Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 517/2006
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U 517/06

Urteil vom 9. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

K. ________, 1961, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
Dieter Kehl, Poststrasse 22, 9410 Heiden,

gegen

Winterthur Versicherungen, General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Guy Reich,
Münchhaldenstrasse 24, 8008 Zürich.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts von
Appenzell Ausserrhoden vom 31. Mai 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1961 geborene K.________ arbeitete als Büroangestellte in einem
50%-Pensum bei der Firma U.________ AG in X.________ und war bei den
Winterthur Versicherungen (nachfolgend: Winterthur) für die Folgen von
Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 10. März 2003 wurde sie als
Beifahrerin auf dem Hintersitz in einen Verkehrsunfall verwickelt, als ein
vortrittsbelasteter Mofafahrer in die rechte Seite des Autos prallte und
dessen Fahrer eine Vollbremsung einleitete. K.________ begab sich nach dem
Unfall selbstständig zum nächsten Arzt. Dieser diagnostizierte eine leichte
Dolenz der Dornfortsätze der HWS und der BWS ohne sensomotorische Ausfälle,
aber mit einer vegetativen Reaktion in Form von kalter Haut am rechten
Vorderarm. Dr. med. R.________ stellte die Diagnose eines
Beschleunigungstraumas der HWS mit vegetativer passagerer Reaktion des
rechten Vorderarmes und vorordnete neben Schmerzmitteln einen Schanz'schen
Kragen. Aufgrund der röntgenologischen Untersuchungen konnten ossäre Läsionen
ausgeschlossen werden. Die Winterthur richtete Taggelder aus und kam für die
Heilbehandlung auf. In der Folge berichtete der Hausarzt der Versicherten
über zunehmende neuropsychologische Störungen wie Konzentrationsstörungen,
Vergesslichkeit, Gedankenabrisse und weiteres. Vom 14. Oktober bis 6.
November 2003 weilte die Versicherte in der Rehaklinik Y.________. Dort
stellte man die Diagnosen eines Status nach Verkehrsunfall (Seitkollision)
bei HWS-Distorsion mit persistierenden Zervikozephalgien rechts,
persistierenden Kribbelparästhesien am rechten Arm, vegetativer Dysregulation
in Form von schlechtem Schlaf, verstärkter Müdigkeit und schlechter
Darmmotilität und leichten neuropsychologischen Funktionsstörungen. Die
Winterthur erstellte ein unfallanalytisches Gutachten (datiert vom 16. Januar
2004) und liess beim Vorstand des Institutes für gerichtliche Medizin in
Graz, Prof. Dr. Leinzinger, ein fachorthopädisches Gutachten erstellten.
Dieser kam auf Grund der Akten, insbesondere der erwähnten Unfallanalyse der
Winterthur zur Überzeugung, aus verkehrsmedizinischer Sicht sei eine
Verletzungsmöglichkeit auszuschliessen, weshalb die Beschwerden der
Versicherten nur psychosomatischer Natur sein könnten. Die Winterthur gab in
der Folge eine polydisziplinäre Begutachtung bei der MEDAS St. Gallen in
Auftrag, stornierte diesen aber unter anderem nach Intervention des Anwalts
der Versicherten in Bezug auf die Gutachterfragen und Zweifel über die
zeitliche Verfügbarkeit des Begutachtungsinstitutes wieder. Nach Konsultation
verschiedener Vertrauensärzte teilte die Unfallversicherung der K.________ in
ihrer Verfügung vom 12. Juli 2004 mit, sie erbringe ab 1. Juni 2004 keine
Leistungen mehr, da es bei den fortdauernden Beschwerden sowohl am
natürlichen, als auch am adäquaten Kausalzusammenhang mit dem versicherten
Ereignis fehle. Daran hielt die Winterthur auch auf Einsprache hin, in
welcher insbesondere auch das Einholen eines interdisziplinären Gutachtens
gefordert wurde, mit Entscheid vom 1. März 2005 fest.

B.
Die Beschwerde, mit welcher K.________ die Weiterausrichtung von
Versicherungsleistungen auf Grund einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit
beantragen liess, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Appenzell
Ausserrhoden mit Entscheid vom 31. Mai 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K.________ beantragen, in Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids sei die Winterthur zu verpflichten, die
gesetzlich geschuldeten Leistungen rückwirkend und weiterhin zu erbringen;
eventuell sei die Streitsache an die Vorinstanz oder die Unfallversicherung
zurückzuweisen

Die Winterthur schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Mit diesem
Gesetz ist die bisherige organisatorische Selbstständigkeit des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts aufgehoben und dieses mit dem
Bundesgericht fusioniert worden (Seiler in: Seiler/von Werdt/Güngerich,
Kommentar zum BGG, Art. 1 N 4 und Art. 132 N 15). Das vorliegende Urteil wird
daher durch das Bundesgericht gefällt. Weil der angefochtene Entscheid jedoch
vor dem 1. Januar 2007 ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach dem
bis zum 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz vom 16. Dezember
1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; Art. 131 Abs. 1 und
132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Im kantonalen Entscheid werden die nach der Rechtsprechung für den Anspruch
auf Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 6 Abs. 1 UVG)
geltenden Voraussetzungen des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs
zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (BGE 129 V 177 E.
3.1 und 3.2 S. 181), insbesondere bei Schleudertraumen oder
schleudertraumaähnlichen Verletzungen der HWS (BGE 117 V 359; RKUV 2000 Nr. U
395 S. 316, U 160/98; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67, U 183/93), zutreffend
dargelegt. Entsprechendes gilt für die von der Judikatur entwickelten
allgemeinen Grundsätze zur freien Beweiswürdigung und zum Beweiswert eines
Arztberichtes (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352).

Anzumerken bleibt, dass wenn die Unfallkausalität einmal mit der
erforderlichen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist, die deswegen anerkannte
Leistungspflicht des Unfallversicherers erst entfällt, wenn der Unfall nicht
die natürliche und adäquate Ursache des Gesundheitsschadens darstellt, wenn
also Letzterer nur noch und ausschliesslich auf unfallfremden Ursachen
beruht. Ebenso wie der leistungsbegründende natürliche Kausalzusammenhang
muss das Dahinfallen jeder kausalen Bedeutung von unfallbedingten Ursachen
eines Gesundheitsschadens mit dem im Sozialversicherungsrecht allgemein
üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein.
Die blosse Möglichkeit nunmehr gänzlich fehlender ursächlicher Auswirkungen
des Unfalls genügt nicht. Da es sich hierbei um eine anspruchsaufhebende
Tatfrage handelt, liegt die entsprechende Beweislast - anders als bei der
Frage, ob ein leistungsbegründender natürlicher Kausalzusammenhang gegeben
ist - nicht beim Versicherten, sondern beim Unfallversicherer. Diese
Beweisgrundsätze gelten sowohl im Grundfall als auch bei Rückfällen und
Spätfolgen (RKUV 1994 Nr. U 206 S. 328 E. 3b mit Hinweisen) und sind für
sämtliche Leistungsarten massgebend. Der Unfallversicherer hat nicht den
Beweis für unfallfremde Ursachen zu erbringen. Welche Ursachen ein nach wie
vor geklagtes Leiden hat, ist an sich unerheblich. Entscheidend ist allein,
ob die unfallbedingten Ursachen eines Gesundheitsschadens ihre kausale
Bedeutung verloren haben, also dahingefallen sind (Urteil S. vom 7. Juni 2006
E. 2.2, U 414/05, mit Hinweisen).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die im Zeitpunkt der Leistungseinstellung
durch die Winterthur (31. Mai 2004) noch geklagten Beschwerden als Folgen des
Unfalls vom 10. Mai 2003 zu betrachten sind und - in diesem Zusammenhang - ob
der massgebliche Sachverhalt hinreichend abgeklärt ist.

3.1 Auf Grund der medizinischen Akten, welche über den Sachverhalt im
Anschluss des Ereignisses erstellt wurden, steht fest, dass die
Beschwerdeführerin am 10. Mai 2003 ein Beschleunigungstrauma der HWS erlitten
hat. Daran kann auch eine nachträgliche Beurteilung auf der Basis rein
theoretischer technischer Analysen nichts ändern. Innerhalb der von der
Rechtsprechung anerkannten Latenzzeiten trat das für diese Verletzung
typische Beschwerdebild mit einer Häufung von Beschwerden auf
(Nackenschmerzen mit Ausstrahlung in den rechten Arm und die Hand, mit
Kribbeln im rechten Arm und Kältegefühl eine Stunde nach dem Ereignis
[Bericht Dr. med. R.________ vom 8. Juli 2003]; Konzentrationsstörungen,
Vergesslichkeit, Gedankenabrissen, cervicospondylogenen Ausstrahlungen
[Berichte des Dr. med. G.________, vom 4. Juni und 9. September 2003] ; BGE
117 V 360 E. 4b; RKUV 2000 Nr. U 359 S. 29; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 E. 2;
Urteil W. vom 1. März 2006 E. 6.1, U 153/05). Die gleiche Diagnose wurde auch
an der Rehaklinik Y.________ gestellt (Bericht Prof. Dr. med. E.________ vom
31. Dezember 2003), wo persistierende Zervikozephalgien rechts,
persistierende Kribbelparästhesien am rechten Arm und vegetative
Dysregulation mit schlechtem Schlaf, verstärkter Müdigkeit und schlechter
Darmmotilität festgestellt wurden.

3.2 Die Unfallversicherung begründet die Ablehnung ihrer Leistungspflicht ab
1. Juni 2004 unter anderem mit einem erheblichen medizinischen Vorzustand und
schwierigen psychosozialen Verhältnissen. Dies wird mit Aktenberichten ihrer
Vertrauensärzte untermauert. Darin wird ausgeführt, dass eine
neuropsychologische Beurteilung schon wenige Wochen nach dem Unfallereignis
stattgefunden habe, was darauf hindeute, dass entsprechende Beschwerden schon
vor dem Unfall bestanden hätten. Ohne mit der Beschwerdeführerin in irgend
einem Kontakt gestanden zu haben und ohne dass ein psychiatrischer Bericht
oder sogar ein Gutachten bei den Akten liegt, kommt der die Winterthur
beratende Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. med. S.________,
zur Erkenntnis, die Versicherte leide unter einer Befindlichkeitsstörung,
welche nicht durch den Unfallmechanismus, sondern durch eine Ehescheidung,
ihre Persönlichkeit und erhebliche materielle Sorgen begründet seien. Das
überzeugt nicht. Die medizinischen Akten, auf welche sich die Winterthur
beruft, beruhen alle auf rein theoretischen Annahmen und damit weder auf
persönlichen Untersuchungen und/oder Gesprächen, noch auf Erkenntnissen, die
sich auf entsprechende Arztberichte stützen könnten. Die Sache ist daher an
die Unfallversicherung zurückzuweisen, damit sie den Gesundheitszustand der
Beschwerdeführerin polydisziplinär (Neurologie, Rheumatologie und
Psychiatrie) abklären lässt und dabei insbesondere auch der Frage, nach dem
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen den beim Unfall erlittenen
Schädigungen und den gestellten Diagnosen nachgeht.

4.
Nach dem Gesagten ist der medizinische Sachverhalt nicht hinreichend
abgeklärt und es bestehen keine rechtsgenüglichen Unterlagen, die der
Beschwerdegegnerin erlauben würden, die natürliche Kausalität zwischen dem
Unfall vom 10. Mai 2003 und den über den 31. Mai 2004 hinaus anhaltenden
Beschwerden zu verneinen. Da auf Grund des aktuellen Erkenntnisstandes auch
nicht gesagt werden kann, ob allfällige psychische Beschwerden die Folgen der
HWS-Distorsion ganz in den Hintergrund gedrängt haben, kann zudem nicht
entschieden werden, ob - bei Bejahung eines natürlichen Kausalzusammenhanges
- die Adäquanz auf Grund der Rechtsprechung für psychische Unfallfolgen (BGE
115 V 133) oder jener bei Schleudertraumen oder schleudertraumaähnlichen
Verletzungen der HWS (BGE 117 V 359) zu beurteilen sein wird. Auch darüber
wird die Unfallversicherung nach Durchführung eines polydisziplinären
Gutachtens neu zu entscheiden haben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
als der Entscheid des Verwaltungsgerichts von Appenzell Ausserrhoden vom
31. Mai 2006 und der Einspracheentscheid der Winterthur Versicherungen vom
1. März 2005 aufgehoben werden. Es wird die Sache an die Winterthur
Versicherungen zurückgewiesen, damit sie den Sachverhalt im Sinne der
Erwägungen abkläre und über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
Versicherungsleistungen neu verfüge. Im Übrigen wird die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht von Appenzell
Ausserrhoden und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 9. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: