Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 549/2006
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U 549/06

Urteil vom 8. Juni 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

J. ________, 1960, Beschwerdeführerin,

gegen

Vaudoise Allgemeine Versicherungsgesell-schaft, 1001 Lausanne,
Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 1. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1960 geborene J.________ war in einem von der Firma Automatenservice
W.________ betriebenen Spielsalon als Aufseherin beschäftigt und dadurch bei
der Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Vaudoise)
obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 9. Oktober 1994 wurde sie an ihrem
Arbeitsplatz überfallen, wobei der Täter sie unter Vortäuschung eines
Waffenbesitzes zur Herausgabe des Bargeldes zwang. Gleichentags zeigte er
sich selbst bei der Polizei an. Eine Meldung des Vorfalls bei der Vaudoise
erfolgte zunächst nicht. Gemäss Bericht vom 15. Februar 1999 der
Psychotherapeutin L.________ nahm J.________ auf Anraten der Opferhilfestelle
gut vier Jahre nach dem Geschehen erstmals mit ihr Kontakt auf, da sie unter
den Folgen des Raubüberfalles leide. Danach war sie wiederholt bei
verschiedenen Ärzten für kurze Zeit in psychiatrischer Behandlung (med.
prakt. H.________, externer psychiatrischer Dienst des Kantons X.________
[EPD]; Dr. med. E.________, Psychiater FMH; Dr. med. A.________, EPD; Dr.
med. M.________, Facharzt allgemeine Medizin, Dr. med. S.________, EPD; med.
prakt. O.________, Fachärztin für Psychiatrie FMH). Es wurden dabei unter
anderem eine Angststörung und eine posttraumatische Belastungsstörung
diagnostiziert. Mit Schreiben vom 17. Dezember 2004, mehr als zehn Jahre nach
dem Ereignis, wandte sich die Versicherte an die Vaudoise und ersuchte um
Versicherungsleistungen. Diese liess J.________ durch Dr. med. T.________,
Facharzt für Psychiatrie, begutachten. Nach Einsicht in die Expertise vom
4. Oktober 2005 teilte die Vaudoise der Versicherten mit, mangels natürlichem
Kausalzusammenhang der festgestellten unspezifischen psychischen Beschwerden
und dem Überfall vom 9. Oktober 1994 bestehe kein Anspruch auf Leistungen der
Unfallversicherung (Verfügung vom 2. November 2005). Daran hielt sie auch auf
Einsprache hin fest (Entscheid vom 18. Januar 2006).

B.
Hiegegen liess J.________ Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons
Aargau einreichen, welches diese mit Entscheid vom 1. November 2006 abwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt J.________ sinngemäss den Antrag, in
Aufhebung des kantonalen Entscheides seien ihr Versicherungsleistungen nach
UVG zu gewähren.

Die Vaudoise schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme.

D.
Mit einer weiteren Eingabe vom 11. Mai 2007 stellt J.________ sinngemäss den
Antrag, es sei vor dem Bundesgericht eine Verhandlung durchzuführen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Dem mit Eingabe vom 11. Mai 2007 nach Ablauf der Frist zur Einreichung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellte sinngemässe Antrag auf Durchführung
einer öffentlichen Verhandlung (mit Parteibefragung) ist nicht stattzugeben.
Da der Antrag erstmals im letztinstanzlichen Verfahren gestellt wurde, ist er
nach der mit Bezug auf den Sozialversicherungsprozess zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK
und Art. 30 Abs. 3 BV ergangenen Rechtsprechung grundsätzlich verspätet und
der - primär im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren zu gewährleistende -
Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung damit verwirkt (BGE
125 V 38 2, 122 V 55 f. Erw. 3a und 3b/bb mit Hinweisen; SVR 2006 IV Nr. 1 S.
4 Erw. 3.7.1 [I 573/03]; RKUV 2004 Nr. U 497 S. 155 Erw. 1.2 [U 273/02]);
gewichtige öffentliche Interessen, die eine öffentliche Verhandlung gebieten
würden (122 V 55 Erw. 3a; SVR 2006 IV Nr. 1 S. 3 Erw. 3.4), sind keine
ersichtlich. Wie sich im Übrigen aus den verfügbaren Akten mit hinreichender
Zuverlässigkeit ergibt, vermöchte die Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung nichts an der Unbegründetheit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
zu ändern (vgl. BGE 122 V 57 Erw. 3b/dd), sodass es bei der - üblichen (Art.
110 in Verbindung mit Art. 132 OG) - Schriftlichkeit des Verfahrens bleiben
kann.

3.
3.1 Nach Art. 6 Abs. 1 UVG werden die Leistungen der Unfallversicherung bei
Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten gewährt, soweit das
Gesetz nichts anderes bestimmt. Als Unfall gilt laut Art. 9 Abs. 1 UVV die
plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen
äusseren Faktors auf den menschlichen Körper. Rechtsprechung und Lehre haben
schreckbedingte plötzliche Einflüsse auf die Psyche seit jeher als Einwirkung
auf den menschlichen Körper (im Sinne des geltenden Unfallbegriffes)
anerkannt und für ihre unfallversicherungsrechtliche Behandlung besondere
Regeln entwickelt. Danach setzt die Annahme eines Unfalles voraus, dass es
sich um ein aussergewöhnliches Schreckereignis, verbunden mit einem
entsprechenden psychischen Schock, handelt; die seelische Einwirkung muss
durch einen gewaltsamen, in der unmittelbaren Gegenwart des Versicherten sich
abspielenden Vorfall ausgelöst werden und in ihrer überraschenden Heftigkeit
geeignet sein, auch bei einem gesunden Menschen durch Störung des seelischen
Gleichgewichts typische Angst- und Schreckwirkungen (wie Lähmungen,
Herzschlag etc.) hervorzurufen (Urteil R. vom 4. August 2005, Erw. 2.2; U
2/05). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat diese Rechtsprechung
wiederholt bestätigt und dahingehend präzisiert, dass auch bei
Schreckereignissen nicht nur die Reaktion eines (psychisch) gesunden Menschen
als Vergleichsgrösse dienen kann, sondern in diesem Zusammenhang ebenfalls
auf eine "weite Bandbreite" von Versicherten abzustellen ist. Zugleich hat es
dabei relativierend, unter Bezugnahme auf den massgeblichen Unfallbegriff
(BGE 118 V 61 Erw. 2b und 283 Erw. 2a; ferner BGE 122 V 232 Erw. 1 mit
Hinweisen), betont, dass sich das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit
definitionsgemäss nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf
diesen selber bezieht, weshalb nicht von Belang sein könne, wenn der äussere
Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen nach sich zog (RKUV 2000
Nr. U 365 S. 89 mit Hinweisen).

3.2 Am 9. Oktober 1994 forderte ein unbekannter Kunde des Spielsalons die
Beschwerdeführerin auf, keinen Laut von sich zu geben und alles Geld aus dem
Tresor in eine Plastiktüte zu füllen. Dabei hatte er seine Hand in der
rechten Jackentasche und zeigte mit etwas Spitzem auf die Versicherte. Sie
war der Meinung, es habe sich dabei um eine Schusswaffe gehandelt. In
Wirklichkeit zeigte der Täter mit dem blossen Finger in der Tasche auf die
Beschwerdeführerin. Zu einer Körperverletzung kam es dabei nicht. Auch
Drittpersonen wurden nicht beeinträchtigt. Nach dem Vorfall ersuchte die
Beschwerdeführerin nicht um ärztliche Hilfe. Dies obwohl sie von der
Opferhilfe-Organisation "Weisser Ring" betreut wurde. Es stellt sich daher
vorab die Frage, ob von einem Unfall im Rechtssinne auszugehen ist. Die
Vaudoise und die Vorinstanz sind stillschweigend davon ausgegangen, haben
aber die Kausalität der erst Jahre später geltend gemachten psychischen
Beschwerden mit dem Ereignis verneint. Die Mehrzahl der involvierten Ärzte
gehen davon aus, dass die psychischen Beschwerden vom Schreckereignis vom 9.
Oktober 1994 ausgelöst wurden. Sie begründen diese Schlussfolgerung hingegen
nicht. Im Gegensatz dazu ist der von der Unfallversicherung mit der
Begutachtung betraute Dr. med. T.________ der Überzeugung, die von ihm
gestellte Diagnose einer generalisierten Angststörung (ICD-10 F41.1) mit
Panikattacken sei nur möglicherweise, aber nicht überwiegend wahrscheinlich
auf den Überfall zurückzuführen. Es kann offenbleiben, ob das Geschehen vom
9. Oktober 1994 als Unfall zu qualifizieren und aus medizinischer Sicht von
einem Kausalzusammenhang auszugehen ist, da es, wie im Folgenden gezeigt
wird, an der ebenfalls vorausgesetzten Adäquanz fehlt.

4.
4.1 Die Adäquanz zwischen einem Schreckereignis ohne körperliche Verletzungen
und den nachfolgend aufgetretenen psychischen Störungen ist nach der
allgemeinen Formel (gewöhnlicher Lauf der Dinge und allgemeine
Lebenserfahrung) zu beurteilen. Diese Rechtsprechung trägt der Tatsache
Rechnung, dass bei Schreckereignissen - anders als im Rahmen üblicher Unfälle
- die psychische Stresssituation im Vordergrund steht, wogegen dem
somatischen Geschehen keine (entscheidende) Bedeutung beigemessen werden
kann. Aus diesem Grund ist die (analoge) Anwendung der in BGE 115 V 133
entwickelten Adäquanzkriterien ebenso ungeeignet wie diejenige der so
genannten Schleudertraumapraxis (BGE 117 V 359; vgl. BGE 129 V 184 Erw. 4.2).
4.2 An den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen psychischen Beschwerden und
so genannten Schreckereignissen werden hohe Anforderungen gestellt. So
verneinte das Eidgenössische Versicherungsgericht (allerdings in Anwendung
der Adäquanzkriterien von BGE 115 V 139) im Fall einer Versicherten, die auf
offener Strasse von einem Unbekannten angegriffen, zu Boden gedrückt und in
Tötungsabsicht gewürgt worden war (wobei sie auch körperliche
Beeinträchtigungen - Schrammen am Hals und Schmerzen in der Lendengegend -
erlitt; RKUV 1996 Nr. U 256 S. 215) die Adäquanz ebenso wie im Fall einer
Frau bei einem nächtlichen Angriff eines alkoholisierten Mannes mit
Beschimpfungen und Würgen (Urteil B. vom 14. April 2005, U 390/04) und bei
einem Mann, der in Zusammenhang mit seinem Geschäft von einem unbekannten
Begleiter eines Kunden mit dem Messer bedroht und erpresst worden war (jedoch
keine somatischen Verletzungen davontrug; Urteil C. vom 19. März 2003, U
15/00) und im Fall einer Spielsalonaufsicht, die nach Geschäftsschluss
überraschend von einem Vermummten mit der Pistole bedroht und (ohne dass sie
körperlich angegriffen worden wäre) zur Geldherausgabe gezwungen worden war
(BGE 129 V 177). Nach der Rechtsprechung besteht die übliche und
einigermassen typische Reaktion auf solche Ereignisse erfahrungsgemäss darin,
dass zwar eine Traumatisierung stattfindet, diese aber vom Opfer in aller
Regel innert einiger Wochen oder Monate überwunden wird. Diese Überlegungen
haben auch im vorliegenden Fall zu gelten. Zwar ist dem durch Vortäuschung
eines Waffenbesitzes durchgeführten Raub von Barmitteln in einem Spielsalon
eine gewisse Eindrücklichkeit nicht abzusprechen. Doch ist dieser nach der
allgemeinen Lebenserfahrung nicht geeignet, langjährige Angst- und depressive
Zustände auszulösen. Die Vaudoise und das kantonale Gericht haben daher zu
Recht die Leistungspflicht für den Vorfall vom 9. Oktober 1994 verneint.

4.3 Soweit die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf ihre anhaltend schlechte
psychische Verfassung eine zusätzliche (psychiatrische) Begutachtung
beantragt, kann ihr nicht gefolgt werden. Nach dem Gesagten ist für die
Beurteilung der Leistungspflicht der Unfallversicherung nicht der aktuelle
Gesundheitszustand massgeblich, sondern die Frage, ob das Ereignis geeignet
war, einen dauernden, erheblichen Schaden mit anhaltender Erwerbsunfähigkeit
zu verursachen. Von weiteren (medizinischen) Abklärungen sind jedoch
bezüglich des Ausmasses des Schreckereignisses keine neuen Erkenntnisse zu
erwarten, weshalb darauf zu verzichten ist (antizipierte Beweiswürdigung; SVR
2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b mit Hinweisen auf BGE 124 V 94 Erw. 4b und 122 V
162 Erw. 1d).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 8. Juni 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: