Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 444/2006
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{T 7}
U 444/06

Urteil vom 20. Februar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Schön, Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

L.________, Erbin des M.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Rechtsanwalt David Husmann, Untermüli 6, 6300 Zug.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 29. August 2006.

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1942, arbeitete ab 1958 zunächst als Maschinenschlosser
und später in verschiedenen weiteren Funktionen für das Unternehmen
X.________. Dadurch war er bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten
versichert. In den Jahren 1964 und 1965 kam er im Zusammenhang mit der
Reparatur von Turbinen zweimal mit Asbest in Kontakt.
Im Februar 2003 suchte der Versicherte wegen eines Hustens und zunehmender
Dyspnoe beim Bergaufwärtsgehen zunächst seinen Hausarzt auf, welcher ihn zu
weiteren Untersuchungen ins Spital Y.________ überwies. Dort wurde am 11.
März 2003 eine Thorakoskopie mit Pleurabiopsie vorgenommen und hernach die
Diagnose eines malignen Pleuramesothelioms rechts vom epithelialen Typ
gestellt, welches auf die Inhalation von Asbeststaub zurückgeführt und von
der SUVA als Berufskrankheit anerkannt wird. Von April bis Juni 2003 führte
das Spital Z.________ drei Zyklen Chemotherapien durch. Am 15. Juli 2003
entfernte man dem Versicherten den rechten Lungenflügel (Pleuropneumektomie
rechts mit Perikard- und Zwerchfellersatz). Es folgten vom 29. September bis
30. Oktober 2003 eine Radiotherapie und Ende Oktober/Anfang November
Nachoperationen. Am 8. Dezember 2003 berichtete der Versicherte über eine
stetige Besserung des Allgemeinzustandes. Eine Computertomographie vom 13.
April 2004 zeigte eine vollständige Regredienz des Pleuraergusses sowie des
Perikardergusses. Diagnostiziert wurde aber gleichzeitig eine zunehmende
weichteildichte fibröse Lamelle auf der rechten Seite. Eine weitere Operation
am 17. Mai 2004 ergab den hohen Verdacht auf eine Metastasierung des
Mesothelioms, welcher sich in der Folge bestätigte. Von Mitte Juni 2004 bis
Januar 2005 wurden palliative Chemotherapien durchgeführt. Am 2. März 2005
verstarb M.________ an den Folgen seiner Krankheit.
Mit Datum vom 5. Juli 2004 hatte der Versicherte das Gesuch um Ausrichtung
einer Integritätsentschädigung gestellt, welches mit Verfügung vom 24. August
2004 abschlägig entschieden wurde. Daran hielt die SUVA mit
Einspracheentscheid vom 19. Oktober 2004 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid mit der
Feststellung, es bestehe Anspruch auf eine Integritätsentschädigung, aufhob
und die Sache an die SUVA zurückwies, damit diese über den Leistungsanspruch
in masslicher Hinsicht verfüge (Entscheid vom 29. August 2006). Die Witwe und
Erbin des Versicherten führte nach dessen Ableben den Prozess weiter. Im
Verlauf des Rechtsmittelverfahrens liessen die Beschwerdeführerin eine
Dissertation von Marlis Martin-Malberger, Bochum 2001 ("Welche Faktoren
beeinflussen das Ergebnis der Bestrahlung bei malignen Mesotheliomen?"), und
die SUVA eine Stellungnahme des Dr. med. R.________, SUVA-Abteilung
Unfallmedizin, vom 6. Juni 2006 auflegen.

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei
der kantonale Entscheid aufzuheben und ein Anspruch auf
Integritätsentschädigung zu verneinen.
Die Erbin des M.________ lässt auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat - unter Verweis auf den Einspracheentscheid vom
19. Oktober 2004 - die Bestimmungen über den Anspruch auf
Integritätsentschädigung (Art. 24 und 25 UVG, Art. 36 UVV) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig sind auch die vorinstanzlichen
Erwägungen zum Begriff der Berufskrankheit (Art. 9 UVG; Art. 14 UVV; Anhang 1
zur UVV) sowie zu den diesbezüglichen Anspruchsvoraussetzungen (BGE 119 V 200
E. 2a und b).

2.2 Der Anspruch auf Integritätsentschädigung ist kein absolut persönliches
Recht und geht auf die Erben über, sofern er noch vor dem Tod des
Versicherten entstanden ist (Thomas Frei, Die Integritätsentschädigung nach
Art. 24 und 25 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung, Freiburg i.
Ue. 1998, S. 57; Jean-Louis Duc, Héritiers et indemnité pour atteinte à
l'intégration, in AJP 2000, S. 953 ff.; in RKUV 2002 Nr. U 460 S. 415 nicht
publizierte E. 2a des Urteils vom 4. April 2002, U 327/00).

3.
Bei einer schweren, unheilbaren Berufskrankheit, welche die Lebenserwartung
stark reduziert, kann der Anspruch auf eine Integritätsentschädigung
entstehen, sobald von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine
namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann und die
Behandlung nur noch palliativen Charakter hat. Das Kriterium der
Dauerhaftigkeit setzt in diesem Zusammenhang keine längerfristige
Stabilisierung des Gesundheitszustandes voraus. Erforderlich ist jedoch, dass
ein stationärer Zustand erreicht wird, in welchem der Betroffene
voraussichtlich noch längere Zeit leben wird (RKUV 2006 Nr. U 575 S. 107 E.
3.1 mit Hinweis [= Urteil vom 24. Oktober 2005, U 257/04]). Um das
Gleichbehandlungsgebot und die Rechtssicherheit zu gewährleisten, definierte
das Bundesgericht in einem kürzlich gefällten Grundsatzurteil die
Anspruchsvoraussetzung der Dauerhaftigkeit (Art. 24 Abs. 1 UVG in Verbindung
mit Art. 36 Abs. 1 UVV). Unter Berücksichtigung des Wesens, des Zwecks und
der Voraussetzungen der Integritätsentschädigung wurde entschieden, dass eine
Mindestdauer von einem Jahr palliativer Behandlung gegeben sein muss, damit
ein Anspruch auf Integritätsentschädigung bejaht werden kann (Urteil vom 12.
Januar 2007, U 401/06, E. 5.1- 5.4, mit Hinweis auf die mit der Revision des
UVG, welche sich zur Zeit in der Vernehmlassung befindet, in Art. 24 Abs. 2
Satz 2 UVG vorgesehene Kompetenz des Bundesrates, in Sonderfällen für die
Entstehung des Integritätsentschädigungsanspruchs einen anderen Zeitpunkt zu
bestimmen:
http://www.bag.admin.ch/themen/versicherung/00321/index. html).

4.
Auf Grund der medizinischen Berichte steht fest, dass beim Versicherten im
März 2003 die Diagnose eines Pleuramesothelioms gestellt wurde. Die kurative
Behandlung begann am 3. April 2003 und dauerte bis November 2003. Es folgte
eine Zeitspanne ohne konkrete Therapie. Im Mai 2004 wurde ein Rezidiv
entdeckt, und ab Mitte Juni 2004 folgten diverse Zyklen mit palliativer
Chemotherapie, welche im Januar 2005 eingestellt wurden. Anfang März 2005
verstarb der Versicherte. Somit lebte er ab Beginn der palliativen Behandlung
noch knapp neun Monate, weshalb kein Integritätsentschädigungsanspruch
entstehen konnte.

5.
Die SUVA hat am 1. Juli 2005 eine neue Verwaltungspraxis in Bezug auf
Versicherte eingeführt, die während ihres Berufslebens mit Asbest in Kontakt
gekommen und infolge dessen an Krebs erkrankt sind (vgl. RKUV 2006 Nr. U 575
S. 108 E. 3.2 [= Urteil vom 24. Oktober 2005, U 257/04]). Sie zahlt
Versicherten 6 Monate nach Ausbruch der Krankheit im Sinne eines Vorschusses
eine Integritätsentschädigung von 40 % aus. Wenn ein Asbestopfer nach
Ausbruch der Krankheit zwei Jahre gelebt hat, wird die zweite Tranche von 40
% ausgerichtet. Stirbt die versicherte Person vor Ablauf dieser zwei Jahre,
wird der gewährte Vorschuss nicht zurückverlangt. Diese Praxis ist anwendbar
auf alle Fälle, in denen die Krankheit nach dem 1. Juli 2005 ausbricht.
Ausserdem findet sie Anwendung, wenn die Krankheit zwar vor diesem Datum
entdeckt wird, der Versicherte aber am 1. Juli 2005 noch am Leben war
(Massimo Aliotta, Asbestopfer: Neuere Rechtsentwicklung in der EU und in der
Schweiz, HAVE, 4/2005, S. 364 ff., 366). Gemäss den Ausführungen in der
vorinstanzlichen Duplik vom 20. Juni 2006 wurde diese Praxis im Anschluss an
das erwähnte Urteil vom 24. Oktober 2005 mit Bezug auf im damaligen Zeitpunkt
(Urteilsdatum) noch lebende Versicherte modifiziert, indem die zweite Zahlung
von nochmals 40 % bereits nach 18 Monaten erfolgt. Diese
Entschädigungsregelung beruht auf dem Gedanken, dem Versicherten für die
immaterielle Beeinträchtigung eine Entschädigung auszurichten, solange er
noch lebt. Die SUVA räumt aber nach dem Tod des Versicherten dessen Erben
keinen Anspruch auf die erwähnten Zahlungen ein (vgl. Urteil vom 10. Januar
2007, U 401/06, E. 6). Da die Praxis der SUVA nur Asbestopfer betrifft,
welche nach dem 30. Juni 2005 verstorben sind, ist sie nicht geeignet, den
Ausgang des vorliegenden Verfahrens zu beeinflussen, sodass sich weitere
Ausführungen dazu erübrigen.

6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Anspruch auf eine
Parteientschädigung haben weder die Beschwerdegegnerin als unterliegende
Partei noch die SUVA als mit öffentlichrechtlichen Aufgaben betraute
Organisation (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. August 2006
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 20. Februar 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: