Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 611/2006
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{T 7}
U 611/06

Urteil vom 12. März 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Jancar.

Vaudoise Allgemeine Versicherungsgesellschaft, Place de Milan, 1007 Lausanne,
Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1981, Beschwerdegegner.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des
Kantons Schaffhausen vom 1. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1981 geborene F.________ arbeitete seit 13. September 2004 als
kaufmännischer Angestellter bei der Firma L.________ AG in X.________ und war
damit bei der Vaudoise Allgemeine Versicherungsgesellschaft (nachfolgend
Vaudoise) gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie
Berufskrankheiten versichert. Am 9. April 2005 zog er sich bei einem
Fussballspiel eine Muskelzerrung am rechten Oberschenkel zu und musste
ärztlich behandelt werden. Eine Arbeitsunfähigkeit trat nicht ein. Mit
Verfügung vom 28. Juni 2005 verneinte die Vaudoise ihre Leistungspflicht. Die
dagegen vom Versicherten erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 22.
August 2005 ab. Zur Begründung führte sie aus, es liege weder ein Unfall noch
eine unfallähnliche Körperschädigung vor, da ein Ballschuss beim
Fussballspiel zu den normalen und üblichen Bewegungen gehöre. Es habe sich
weder etwas Ausserordentliches ereignet noch werde ein spezieller
Kraftaufwand geltend gemacht.

B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Obergericht des
Kantons Schaffhausen den Einspracheentscheid auf und verpflichtete die
Vaudoise gemäss den Erwägungen, die angefallenen Kosten der Heilbehandlung zu
übernehmen (Entscheid vom 1. Dezember 2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Vaudoise die Aufhebung des
kantonalen Entscheides.

Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Unfall (Art. 4 ATSG),
den Anspruch auf Leistungen der Unfallversicherung im Allgemeinen (Art. 6
Abs. 1 und 2 UVG) sowie auf Heilbehandlung im Besonderen (Art. 10 Abs. 1 lit.
a-c UVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt bezüglich des Begriffs der
Körperschädigungen, die auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung Unfällen
gleichgestellt sind (Art. 6 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 UVV),
sowie der zuletzt in BGE 129 V 466 bestätigten Rechtsprechung, wonach dabei
am Erfordernis des äusseren Faktors festzuhalten ist. Darauf wird verwiesen.

2.2 In BGE 129 V 466 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht seine
Rechtsprechung zu den unfallähnlichen Körperschädigungen dahingehend
präzisiert, dass tatbestandsmässig ein ausserhalb des Körpers liegender,
objektiv feststellbarer, sinnfälliger, eben unfallähnlicher Vorfall
erforderlich ist. Wo ein solches Ereignis mit Einwirkung auf den Körper nicht
stattgefunden hat, und sei es auch nur als Auslöser eines in Art. 9 Abs. 2
lit. a-h UVV aufgezählten Gesundheitsschadens, ist eine eindeutig krankheits-
oder degenerativ bedingte Gesundheitsschädigung gegeben. Kein unfallähnliches
Ereignis liegt in all jenen Fällen vor, in denen der äussere Faktor mit dem
(erstmaligen) Auftreten der für eine der in Art. 9 Abs. 2 lit. a-h UVV
enthaltenen Gesundheitsschäden typischen Schmerzen gleichgesetzt wird. Auch
nicht erfüllt ist das Erfordernis des äusseren schädigenden Faktors, wenn das
(erstmalige) Auftreten von Schmerzen mit einer blossen Lebensverrichtung
einhergeht, welche die versicherte Person zu beschreiben in der Lage ist;
denn für die Bejahung eines äusseren, auf den menschlichen Körper schädigend
einwirkenden Faktors ist stets ein Geschehen verlangt, dem ein gewisses
gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohnt. Das ist zu bejahen, wenn die zum
einschiessenden Schmerz führende Tätigkeit im Rahmen einer allgemein
gesteigerten Gefahrenlage vorgenommen wird, wie dies etwa für viele
sportliche Betätigungen zutreffen kann. Wer hingegen beim Aufstehen,
Absitzen, Abliegen, der Bewegung im Raum, Handreichungen usw. einen
einschiessenden Schmerz erleidet, welcher sich als Symptom einer Schädigung
nach Art. 9 Abs. 2 UVV herausstellt, kann sich nicht auf das Vorliegen einer
unfallähnlichen Körperschädigung berufen. Erfüllt ist demgegenüber das
Erfordernis des äusseren schädigenden Faktors bei Änderungen der Körperlage,
die nach unfallmedizinischer Erfahrung häufig zu körpereigenen Traumen führen
können, wie das plötzliche Aufstehen aus der Hocke, die heftige und/oder
belastende Bewegung und die durch äussere Einflüsse unkontrollierbare
Änderung der Körperlage. Erforderlich und hinreichend für die Bejahung eines
äusseren Faktors ist, dass diesem ein gesteigertes Schädigungspotenzial
zukommt, sei es zufolge einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage, sei es
durch Hinzutreten eines zur Unkontrollierbarkeit der Vornahme der
alltäglichen Lebensverrichtung führenden Faktors (vgl. auch Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 137/06 vom 17. Oktober 2006, E. 2).

Der Auslösungsfaktor kann dabei alltäglich und diskret sein. Es muss sich
indessen um ein plötzliches Ereignis handeln. Dabei kommt es beim
Begriffsmerkmal der Plötzlichkeit im Rahmen der unfallähnlichen
Körperschädigungen nicht in erster Linie auf die Dauer der schädigenden
Einwirkung an als vielmehr auf deren Einmaligkeit. Keine unfallähnliche
Körperschädigung liegt demgemäss vor, wenn eine Verletzung im Sinne von Art.
9 Abs. 2 lit. a-h UVV ausschliesslich auf wiederholte, im täglichen Leben
laufend auftretende Mikrotraumata zurückzuführen ist, welche eine allmähliche
Abnützung bewirken und schliesslich zu einem behandlungsbedürftigen
Gesundheitsschaden führen (BGE 116 V 145 E. 2c S. 148; erwähntes Urteil U
137/06, E. 2; Alfred Bühler, Die unfallähnliche Körperschädigung, in: SZS
1996 S. 88).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob es sich beim Geschehen vom 9. April 2005 um
ein versichertes Ereignis handelt.

3.1 Die Arbeitgeberin gab in der Unfallmeldung vom 13. April 2005 an, der
Versicherte habe während des Fussballspiels beim Schuss einen Schmerz im
Oberschenkel verspürt. Dr. med. N.________, der den Versicherten am 12. April
2005 erstmals behandelt hatte, diagnostizierte im Zeugnis vom 25. April 2005
eine Muskelzerrung im rechten Oberschenkel. Der Versicherte habe gemäss
eigenen Angaben beim Einlaufen ein Stolpertrauma erlitten. Der Versicherte
legte im "Fragebogen Unfallbegriff" der Vaudoise am 26. April 2005 dar, er
habe im Rahmen eines Fussballspiels beim Schiessen eine Zerrung am
Oberschenkel rechts erlitten. Etwas Besonderes (Schlag, Ausgleiten, Sturz
etc.) sei nicht passiert. Die Beschwerden hätten sich gleich beim Schuss
bemerkbar gemacht.

3.2
3.2.1 Die Vorinstanz hat im Wesentlichen erwogen, es sei unklar, ob der
Versicherte die Zerrung im Rahmen eines Stolpertraumas beim Einspielen oder
einer Schussabgabe während des Spiels erlitten habe. Da die Schmerzen
unmittelbar nach der Schussabgabe beim Fussballspielen aufgetreten seien,
habe der Versicherte eine plötzliche, unfreiwillige und auf einen äusseren
Faktor zurückzuführende Gesundheitsschädigung erlitten. Die unfallähnliche
Körperschädigung müsse nicht von einen ungewöhnlichen (äusseren) Faktor
herrühren, weshalb die Vaudoise leistungspflichtig sei.

3.2.2 Die Vaudoise macht geltend, der Versicherte habe am 26. April 2005
schriftlich festgehalten, er habe sich die Muskelzerrung beim Fussballspielen
bei einer Schussabgabe zugezogen. Eine allgemein gesteigerte Gefahrenlage
habe nicht bestanden. Der Versicherte  habe bestätigt, dass es sich um eine
für ihn gewohnte Tätigkeit gehandelt habe und alles unter normalen
Bedingungen abgelaufen sei; etwas Besonderes sei nicht passiert. Von einem
Fehltritt oder einem erhöhten Kraftaufwand sei nirgends die Rede. Soweit der
Versicherte vorinstanzlich geltend gemacht habe, die Schussabgabe sei "mit
voller Wucht" erfolgt, könne dem nicht gefolgt werden. Eine mehr als
physiologisch normale und psychologisch beherrschte Beanspruchung des Körpers
liege somit nicht vor, weshalb sie nicht leistungspflichtig sei.

4.
4.1 Gestützt auf die Unfallmeldung vom 13. April 2005 und die unterschriftlich
bestätigten Angaben des Versicherten im Fragebogen vom 26. April 2005 ist mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit (BGE 129 V 150 E. 2.1 S. 153) erstellt, dass
er sich die Muskelzerrung am rechten Oberschenkel bei einem Ballschuss
während des Fussballspiels zugezogen hat, was im Ergebnis auch die Vorinstanz
angenommen hat. Hievon geht ebenfalls die Vaudoise aus.

4.2 Auf Grund der Akten ist der Versicherte bei der Schussabgabe weder
gestürzt noch mit jemandem zusammengestossen. Er machte auch keine
unkoordinierte Bewegung in dem Sinne, dass sein Bewegungsablauf durch etwas
Programmwidriges oder Sinnfälliges, wie ein Ausgleiten, ein Stolpern oder ein
reflexartiges Abwehren eines Sturzes etc., gestört worden wäre. Das für die
Bejahung eines Unfalls im Rechtssinne erforderliche Merkmal eines
ungewöhnlichen äusseren Faktors ist damit unbestrittenemassen nicht erfüllt
(BGE 130 V 117, 122 V 230 E. 1 S. 232; RKUV 1999 Nr. U 333 S. 195 Erw. 3c/aa
und dd; vgl. auch erwähntes Urteil U 137/06, E. 3).

5.
5.1 Das Fussballspiel ist ein Geschehen mit einem gesteigerten
Gefährdungspotenzial, indem eine Vielzahl von nicht alltäglichen Bewegungen
(wie abruptes Beschleunigen und Stoppen, seit- und rückwärts Laufen, Drehen,
Strecken, Schiessen des Balls, Hochspringen beim Kopfball etc.), die den
gesamten Körper mannigfach belasten, ausgeführt werden. Es stellt auch für
einen geübten Fussballer nicht eine alltägliche Lebensverrichtung wie etwa
das blosse Bewegen im Raum dar. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat
denn auch das Vorliegen einer unfallähnlichen Körperschädigung bejaht bei
einem Fussballspieler, der im Kampf um den Ball ins Leere schlug und sich
dabei ein Hyperextensionstrauma des rechten Kniegelenkes zuzog (RKUV 1990 Nr.
U 112 S. 373). Gleich hat es entschieden bei einem Fussballer, der im Rahmen
eines Trainings eine Zerrung der Adduktorenmuskeln erlitt (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 20/00 vom 10. Dezember 2001, E. 2; vgl. auch BGE 129
V 466 E. 4.1 S. 468 f.).

Die vom Beschwerdegegner erlittene Muskelzerrung im rechten Oberschenkel -
eine Körperschädigung nach Art. 9 Abs. 2 lit. e UVV - ist demnach auf eine
plötzliche sowie heftige körpereigene Bewegung (Ballschuss; vgl. E. 4.1
hievor) und somit auf ein objektiv feststellbares, sinnfälliges Ereignis
anlässlich der Ausübung einer erhöht risikogeneigten Sportart zurückzuführen.
Das gesteigerte Gefährdungspotenzial hat sich realisiert. Nach dem Gesagten
ist vorliegend das Erfordernis des äusseren schädigenden Faktors bei
Änderungen der Körperlage (vgl. E. 2.2 hievor) erfüllt, weshalb mit der
Vorinstanz auf ein unfallähnliches Ereignis zu erkennen ist.

5.2 Die Einwendungen der Vaudoise vermögen an diesem Ergebnis nichts zu
ändern. Soweit sie geltend macht, bei der Schussabgabe des Versicherten sei
nichts Besonderes passiert, ist festzuhalten, dass im Rahmen der
unfallähnlichen Körperschädigung die "Ungewöhnlichkeit" des äusseren Faktors
nicht vorausgesetzt wird (BGE 129 V 466 E. 2.2 S. 467). Der Umstand, dass der
Versicherte beim Ballschuss keinen eigentlichen Fehltritt beging, führt
lediglich zum Ausschluss eines Unfalls im Rechtssinne (E. 4.2 hievor; vgl.
auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 398/06 vom 21. November 2006,
E. 3.2.2).
Die Vaudoise ist somit dem Grundsatz nach für die vom Versicherten am 9.
April 2005 erlittene Muskelzerrung im rechten Oberschenkel
leistungspflichtig, weshalb der angefochtene Entscheid rechtens ist.

6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Nicht erfüllt sind die
rechtsprechungsgemässen Voraussetzungen (BGE 110 V 72 E. 7 S. 81 f.), um dem
nicht vertretenen, obsiegenden Beschwerdegegner ausnahmsweise eine
Parteientschädigung (so genannte Umtriebsentschädigung) zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und
dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 12. März 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: