Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 565/2006
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U 565/06

Urteil vom 11. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

W. ________, 1974, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

Winterthur Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft, Generaldirektion,
General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur, Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Nidwalden vom 8. Mai 2006.

Sachverhalt:

A.
W. ________, geboren 1974, erlitt am 29. März 2003 als Beifahrerin einen
Verkehrsunfall. Mit Verfügung vom 5. April 2005 und Einspracheentscheid vom
7. Juli 2005 stellte die Winterthur Schweizerische Versicherungsgesellschaft
ihre Leistungen (Heilbehandlung) aus der obligatorischen Unfallversicherung
ab 20. Oktober 2004 ein mit der Begründung, dass die noch geklagten
Beschwerden - insbesondere Rücken- und Kopfschmerzen, Erschöpfungszustände,
psychische Beschwerden - nicht in natürlichem und adäquatem
Kausalzusammenhang mit dem Unfall stünden.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Nidwalden mit Entscheid vom 8. Mai 2006 ab.

C.
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter
Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen zur Einholung eines unfallanalytischen/biomechanischen sowie
eines polydisziplinären medizinischen Gutachtens und es seien ihr die
gesetzlichen Leistungen zuzusprechen (Heilbehandlung und Taggeld, Prüfung der
Rentenfrage und des Anspruchs auf Integritätsentschädigung). Des Weiteren
ersucht sie um unentgeltliche Verbeiständung.

Während die Winterthur auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht
des Unfallversicherers gemäss Art. 6 Abs. 1 UVG vorausgesetzten natürlichen
und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem
eingetretenen Schaden (BGE 129 V 177 E. 3.1 und 3.2 S. 181) sowie zum
Beweiswert von Arztberichten und medizinischen Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3
S. 352 ff., 122 V 157 E. 1c S. 160 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

3.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe beim Autounfall vom 29. März
2003 ein Schleudertrauma sowie zufolge eines Kopfanpralls ein mildes
Schädel-Hirntrauma erlitten. Sie leide heute unter den dafür typischen
Beschwerden, aber auch unter psychischen Unfallfolgen, welche natürlich- und
adäquat-kausal durch jenes Unfallereignis verursacht worden seien.

4.
4.1 Bei medizinischer Diagnose eines Schleudertraumas der Halswirbelsäule oder
einer äquivalenten Verletzung sowie eines Schädel-Hirntraumas und Vorliegen
des für diese Verletzungen typischen Beschwerdebildes mit einer Häufung von
Beschwerden wie diffusen Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations- und
Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rascher Ermüdbarkeit, Visusstörungen,
Reizbarkeit, Affektlabilität, Depression, Wesensveränderung usw. ist ein
natürlicher Kausalzusammenhang mit dem Unfall in der Regel anzunehmen (BGE
117 V 359 E. 4 S. 360 f., 369 E. 3 S. 376 ff.). Voraussetzung für diese
Annahme ist, dass innerhalb von 72 Stunden nach dem Unfall Nacken- bzw.
Beschwerden an der Halswirbelsäule aufgetreten sind (SVR 2007 Nr. 23 S. 75 [U
215/05] E. 5 mit Hinweisen; RKUV 2000 Nr. U 359 S. 29 [U 264/97] E. 5e-g).

4.2 Im Fall der Beschwerdeführerin wurde weder je ein Schleudertrauma oder
ein Schädel-Hirntrauma diagnostiziert, noch sind in den medizinischen Akten
Kopfverletzungen oder Nackenbeschwerden innerhalb des relevanten Zeitraumes
dokumentiert.

Gemäss Befundaufnahme im Spital X.________, wo die Versicherte von der
Polizei eingeliefert wurde, hatte sie sich zufolge Anstossens gegen das
Armaturenbrett eine Kontusion am rechten Knie (indessen gemäss Röntgenbild
keine ossäre Läsion), oberflächliche Schürfwunden am Schienbein in der Grösse
von zwei Handflächen sowie zwei kleine Rissquetschwunden zugezogen. Die
Kreuzbänder waren intakt, es fand sich kein Gelenkerguss; die Hüften waren
beidseits ohne Befund und ohne Hinweis auf eine Acetabulum-Verletzung. Andere
Verletzungen oder Beschwerden sind nicht aufgeführt. Aus dem Arztzeugnis UVG
vom 18. Mai 2003 geht ausdrücklich hervor, dass den Ärzten des Kantonsspitals
bezüglich Allgemeinzustand keine besonderen Wahrnehmungen (Gemütszustand
usw.) aufgefallen sind. Entgegen den Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher nicht mit dem erforderlichen
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt (BGE 126 V 353 E. 5b
S. 360, 130 III 321 E. 3.2 u. 3.3 S. 324 f.), dass sich die
Beschwerdeführerin nicht nur mit dem Bein am Armaturenbrett angestossen,
sondern sich auch den Kopf irgendwo angeschlagen hat, wäre sonst doch
ebenfalls eine entsprechende Wunde beziehungsweise Prellung sichtbar gewesen.
Dies ist im Übrigen auch aus der Aussage der Versicherten und aus den Angaben
im Polizeirapport zu schliessen, wonach in ihrem Unfallfahrzeug beide Airbags
ausgelöst wurden; wie dem Protokoll der vorinstanzlichen Verhandlung zu
entnehmen ist, hat sich die Beschwerdegegnerin beim Fahrzeughersteller über
die Konzeption dieser Airbags erkundigt und war die in der Mitte sitzende
Beschwerdeführerin durch den Airbag auf der Seite des Beifahrersitzes
geschützt. Auch erwähnte die Versicherte nie eine Bewusstlosigkeit. Ebenfalls
nicht dokumentiert wurden anlässlich der Hospitalisation die
Nackenbeschwerden. Nach Lage der medizinischen Akten klagte die
Beschwerdeführerin darüber erstmals am 29. März 2004 in der Sprechstunde bei
Frau Dr. med. Z.________, Innere Medizin FMH, wie aus deren Bericht vom
19. Mai 2005 hervorgeht, somit ein Jahr nach dem Unfall. Die Versicherte gibt
an, sie und auch ihr vormaliger Hausarzt Dr. med. E.________ hätten solche
Beschwerden auf ihre Schwangerschaft zurückgeführt, welche indessen erst zwei
Monate nach dem Unfall eingetreten ist. Im Übrigen werden im Bericht des Dr.
med. E.________ vom 30. Mai 2003 keine Nacken-, sondern Schmerzen im
thorakolumbalen Übergang erwähnt.

Entscheidend ist somit, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit weder ein
Kopfanprall stattgefunden hat oder innert der rechtsprechungsgemäss
relevanten Frist Nackenbeschwerden aufgetreten sind, noch dass
ärztlicherseits je ein Schleuder- oder ein Schädel-Hirntrauma diagnostiziert
wurde. Dass heute ein Beschwerdebild vorliegt, wie es möglicherweise auch
einem solchen Trauma zugeordnet werden könnte, ist unter diesen Umständen
nicht massgebend. Weitere Abklärungen sind nicht erforderlich.

5.
Die Vorinstanz hat des Weiteren die adäquate Kausalität der psychischen
Beschwerden verneint.

5.1 Nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen ist für die
Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs im Einzelfall zu verlangen, dass
dem Unfall für die Entstehung der Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit eine
massgebende Bedeutung zukommt. Dies trifft dann zu, wenn er objektiv eine
gewisse Schwere aufweist oder mit anderen Worten ernsthaft ins Gewicht fällt.
Für die Beurteilung dieser Frage ist an das Unfallereignis anzuknüpfen, wobei
ausgehend vom augenfälligen Geschehensablauf eine Einteilung in banale bzw.
leichte, mittlere und schwere Unfällen vorzunehmen ist (BGE 115 V 133 E. 6
S. 138 ff.).

Die Beschwerdeführerin verlangt in diesem Zusammenhang, es sei ein
biomechanisches Gutachten anzuordnen. Eine unfalltechnische oder
biomechanische Analyse vermag nach der Rechtsprechung allenfalls gewichtige
Anhaltspunkte zur - einzig mit Blick auf die Adäquanzprüfung relevanten -
Schwere des Unfallereignisses zu liefern; sie bildet jedoch in keinem Fall
eine hinreichende Grundlage für die Kausalitätsbeurteilung (RKUV 2003 Nr. U
489 S. 357 [U 193/01] E. 3.2). Mit Blick auf die in vergleichbaren Fällen,
insbesondere Autounfällen, ergangene Rechtsprechung (in BGE 129 V 323 nicht
publizierte Erw. 3.3.2 des Urteils F. vom 25. Februar 2003 [U 161/01] und
dort zitierte Urteile) ist das Ereignis vom 29. März 2003 mit der Vorinstanz
im mittleren Bereich anzusiedeln; den Unfall im Grenzbereich zu den schweren
Unfällen einzuordnen oder ihn sogar als schwer zu qualifizieren, rechtfertigt
sich indessen nicht.

Die Adäquanz des Kausalzusammenhangs wäre daher zu bejahen, wenn ein
einzelnes der für die Beurteilung massgebenden Kriterien in besonders
ausgeprägter Weise erfüllt wäre oder die zu berücksichtigenden Kriterien in
gehäufter oder auffallender Weise gegeben wären. Dabei sind allein die
Schwere, Dauer und ärztliche Behandlung der somatischen, nicht jedoch der
psychisch bedingten Beschwerden einzubeziehen (BGE 115 V 133 E. 6c/bb
S. 140 f.).
5.2 Der Unfall vom 29. März 2003 hat sich nicht unter besonders dramatischen
Begleitumständen ereignet noch war er von besonderer Eindrücklichkeit: Die
Beschwerdeführerin war gemäss Polizeirapport als Beifahrerin in einem
Lieferwagen auf einer Strasse mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von
60 km/h unterwegs, als es zu einer rechtwinkligen, seitlich-frontalen
Kollision mit einem nicht vortrittsberechtigten Fahrzeug kam, welches die
Autobahn verlassen hatte. Dass es sich für die Versicherte dabei nicht um den
ersten Autounfall gehandelt und sie gemäss eigenen Angaben, teilweise auch
dokumentiert im Bericht des ärztlichen Notfalldienstes (Dr. med. I.________)
vom 2. April 2003 sowie im Gutachten des Prof. Dr. med. S.________ vom
26. Oktober 2004, mit Angstzuständen, Hyperventilieren, Albträumen darauf
reagiert hat, ist nicht zu berücksichtigen, da die Beurteilung von einer
objektiven Betrachtungsweise auszugehen hat (RKUV 1999 Nr. U 335 S. 207, U
287/97, E. 3b/cc; vgl. auch RKUV 2000 Nr. U 394 S. 313, U 248/98, E. 4 u. 5).

Die Versicherte hat sich dabei keine schweren Verletzungen oder Verletzungen
besonderer Art zugezogen. Wie ausgeführt (E. 4.2), wurden im Spital
X.________ einzig oberflächliche Verletzungen am Bein festgestellt. Da hier
rechtsprechungsgemäss nur diese somatischen Beschwerden zu berücksichtigen
sind und diese in keiner Hinsicht zu nennenswerten Beeinträchtigungen geführt
haben, sind sämtliche weiteren in Betracht fallenden Kriterien nicht erfüllt.

Die adäquate Kausalität der psychischen Fehlentwicklung ist daher mit
Verwaltung und Vorinstanz zu verneinen, sodass die Beschwerdegegnerin ihre
Leistungspflicht mit Wirkung ab 20. Oktober 2004 zu Recht abgelehnt hat.

6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG; E. 1). Dem Begehren der
Beschwerdeführerin auf unentgeltliche Verbeiständung (Art. 152 Abs. 2 OG)
kann entsprochen werden, weil die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen ist und
die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin geboten war
(BGE 125 V 371 E. 5b S. 372 mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin wird
indessen darauf aufmerksam gemacht, dass sie gemäss Art. 152 Abs. 3 OG der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.
Das Bundesgericht erkennt:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Bruno
Häfliger für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 11. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Durizzo