freund zu
ängstigen - nachts gegen 22 Uhr vom Balkon ihrer Wohnung aus dem Pfosten
entlang in die Tiefe klettern. Die dabei zu überwindende Höhendifferenz hätte
etwa sechs Meter betragen. Die alkoholisierte Beschwerdeführerin hat sich
durch Übersteigen der Brüstung ihres Balkons im zweiten Obergeschoss einer
erheblichen Gefahr ausgesetzt, welche sich in der Folge auch verwirklicht
hat. Ein schützenswerter Grund für dieses Verhalten ist nicht ersichtlich.
Die Versicherte anerkennt denn auch, dass kein vernünftiger Mensch, der seine
Sinne kontrollieren könne, sich so verhalte. Die Handlung der
Beschwerdeführerin ist daher objektiv betrachtet als Wagnis zu qualifizieren.

4.2 Die Versicherte bringt weiter vor, sie sei zum Zeitpunkt, als sie ihre
Wohnung über den Balkon verlassen wollte und dabei verunfallte, auf Grund
ihres Blutalkoholgehaltes von über 1,8 Gewichtspromillen nicht
zurechnungsfähig gewesen, weshalb es an der Grundlage für eine Kürzung der
Versicherungsleistungen fehle.

4.2.1 Gemäss der Rechtsprechung ist ein von einer versicherten Person
eingegangenes Wagnis dann nicht zu beachten, wenn sie zum massgebenden
Zeitpunkt vollständig unzurechnungsfähig gewesen war. Eine bloss teilweise
Unzurechnungsfähigkeit führt indessen noch nicht dazu, dass die an das
Eingehen eines Wagnisses geknüpften Rechtsfolgen nicht eintreten würden (BGE
98 V 144 E. 4a S. 149). In Bezug auf Alkoholisierungen wurde im Strafrecht
die Faustregel entwickelt, dass bei einem Blutalkoholgehalt von unter zwei
Promillen in der Regel keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit, bei zwei
bis drei Gewichtspromillen eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit und bei
über drei Gewichtspromillen eine vollständige Schuldunfähigkeit zu vermuten
ist. Allerdings sind in die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit stets
Gewöhnung, Persönlichkeit und Tatsituation einzubeziehen (BGE 122 IV 49 E. 1b
S. 50). Bei zweifelhafter Schuldfähigkeit ist daher eine sachverständige
Begutachtung zu veranlassen.

4.2.2 Gemäss dem Gutachten des Psychiaters Dr. med. M.________ vom 5. Juli
2005 war die Beschwerdeführerin im massgeblichen Zeitpunkt durch die
Alkoholisierung in mittlerem Masse in ihrer Zurechnungsfähigkeit
beeinträchtigt. Das Resultat der Begutachtung entspricht somit der
Faustregel, wonach erst bei einem Blutalkoholgehalt von über drei
Gewichtspromillen eine vollständige Unzurechnungsfähigkeit zu erwarten ist.
Da das Gutachten für die streitigen Belange umfassend und nachvollziehbar
ist, kommt ihm voller Beweiswert zu. Zu erkennen, dass das Klettern vom
Balkon gefährlich war, setzt zudem keine erhöhten Erfordernisse an die
Einsichtsfähigkeit voraus. Diese Erkenntnis ist somit auch einer vermindert
zurechnungsfähigen Person möglich. Im Weiteren wollte die Beschwerdeführerin
ihren Freund durch ihre Handlung in Angst versetzen. Diese Motivation zeigt,
dass sich die Versicherte der Gefährlichkeit ihres Vorhabens bewusst war. Die
Beschwerdeführerin hatte im Weiteren schon vor der Ausführung ihres Vorhabens
an dessen Durchführbarkeit gezweifelt, dachte sie doch, dass sie
gegebenenfalls beim nächst unteren Balkon anhalten und einsteigen könne. Wie
die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, deutet dies auf eine planmässige
Vorgehensweise hin. Es ist somit davon auszugehen, dass die Versicherte im
massgebenden Zeitpunkt zwar teilweise, nicht aber vollständig
unzurechnungsfähig war.

4.3 Da lediglich bei einer vollständigen Unzurechnungsfähigkeit auf eine
Leistungskürzung wegen Eingehens eines Wagnisses zu verzichten ist, waren der
Einsprache- und der kantonale Gerichtsentscheid rechtens. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher abzuweisen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.
Luzern, 5. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i.V.

Widmer Holzer