Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 558/2006
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U 558/06

Urteil vom 21. Dezember 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger,
nebenamtlicher Bundesrichter Brunner,
Gerichtsschreiber Hochuli.

M.________, 1965, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
Hans-Peter Müller, Museumstrasse 35, 9000 St. Gallen,

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft, 8085 Zürich, Beschwerdegegnerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Peter Rösler, Aeplistrasse 7, 9008 St. Gallen.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 20. September 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene M.________ war als Pflegehelferin beim Regionalen Alters-
und Pflegeheim in X.________ angestellt und in dieser Eigenschaft bei der
Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Zürich) gegen die Folgen von
Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 16. Oktober 2000 wurde sie als
Beifahrerin in einem Personenwagen in einen Verkehrsunfall verwickelt. Ab
Unfallstelle wurde sie von der Schweizerischen Rettungsflugwacht ins Spital
F.________ geflogen, wo sie vom 16. bis 23. Oktober 2000 hospitalisiert blieb
und die Diagnose "Verkehrsunfall mit stumpfem Thoraxtrauma und
Sternumquerfraktur" gestellt wurde. Nach Spitalentlassung stand sie bei ihrem
Hausarzt Dr. med. G.________, FMH für Allgemeine Medizin in Behandlung,
welcher andauernde Schmerzen feststellte und am 13. März 2001 eine
Arbeitsunfähigkeit von 100 % ab 16. Oktober 2000 bis 31. Dezember 2000 sowie
eine solche von 50 % vom 1. bis 15. Januar 2001 bescheinigte. Später war die
Versicherte noch einmal vom 21. April bis 8. Mai 2001 vollständig
arbeitsunfähig (Bericht des Dr. med. G.________ vom 4. Januar 2002). Die
Zürich tätigte verschiedene Abklärungen unter anderem auch bei Ärzten und
Therapeuten, bei welchen M.________ bereits vor dem Unfall in Behandlung
stand. Eine Untersuchung im Spital W.________ ergab am 10. Juli 2002 die
Hauptdiagnose eines panvertebralen Schmerzsyndroms myofaszialer Ätiologie
(Bericht des Spitals W.________ vom 11. Juli 2002). Schliesslich holte die
Zürich mit Schreiben vom 15. Januar 2003 bei der Klinik für Rheumatologie und
klinische Immunologie/Allergologie des Spitals B.________ein Gutachten ein,
welches Dr. med. E.________ am 5. April 2004 verfasste und - nach Eingang
einer Stellungnahme des Rechtsvertreters der Versicherten - am 1. September
2004 ergänzte (nachfolgend: Gutachten E.________). Am 1. Dezember 2004
verfügte die Zürich die Einstellung sämtlicher Leistungen per 8. Mai 2001 und
hielt mit Einspracheentscheid vom 4. Juli 2005 daran fest.

B.
M.________ liess Beschwerde führen, welche das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau am 20. September 2006 abwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt M.________ rückwirkend ab 9. Mai
2001 die Ausrichtung der gesetzlichen Leistungen (Taggelder, Invalidenrente,
Integritätsentschädigung) nach Massgabe eines neu anzuordnenden
polydisziplinären Gutachtens. Im Weiteren verlangt sie einen Verzugszins von
5 % auf den nachzuzahlenden Versicherungsleistungen.

Während die Zürich auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 E. 1. 2).

2.
Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht
des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität,
Tod; BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181 mit Hinweisen) sowie zum Dahinfallen der
kausalen Bedeutung von unfallbedingten Ursachen eines Gesundheitsschadens
zutreffend wiedergegeben. Gleiches gilt mit Blick auf die Rechtsprechung zur
vorausgesetzten Adäquanz des Kausalzusammenhanges im Allgemeinen (BGE 129 V
177 E. 3.2 S. 181 mit Hinweis) sowie bei psychischen Unfallfolgen (BGE 129 V
177 E. 4.1 S. 183, 115 V 133 ff). Darauf wird verwiesen.

Beizufügen ist, dass sich bei organisch nachweisbaren Gesundheitsstörungen
die adäquate, das heisst rechtserhebliche Kausalität weitgehend mit der
natürlichen deckt; die Adäquanz hat hier gegenüber dem natürlichen
Kausalzusammenhang praktisch keine selbständige Bedeutung (BGE 118 V 286 E. 3
S. 291 ff.). Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist
entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen
Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der
medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet,
sowie ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 351 E.
3a S. 352).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin aufgrund des
Ereignisses vom 16. Oktober 2000 auch nach dem 8. Mai 2001 Anspruch auf
Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung hat.

3.1 Die Vorinstanz gelangte gestützt auf die Schlussfolgerungen des
Gutachtens E.________ zum Ergebnis, dass die bei der Versicherten über den 8.
Mai 2001 hinaus bestehenden somatischen Beschwerden nicht in einem
natürlichen Kausalzusammenhang zum Unfallereignis vom 16. Oktober 2000
stehen. Dieser Schluss ist nicht zu beanstanden. Das Gutachten E.________
erfüllt die von der Rechtsprechung in Bezug auf die Schlüssigkeit eines
Gutachtens entwickelten Anforderungen. So ist insbesondere nachvollziehbar,
dass die Rückenbeschwerden nicht auf die erlittene Sternumfraktur
zurückgeführt werden können, und auch die Einschätzung, dass die Beschwerden
im Nacken- und Schultergürtelbereich (nur) in einem möglichen Zusammenhang
mit dem Unfall zu sehen sind, ist begründet. Die Beschwerdeführerin räumt
denn auch zu Recht ein, dass der Gutachter das somatische Beschwerdebild
korrekt erhoben und diagnostiziert hat (Verwaltungsgerichtsbeschwerde S. 10).
Es ist deshalb davon auszugehen, dass im Zeitpunkt der Leistungseinstellung
keine unfallbedingten somatischen Beschwerden mehr bestanden, welche
organisch hinreichend erklärbar waren.

3.2 Strittig ist, ob die Versicherte an psychisch bedingten unfallkausalen
Beschwerden leidet. Während diese der Auffassung ist, es beständen
Anhaltspunkte für ein derartiges Leiden, weshalb sie bereits im
verwaltungsinternen und auch im vorinstanzlichen Verfahren eine
psychiatrische Begutachtung beantragt habe, stellt sich die Vorinstanz auf
den Standpunkt, psychische Beschwerden seien nicht festgestellt worden. - Der
Beschwerdeführerin ist insofern Recht zu geben, als psychische Faktoren bei
der Beurteilung des Gesundheitszustandes angesprochen und einbezogen worden
sind. Wenn im Gutachten E.________ von einem psychophysischen
Erschöpfungszustand verbunden mit Antriebslosigkeit, innerem Spannungsgefühl
und Angstgefühlen die Rede ist, wird primär ein psychischer Zustand
beschrieben (Gutachten E.________ S. 11). Eine psychiatrische Begutachtung
könnte deshalb gegebenenfalls tatsächlich eine (zusätzliche) Erklärung für
den gesundheitlichen Zustand der Versicherten liefern. Selbst wenn aber
unfallbedingte psychische Befunde erhoben würden, vermöchten diese eine
Leistungspflicht des Unfallversicherers nur dann zu begründen, wenn auch die
Adäquanz des Kausalzusammenhangs zu bejahen wäre. Weil dies - wie nachfolgend
aufgezeigt (E. 4 hienach) - zu verneinen ist, kann die Frage der natürlichen
Kausalität der psychischen Unfallfolgen offen bleiben.

4.
4.1 Verwaltung und Vorinstanz lehnten zwar bereits den natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und der im Zeitpunkt der
Leistungseinstellung bestehenden Gesundheitsstörung ab, prüften und
verneinten aber jeweils gleichwohl auch die adäquate Kausalität. Zu Recht
wurde bei der Adäquanzprüfung die Rechtsprechung zu den psychogenen
Unfallfolgen (BGE 115 V 133 ff.) und nicht die Adäquanzbeurteilung nach
Distorsion der Halswirbelsäule (BGE 117 V 359 ff.) zur Anwendung gebracht.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin (Verwaltungsgerichtsbeschwerde
S. 13) kommt die Adäquanzprüfung nach HWS-Distorsion (BGE 117 V 359 ff.)
nicht etwa immer dann zur Anwendung, wenn die psychischen mit den somatischen
Beschwerden eng verwoben sind. Die Adäquanzbeurteilung nach BGE 117 V 359
setzt vielmehr nicht nur ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule, eine dem
Schleudertrauma äquivalente Verletzung oder ein Schädel-Hirntrauma voraus,
sondern auch das anschliessende Auftreten des für diese Verletzungen
typischen Beschwerdebildes (BGE 117 V 359 E. 4b S. 360). Diese
Voraussetzungen sind hier nicht gegeben, weshalb die Rechtsprechung zu den
psychogenen Unfallfolgen zur Anwendung gelangt (BGE 127 V 102 E. 5b/bb S.
103), unabhängig davon, ob die psychische Problematik nach dem Unfall
eindeutige Dominanz aufwies oder nicht.

4.2 Der Unfall vom 16. Oktober 2000 ist angesichts des augenfälligen
Geschehensablaufs und der erlittenen Verletzungen zu den mittelschweren
Unfällen (vgl. zur Kasuistik RKUV 2003 Nr. U 481 S. 204 E. 3.3.2 [U 161/01]
mit Hinweisen) zu zählen. Für die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs
sind somit weitere unfallbezogene Kriterien, die nach den Erfahrungen des
Lebens geeignet sind, eine psychische Fehlreaktion auszulösen, erforderlich,
damit dem Unfall die vorausgesetzte massgebende Bedeutung zukommt (BGE 115 V
133 E. 6c/aa S. 140). Die Adäquanz ist hier nur zu bejahen, sofern eines der
einschlägigen Kriterien in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder
mehrere Kriterien in gehäufter oder auffallender Weise zutreffen (BGE
115 V 133 E. 6c/bb S. 141).

4.2.1 Der Unfall vom 16. Oktober 2000 ereignete sich weder unter besonders
dramatischen Begleitumständen noch war er objektiv gesehen (RKUV 1999 Nr. U
335 S. 209 E. 3b/cc, U 287/97; vgl. auch RKUV 2000 Nr. U 394 S. 313 ff., U
248/98) von besonderer Eindrücklichkeit. Dass die Beschwerdeführerin als
Beifahrerin die Frontalkollision kommen sah und auch die beiden
Personenwagenlenker verletzt wurden, genügt nicht zur Annahme einer
besonderen Eindrücklichkeit (Urteil 8C_103/2007 vom 17. August 2007, E. 4.3).
Ob dieses Kriterium zu bejahen ist, hängt von den konkreten Umständen des
einzelnen Unfallereignisses ab. Der vorliegend zur Beurteilung stehende
Unfall ereignete sich bei mittlerer Geschwindigkeit. Die Unfallfahrzeuge
wurden im Frontbereich zwar stark beschädigt und erlitten einen sogenannten
Totalschaden, die Führerkabinen blieben aber weitgehend unversehrt
(Verkehrsunfall-Rapport der Polizei T.________ vom 19. Oktober 2000). Unter
Berücksichtigung dieser Umstände kann hier nicht von einer besonderen
Eindrücklichkeit gesprochen werden (vgl. RKUV 2003 Nr. U 481 S. 205, U
161/01).

4.2.2 Den erlittenen Verletzungen im Thoraxbereich (vgl. Urteil U 497/06 vom
24. August 2007) kommt erfahrungsgemäss keine besondere Eignung zu,
psychische Fehlentwicklungen auszulösen. Von einem schwierigen
Heilungsverlauf mit erheblichen Komplikationen kann ebenso wenig die Rede
sein, wie von einer ärztlichen Fehlbehandlung oder von einer ungewöhnlich
langen Dauer der ärztlichen Pflege, beschränkte sich doch die Behandlung der
somatischen Unfallfolgen bereits fünf Monate nach dem Unfall auf die
Verabreichung von Schmerzmedikamenten (Bericht des Dr. med. G.________ vom
13. März 2001).

4.2.3 Das Kriterium der unfallbedingten körperlichen Dauerschmerzen ist
zumindest nicht in besonders ausgeprägter Weise erfüllt. Nach dem Unfall war
die Beschwerdeführerin während zweieinhalb Monaten zu 100 % und anschliessend
während eines halben Monats zu 50 % arbeitsunfähig; später trat vom 21. April
bis zum 8. Mai 2001 eine zweite, relativ kurze Phase von Arbeitunfähigkeit
ein (Bericht des Dr. med. G.________ vom 4. Januar 2002). Grad und Dauer der
somatisch bedingten Arbeitsunfähigkeit kann demnach praxisgemäss (vgl. hiezu
RKUV 2001 Nr. U 442 S. 544 ff., U 56/00) nicht als erfüllt gelten.

4.2.4 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass weder ein einziges Kriterium
in besonders ausgeprägter Weise gegeben ist noch die massgebenden Kriterien
in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sind. Der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Unfall vom 16. Oktober 2000 und
den ab 8. Mai 2001 weiterbestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist
daher zu verneinen.

5.
Lagen im Zeitpunkt der Leistungseinstellung keine unfallbedingten organisch
(hinreichend) erklärbaren Beschwerden mehr vor (E. 3.1 i.f.) und hat die
Zürich die Adäquanz des Kausalzusammenhanges der darüber hinaus geklagten
gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit dem Unfall vom 16. Oktober 2000 zu
Recht verneint (E. 4.2.4), ist die von der Verwaltung auf den 8. Mai 2001
verfügte und mit angefochtenem Entscheid bestätigte Einstellung sämtlicher
Versicherungsleistungen nicht zu beanstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. Dezember 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Hochuli