Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 478/2006
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{T 7}
U 478/06

Urteil vom 25. April 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiber Lanz.

T. ________, 1961, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Advokat Nikolaus Tamm,
Spalenberg 20, 4051 Basel

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Solothurn
vom 29. August 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 15. März 2005 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) der 1961 geborenen T.________ für die
Folgen eines am 20. Juli 2003 erlittenen Unfalles mit Wirkung ab 1. Januar
2005 eine Invalidenrente entsprechend einer Erwerbsunfähigkeit von 10 % sowie
eine Integritätsentschädigung auf der Grundlage einer Integritätseinbusse von
5 % zu. Daran hielt der Versicherer mit Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005
fest.

B.
Die von T.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn ab, wobei es im Sinne einer Schlechterstellung der
Versicherten die Verfügung vom 15. März 2005 und den Einspracheentscheid vom
31. Mai 2005 aufhob, da mangels relevanter Unfallfolgeschäden kein Anspruch
auf Versicherungsleistungen bestehe (Entscheid vom 29. August 2006).

C.
T.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der Entscheid vom 29. August 2006 sei aufzuheben und es seien ihr "die
gesetzlichen Leistungen (Rente, Integritätsentschädigung" zuzusprechen;
eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen und zum neuen Entscheid an
die Vorinstanz zurückzuweisen; subeventuell sei der kantonale Entscheid,
soweit auf eine Schlechterstellung lautend, aufzuheben und seien die
Verfügung vom 15. März 2005 und der Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005 zu
bestätigen.
Die Vorinstanz beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei in Bezug auf
das Subeventualbegehren gutzuheissen und im Übrigen abzuweisen. Die SUVA
enthält sich einer Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
äussert sich einzig zum Gutheissungsantrag des kantonalen Gerichts. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Der
angefochtene Entscheid ist indessen vorher ergangen, weshalb sich das
Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG) richtet (Art. 132 Abs. 1 BGG;
BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird unter anderem beanstandet, die
Vorinstanz habe eine reformatio in peius - eine Schlechterstellung der
Beschwerdeführerin - vorgenommen, ohne eine solche formell angekündigt zu
haben. Diese Rüge ist, auch wenn nur zur Begründung des Subeventualantrages
vorgebracht, vorab zu behandeln, da ihre Begründetheit zur Aufhebung des
angefochtenen Entscheids aus formellen Gründen führen müsste (BGE 122 V 166
E. 3 S. 168; RKUV 2004 Nr. U 520 S. 442, E. 1, U 202/03; Urteil I 868/05 vom
11. August 2006, E. 1).

3.
3.1 Gemäss Art. 61 Ingress ATSG bestimmt sich das Verfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht unter Vorbehalt von Art. 1 Abs. 3 VwVG nach kantonalem
Recht. Das Verfahren hat dabei den in Art. 61 lit. a-i ATSG umschriebenen
Anforderungen zu genügen. Art. 61 lit. d ATSG sieht vor, dass das
Versicherungsgericht an die Begehren der Parteien nicht gebunden ist. Es kann
eine Verfügung oder einen Einspracheentscheid zu Ungunsten der Beschwerde
führenden Person ändern oder dieser mehr zusprechen, als sie verlangt hat,
wobei den Parteien vorher Gelegenheit zur Stellungnahme sowie zum Rückzug der
Beschwerde zu geben ist.

3.2 Art. 61 lit. d ATSG nimmt einmal den Gehalt des - mit Inkrafttreten des
ATSG aufgehobenen - Art. 85 Abs. 2 lit. d AHVG auf, wonach die kantonale
Rekursbehörde den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss, wenn sie
eine Verfügung zu Ungunsten des Beschwerdeführers abzuändern oder diesem mehr
als verlangt zuzusprechen gedenkt. Zusätzlich kodifiziert Art. 61 lit. d ATSG
die Rechtsprechung (BGE 122 V 166 E. 2a und b S. 167 f. mit Hinweisen),
wonach im Rahmen der Anhörung vor einer beabsichtigten reformatio in peius
die Partei, welche eine Verschlechterung ihrer Rechtslage gewärtigen muss,
ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass sie ihr Rechtsmittel zurückziehen
kann (RKUV 2004 Nr. U 520 S. 442, E. 4, U 202/03 Erw. 4; Urteil I 868/05 vom
11. August 2006, E. 2.2 mit Hinweis, Urteil C 259/03 vom 13. Februar 2004,
E. 2 mit Hinweisen, zusammengefasst in ZBJV 2004 S. 752).

4.
4.1 Nachdem die Versicherte gegen die Festsetzung von Invalidenrente und
Integritätsentschädigung beim kantonalen Gericht Beschwerde erhoben hatte,
beantragte die SUVA vernehmlassungsweise, der Einspracheentscheid vom 31. Mai
2005 sei mit der Feststellung aufzuheben, dass sie der Beschwerdeführerin
weder eine Invalidenrente noch eine Integritätsentschädigung schulde. Mit
Verfügung vom 1. Dezember 2005 gab die Vorinstanz der Versicherten die
Gelegenheit, sich zur Stellungnahme der SUVA zu äussern. Davon wurde mit
Eingabe vom 13. Januar 2006 Gebrauch gemacht. Mit Schreiben vom 13. Juni 2006
räumte das kantonale Gericht der Beschwerdeführerin nochmals die Gelegenheit
ein, sich zur Stellungnahme der SUVA zu äussern. Es führte weiter aus, falls
die Versicherte mit den darin enthaltenen Ausführungen einverstanden sei,
bestehe die Möglichkeit, die Beschwerde mittels einer beiliegenden Erklärung
zurückzuziehen. In diesem Fall könnte das Verfahren abgeschrieben werden mit
der Folge, dass der angefochtene Einspracheentscheid bestehen bleibe. Nachdem
die Beschwerdeführerin keine solche Erklärung abgegeben hatte, entschied das
kantonale Gericht in der Sache, indem es in Aufhebung des
Einspracheentscheides auf eine Schlechterstellung der Versicherten befand.

4.2 Nach der Rechtsprechung vermag eine Beschwerde führende versicherte
Person allein aufgrund dessen, dass die Gegenpartei in der Beschwerdeantwort
eine reformatio in peius beantragt und ihr das Gericht eine Frist zur
Einreichung einer Stellungnahme ansetzt, nicht abzuschätzen, ob dieses
tatsächlich erwäge, ihre Rechtsstellung in Übereinstimmung mit dem
beschwerdegegnerischen Rechtsbegehren zu ihren Ungunsten zu ändern. Es kann
von der versicherten Person nicht verlangt werden, den Entscheid über einen
Rückzug des Rechtsmittels rein vorsorglich treffen zu müssen, ohne zu wissen,
ob das Gericht selbst eine reformatio in peius für möglich erachtet, und so
Gefahr zu laufen, eine Beschwerde zurückzuziehen, die - wenn sie daran
festhielte - gutgeheissen würde. Bei Vorliegen eines Antrags der Gegenpartei
auf Vornahme einer reformatio in peius darf sich ein Gericht nach dieser
Praxis nicht damit begnügen, die versicherte Person zur Stellungnahme zu den
Argumenten des Versicherungsträgers aufzufordern, sondern ist verpflichtet,
diese ausdrücklich auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass es selber eine
Schlechterstellung in Erwägung ziehe, und ihr Gelegenheit zu geben, darauf zu
reagieren. Dies gilt unabhängig davon, ob die Beschwerde führende versicherte
Person anwaltlich vertreten ist oder nicht (RKUV 2004 Nr. U 520 S. 442,
E. 3.2, U 202/03; Urteil I 868/05 vom 11. August 2006, E. 3.2.1).
Verlangt wird somit, dass ein Gericht bei der schriftlichen Androhung einer
reformatio in peius - wenn auch unpräjudiziell, unter Vorbehalt des
materiellen Endentscheids - deutlich macht, dass es eine entsprechende
Schlechterstellung für möglich hält. Die Beschwerde führende Partei muss in
die Lage versetzt werden, abzuschätzen, ob das Gericht aufgrund einer
vorläufigen Beurteilung der Sach- und Rechtslage tatsächlich in Erwägung
zieht, den angefochtenen Entscheid zu ihren Ungunsten abzuändern. Eine
Mitteilung, welche die Durchführung des Verfahrens gemäss BGE 122 V 166
allein mit dem beschwerdegegnerischen Begehren begründet, wird dieser Vorgabe
nicht gerecht. Vielmehr muss sich das Gericht die dem Antrag auf reformatio
in peius zugrunde liegenden Überlegungen in dem Sinne zu eigen machen, als es
zu erkennen gibt, dass es eine selbstständige Vorabwürdigung der für eine
Schlechterstellung sprechenden Fallumstände vorgenommen hat. Die Androhung
einer Schlechterstellung muss erkennbar dem Gericht zuzurechnen sein. Die
Darlegung des möglichen Verfahrensausgangs darf - als Entscheidungsgrundlage
der rekurrierenden Person für ihr weiteres prozessuales Vorgehen - nicht mit
geringerer Aussagekraft ausgestattet werden, wenn diese Option durch einen
Antrag der Gegenpartei ins Verfahren eingeführt wird. Eine blosse Einladung
zur Stellungnahme ist in diesem Sinne nur zulässig, wenn das Gericht keine
Veranlassung sieht, die Möglichkeit einer reformatio in peius ins Auge zu
fassen (Urteil I 868/05 vom 11. August 2006, E. 3.2.2).
4.3 Die Vorinstanz hat sich in der Verfügung vom 1. Dezember 2005 und im
Schreiben vom 13. Juni 2006 mit den von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten
Gründen, die im Falle einer materiellen gerichtlichen Beurteilung zu einer
Schlechterstellung der Versicherten führen könnten, nicht auseinandergesetzt.
Die Möglichkeit einer reformatio in peius wurde nur indirekt, durch Hinweis
auf die beschwerdegegnerische Vernehmlassung im Schreiben vom 13. Juni 2006
angesprochen. Eine eigenständige vorläufige Einschätzung durch das Gericht
selber, ob der rechtsuchenden Partei allenfalls eine Schlechterstellung
drohen könnte, fehlt. Folglich war im damaligen Zeitpunkt nicht erkennbar, ob
die Vorinstanz den Vorbringen der Beschwerdegegnerin potentielle
Erheblichkeit zuerkennt. Insofern ist die reformatio in peius nicht
rechtsgültig angedroht worden und verletzt der angefochtene Entscheid Art. 61
lit. d ATSG.

4.4 Davon geht vernehmlassungsweise auch das kantonale Gericht aus. Es
beantragt deswegen die Gutheissung des Rechtsbegehrens der Versicherten,
wonach der kantonale Entscheid, soweit auf eine Schlechterstellung lautend,
aufzuheben und die Verfügung vom 15. März 2005 und der Einspracheentscheid
vom 31. Mai 2005 zu bestätigen seien. Weiter führt die Vorinstanz aus, wenn
die SUVA in casu auf eine Schlechterstellung im letztinstanzlichen Verfahren
verzichte, könnte das Bundesgericht den Fall abschliessend behandeln.
Das vorgeschlagene Vorgehen, mit dem sich die Beschwerdegegnerin im Übrigen
auch nicht einverstanden erklärt hat, ist nicht zulässig. Das kantonale
Gericht hat im angefochtenen Entscheid gestützt auf eine materielle
Beurteilung auf eine reformatio in peius befunden. Dieser Entscheid würde bei
einem Vorgehen im beantragten Sinne in sein Gegenteil verkehrt, indem eine
Schlechterstellung nunmehr verbindlich ausgeschlossen würde. Das geht nicht
ohne eine erneute, in einem formal korrekten Verfahren erfolgende materielle
Beurteilung über die Berechtigung einer reformatio in peius. Diese Prüfung
kann entgegen dem offenbaren Verständnis des kantonalen Gerichts nicht
letztinstanzlich erfolgen. Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken, welche
mit einer damit verbundenen Heilung des Verfahrensmangels verbunden wären,
würde der Versicherten mit einem solchen Vorgehen auch die Möglichkeit
genommen, die Beschwerde zurückzuziehen und so eine allfällige
Schlechterstellung abzuwenden.

4.5 Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid ohne Prüfung der
weiteren Parteivorbringen aus formellen Gründen aufzuheben. Die Vorinstanz,
an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird vor einem neuen Entscheid,
sofern sie nach wie vor eine Schlechterstellung für erforderlich hält, der
Beschwerdeführerin die beabsichtigte reformatio in peius anzeigen und ihr
Gelegenheit zur Stellungnahme dazu sowie zum Rückzug der Beschwerde geben.

5.
Gemäss Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG dürfen einem Kanton, der nicht
Partei ist, grundsätzlich keine Gerichtskosten und Parteientschädigungen
überbunden werden. In Anwendung von Art. 156 Abs. 2 OG sowie Art. 159 Abs. 5
in Verbindung mit Art. 156 Abs. 6 OG rechtfertigt sich eine Ausnahme von
dieser Regel indessen namentlich dann, wenn ein richterlicher Entscheid in
qualifizierter Weise die Pflicht zur Justizgewährleistung verletzt und den
Parteien Kosten verursacht hat (RKUV 1999 Nr. U 331 S. 126, E. 4, U 305/97;
vgl. auch RKUV 2005 Nr. KV 318 S. 71, E. 11 mit Hinweisen, K 97/04, sowie in
RKUV 1997 Nr. U 269 S. 42 nicht veröffentlichte E. 4 des Urteils U 201/95 vom
3. Oktober 1996). Dies trifft im vorliegenden Fall zu. Zwar stellt sich die
Frage der Gerichtskosten nicht, da das Verfahren kostenfrei ist (Art. 134
OG). Der Kanton Solothurn hat der Beschwerdeführerin aber eine
Parteientschädigung zu bezahlen. Die SUVA anderseits hat unabhängig davon, ob
sie aufgrund des Verfahrensausganges als obsiegend zu betrachten wäre, als
mit öffentlichen Aufgaben betraute Organisation in der Regel und auch hier
keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen und der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 29. August 2006
aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im
Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Solothurn hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 25. April 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: