Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 604/2006
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U 604/06

Urteil vom 16. Januar 2008

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiber Holzer.

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Laupenstrasse 27, 3001 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1968, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Advokat Markus Schmid,
Lange Gasse 90, 4052 Basel.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt
vom 12. September 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1968 geborene M.________ war seit 14. Januar 1991 für die X.________ SA
als Kosmetikberaterin im Aussendienst tätig. Ihr Arbeitspensum betrug
zunächst 100 %, was bedeutete, dass sie pro Woche mindestens zwanzig
Kundenbesuche durchführen musste. Die Versicherte reduzierte im Einvernehmen
mit der Arbeitgeberin ihr Pensum formell per 1. Mai 1992 auf 80 %
(16 Kundenbesuche) und per 28. August 1995 auf 50 % (10 Kundenbesuche). Ihre
Entlöhnung war umsatzabhängig, wobei die Ansätze progressiv ausgestaltet
waren. M.________ war über ihre Arbeitgeberin bei der Berner Allgemeinen
Versicherungs-Gesellschaft (nachstehend: Berner Versicherung) gegen die
Folgen von Unfällen versichert, als sie am 25. Oktober 1995 Opfer eines
Auffahrunfalles wurde. Die Berner Versicherung anerkannte ihre
Leistungspflicht für die Folgen dieses Ereignisses. Nachdem sich die
Versicherte am 22. Mai 1997 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
angemeldet hatte, sprach ihr das Eidgenössische Versicherungsgericht mit
Urteil vom 2. Dezember 2002 (I 657/01) bei einem Invaliditätsgrad von 51,1 %
eine halbe Invalidenrente ab 1. Oktober 1996 zu. Die Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS) schätzte in ihrem Gutachten vom 17. Oktober 2001 die
Arbeitsfähigkeit der Versicherten in der angestammten Tätigkeit auf 50 %, in
einem anderen Beruf, beispielsweise an einem stationären Arbeitsplatz mit
ergonomischen Anpassungen, auf 75 %. Mit Schreiben vom 21. Juli 2004 kündigte
die Allianz Suisse-Versicherungs-Gesellschaft (nachstehend: Allianz resp.
Beschwerdeführerin) als Rechtsnachfolgerin der Berner Versicherung an, auf
Grund des MEDAS-Gutachtens ihre Taggeldleistungen per 1. Januar 2004
einzustellen. Nachdem die Versicherte mit diesem Vorgehen nicht einverstanden
war, stellte die Allianz mit Verfügung vom 29. März 2005 ihre Leistungen per
31. Juli 2001 ein, woran sie mit Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005
festhielt.

B.
Die von M.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt nach Parteiverhandlung am
12. September 2006 gut. Das Gericht hob den Einspracheentscheid vom 31. Mai
2005 auf und wies die Sache zur Neuberechnung der Taggelder ab August 2001 an
die Allianz zurück.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Allianz, der kantonale
Gerichtsentscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005
sei zu bestätigen.
Während M.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

D.
Die Parteien haben in weiteren Stellungnahmen an ihren jeweiligen Begehren
festgehalten.

Erwägungen:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom
17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit
wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in
Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten)
zusammengefügt (Seiler/von Werdt/ Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG],
Bern 2007, S. 10 Rz. 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des
obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach
seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar,
auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene
Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132
Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 12. September 2006 und
somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach
dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die
Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132
V 393 E. 1.2 S. 395).

1.2 Am 1. Januar 2003 ist das ATSG in Kraft getreten. Mit ihm sind unter
anderem auch im Unfallversicherungsrecht verschiedene materiellrechtliche
Bestimmungen geändert worden. Streitig und zu prüfen ist, ob die
Beschwerdeführerin die Taggeldleistungen zu Recht per 31. Juli 2001
eingestellt hat. In materiell-rechtlicher Hinsicht sind daher nach den
allgemeinen übergangsrechtlichen Grundsätzen nicht die Normen des ATSG,
sondern jene Bestimmungen, die am 31. Juli 2001 in Kraft standen, massgeblich
(vgl. BGE 130 V 445 mit Hinweisen).

2.
2.1 Gemäss aArt. 16 Abs. 1 UVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Fassung hat die versicherte Person dann Anspruch auf ein Taggeld, wenn sie
infolge eines Unfalles voll oder teilweise arbeitsunfähig ist. Der Anspruch
auf das Taggeld entsteht gemäss Art. 16 Abs. 2 UVG am dritten Tag nach dem
Unfalltag. Er erlischt mit der Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit,
mit dem Beginn einer Rente oder mit dem Tod der versicherten Person. Das
Taggeld beträgt gemäss Art. 17 Abs. 1 UVG 80 Prozent des versicherten
Verdienstes. Bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit wird es entsprechend gekürzt.

2.2 Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist in allen
Sozialversicherungszweigen derselbe (RKUV 1987 Nr. U 27 S. 393 E. 2b
[U 106/86]; vgl. auch BGE 130 V 35 E. 3.1 S. 36). Eine Person gilt als
arbeitsunfähig, wenn sie infolge eines Gesundheitsschadens ihre bisherige
Tätigkeit nicht mehr, nur noch beschränkt oder nur unter der Gefahr, ihren
Gesundheitszustand zu verschlimmern, ausüben kann (BGE 114 V 281 E. 1c S. 283
f.; RKUV 1987 Nr. U 27 S. 393 E. 2b [U 106/86], je mit Hinweisen). Massgebend
ist grundsätzlich die auf Grund ärztlicher Feststellungen ermittelte
tatsächliche Unfähigkeit, am angestammten Arbeitsplatz nutzbringend tätig zu
sein, nicht hingegen die bloss medizinisch-theoretische Schätzung der
Arbeitsunfähigkeit (BGE 114 V 281 E. 1c S. 283 f.; RKUV 1987 Nr. U 27 S. 393
E. 2b [U 106/86], je mit Hinweisen). Der Grad der Arbeitsunfähigkeit ist
indessen nur solange unter Berücksichtigung des bisherigen Berufs
festzusetzen, als von der versicherten Person vernünftigerweise nicht
verlangt werden kann, ihre restliche Arbeitsfähigkeit in einem anderen
Berufszweig zu verwerten. Versicherte, die ihre restliche Arbeitsfähigkeit
nicht verwerten, obgleich sie hiezu unter Berücksichtigung der
Arbeitsmarktlage und gegebenenfalls einer bestimmten Anpassungszeit in der
Lage wären, sind nach der beruflichen Tätigkeit zu beurteilen, die sie bei
gutem Willen ausüben könnten (BGE 115 V 133 E. 2 mit Hinweisen); das Fehlen
des guten Willens ist nur dort entschuldbar, wo es auf einer Krankheit
beruht. Bei langdauernder Arbeitsunfähigkeit im angestammten Beruf hat die
versicherte Person daher andere ihr offenstehende Erwerbsmöglichkeiten
auszuschöpfen, und zwar solange, als man dies unter den gegebenen Umständen
von ihr verlangen kann (BGE 114 V 281 E. 1d S. 283; RKUV 1987 Nr. U 27 S. 393
E. 2b [U 106/86]).

3.
3.1 Zu Recht ist unbestritten, dass die Versicherte zum vorliegend
massgeblichen Zeitpunkt (1. August 2001) in ihrem angestammten Beruf als
Aussendienstmitarbeiterin in der Kosmetikbranche bezogen auf ein 100%-Pensum
unfallbedingt nur zu 50 % arbeitsfähig war. Die Beschwerdeführerin stellt
sich auf den Standpunkt, die Beschwerdegegnerin habe bereits vor ihrem Unfall
vom 25. Oktober 1995 am 28. August 2005 ihr Arbeitspensum von 80 % auf 50 %
reduziert, weshalb sie ihre angestammte Tätigkeit wieder in demselben Umfang,
wie vor dem Unfall ausüben könne und daher keinen Anspruch auf
Taggeldleistungen habe. Die Versicherte bestreitet die Reduktion, diese sei
rein formell erfolgt, sie habe auch nach dem 28. August 2005 und bis zum
Unfall tatsächlich ein höheres Pensum als 50 % geleistet.

3.2 Die Beschwerdegegnerin hat vor dem kantonalen Gericht zu Protokoll
gegeben, sie habe ihr Arbeitspensum vor dem Unfall vom 25. Oktober 1995 von
80 % auf 50 % reduziert. Sie begründete dies damit, dass bei einem
100%-Pensum von der Arbeitgeberin 20 Kundenbesuche pro Woche vorgegeben
waren; dieser Termindruck sei für sie zu gross geworden. Für eine gute
Beratung der Kunden seien anderthalb bis zwei Stunden pro Kundenbesuch nötig.
Gemäss dem Schreiben der Arbeitgeberin der Beschwerdegegnerin vom 28. August
1995 erfolgte die Pensumsreduktion mit Wirkung ab Datum des Schreibens. Die
Versicherte hat zu Protokoll gegeben, dass ein höheres als ein 50%-Pensum
(mithin 10 Kundenbesuche pro Woche) für sie bereits vor dem Unfall nicht mehr
vertretbar gewesen sei. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der konkret
erzielte Umsatz in der Zeit vor dem Unfall, zumal dieser erheblichen
Schwankungen unterworfen war; diesem Umstand ist nach Art. 15 Abs. 2 UVG in
Verbindung mit Art. 23 UVV gegebenenfalls im Rahmen der Bemessung der
Taggelder Rechnung zu tragen, die jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden
Verfahrens ist. Somit ist für die Bemessung der Arbeitsunfähigkeit von einem
50%-Pensum auszugehen.

3.3 Gemäss Gutachten der MEDAS vom 17. Oktober 2001 war die Versicherte im
Zeitpunkt der Exploration (Juli 2001) aus medizinischer Sicht trotz
Unfallrestfolgen uneingeschränkt in der Lage, ihre bisherige Tätigkeit mit
dem vor dem Unfall erfüllten 50%-Pensum ohne Leistungseinbusse auszuüben.
Somit bestand ab diesem Zeitpunkt keine Arbeitsunfähigkeit und damit kein
Anspruch auf ein Taggeld mehr (vgl. auch das Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts U 457/00 vom 2. April 2001).

3.4 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz kann alleine aus dem Umstand, dass
die Versicherte ab August 2001 tatsächlich weniger verdiente, als unmittelbar
vor dem Unfall noch nicht geschlossen werden, dass sie Anspruch auf ein
UV-Taggeld hätte. So zu entscheiden würde bedeuten, den Anspruch auf
Taggelder entgegen dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 UVG nicht vom Ausmass der
unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit abhängig zu machen. Damit ist nicht zu
beanstanden, dass die Allianz mit Verfügung vom 29. März 2005 ihre
Taggeldleistungen rückwirkend per 31. Juli 2001 eingestellt hat (vgl. BGE 133
V 57).

3.5 Ob die hier streitige Verfügung vom 29. März 2005 verspätet erlassen
wurde, kann offen bleiben: Einem verspäteten Verfügungserlass käme allenfalls
unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes Bedeutung zu, wenn es um die
Frage einer Rückerstattung oder einer Verrechnung der zu Unrecht bezogenen
Leistungen ginge (BGE 133 V 57 E. 6.8 S. 65). Dies ist vorliegend nicht der
Fall, wurde doch in der angefochtenen Verfügung nicht über die Frage der
Rückforderung entschieden.

3.6 Ebenfalls nicht Gegenstand der angefochtenen Verfügung bildet ein
allfälliger Rentenanspruch der Beschwerdegegnerin. Sobald von der Fortsetzung
der medizinischen Behandlung keine namhafte Besserung des
Gesundheitszustandes der Versicherten mehr erwartet werden kann (Art. 19
Abs. 1 UVG), wird die Beschwerdeführerin verfügungsweise über einen solchen
zu befinden haben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 12. September 2006 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 16. Januar 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Holzer