Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 367/2006
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{T 7}
U 367/06

Urteil vom 11. Januar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Wey.

M.________, 1971, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dominik Zehntner,
Spalenberg 20, 4051 Basel,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschft, Rechtsdienst, Hohlstrasse 552, 8048
Zürich, Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft
vom 10. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1971 geborene M.________ war seit November 1997 bei der Firma Q.________
AG als Barmann angestellt und bei der Allianz Suisse
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Allianz) obligatorisch gegen
Unfallfolgen versichert. Am 16. September 2001 erlitt er eine zweiphasige
Auffahrkollision: Er befand sich auf der Autobahn, als der vor ihm fahrende
Autolenker eine Vollbremsung durchführte. Da der Versicherte nicht
rechtzeitig zu bremsen vermochte, stiess er mit dem zum Stillstand gekommenen
Auto vor ihm zusammen. Auch dem nachfolgenden Lenker gelang es nicht, sein
Auto früh genug abzubremsen, sodass dieser ins Heck des Fahrzeugs des
Versicherten prallte. Noch am Tag des Unfallereignisses begab sich M.________
ins Spital X.________, wo die Ärzte ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule
(HWS) diagnostizierten. Sie konnten eine leicht eingeschränkte Beweglichkeit
der Halswirbelsäule feststellen; neurologische Auffälligkeiten sowie ossäre
Läsionen fanden sich indessen keine (vgl. Bericht vom 11. Dezember 2001). In
der Folge entwickelte der Versicherte (zumindest teilweise) das nach
Schleudertraumata typischerweise auftretende bunte Beschwerdebild (diffuse
Nacken- und Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörung, rasche
Ermüdbarkeit, Lärmempfindlichkeit, Aggressivität). Die Allianz richtete
Taggelder aus und übernahm die Heilbehandlung. Mit Verfügung vom 12. November
2004, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 6. Juli 2005, stellte sie ihre
Leistungen ab 1. September 2004 ein, weil der adäquate Kausalzusammenhang
zwischen Unfallereignis und den noch vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden
verneint werden müsse.

B.
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft wies die gegen den Einspracheentscheid
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 10. März 2006 ab.

C.
M.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die
gesetzlichen Leistungen über den 31. August 2004 hinaus zu erbringen.
Ausserdem lässt er um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen.
Während die Allianz auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V [I 618/06] Erw. 1.2).

2.
Sowohl die Allianz im Einspracheentscheid vom 6. Juli 2005 als auch der
Versicherte gehen richtigerweise davon aus, dass im vorliegenden Fall der für
die Leistungspflicht des Unfallversicherers zunächst vorausgesetzte
natürliche Kausalzusammenhang (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 406 Erw. 4.3.1, je mit
Hinweisen) zwischen dem am 16. September 2001 erlittenen Unfall und den über
den 31. August 2004 hinaus anhaltenden Beschwerden des Versicherten
(namentlich Kopfschmerzen, Schmerzen lumbal sowie von der unteren
Halswirbelsäule aufsteigend bis occipital, Konzentrationsstörungen, rasche
Ermüdbarkeit, deutliche Lärmempfindlichkeit) mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit zumindest im Sinne einer Teilkausalität gegeben ist. Zu
beurteilen bleibt die Adäquanz des Kausalzusammenhangs.

3.
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die Rechtsprechung zum für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall mit Schleudertrauma der
Halswirbelsäule ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle und den hernach
andauernden Beschwerden mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
(BGE 117 V 359) zutreffend wiedergegeben. Das kantonale Gericht hat überdies
richtig dargelegt, dass die Beurteilung der Adäquanz in denjenigen Fällen, in
welchen die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der
Halswirbelsäule gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im
Vergleich zur vorliegenden ausgeprägten psychischen Problematik aber
unmittelbar nach dem Unfall ganz in den Hintergrund treten, nach der für
psychische Fehlentwicklungen nach Unfällen geltenden Rechtsprechung (BGE 115
V 133) vorzunehmen ist (BGE 123 V 99 Erw. 2a; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437
[U 164/01]). Hierauf wird verwiesen.

4.
4.1 Der Versicherte erlitt anlässlich des Unfalls vom 16. September 2001 ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule mit dem sich in der Folge (wenigstens
teilweise) einstellenden typischen bunten Beschwerdebild. Der Rheumatologe
Dr. S.________ stellte in seinen Berichten vom 22. September 2001 und
7. November 2001 ein posttraumatisches tendomyotisches Zervikalsyndrom nach
HWS-Beschleunigungstrauma und Distorsion fest. Ossäre Läsionen konnten
radiologisch keine objektiviert werden. Insbesondere wies Dr. S.________ auf
einen ängstlich gefärbten Zustand mit Neigung zu Hyperventilation und damit
bereits wenige Tage nach dem Unfallereignis auf eine psychische
Fehlentwicklung hin. Bei gleicher Diagnose äusserte Dr. O.________, Facharzt
für Rheumatologie, im Arztbericht vom 17. Dezember 2001 den Eindruck einer
zunehmenden Aggravation. Bei im Wesentlichen ebenfalls gleicher Diagnose
hielt auch der Neurologe Dr. L.________ in seinem Bericht vom 10. Januar 2002
fest, der objektivierbare klinische Befund sei diskret und gewisse
Begehrlichkeiten seien nicht auszuschliessen. Gemäss Bericht der Ärzte der
Rehaklinik Z.________ vom 8. Mai 2002 litt der Versicherte an einem
"Zervikal- und Zervikozephalsyndrom, neuropsychologischen und vegetativen
Funktionsstörungen sowie an einem depressiven Syndrom". Zudem hielten sie
eine fachärztliche psychiatrische Beurteilung "für dringend erforderlich".
Der Psychiater Dr. H.________ diagnostizierte im Bericht vom 29. Mai 2002
eine "Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt" (ICD-10
F43.22). Auch Dr. C.________, Facharzt für Neurologie, führte in seinem
Bericht vom 23. September 2002 die geklagten Beschwerden auf dieses
psychische Leiden zurück und betrachtete es als "vordergründig". Zur gleichen
Beurteilung gelangte auch der Psychiater Dr. P.________ zumal er festhielt,
es stehe "zum jetzigen Zeitpunkt [...] sicherlich die psychiatrische Diagnose
im Vordergrund" (Arztbericht vom 21. Oktober 2002). Auch die polydisziplinäre
Begutachtung der Klinik Y.________, in deren Rahmen neuropsychologische
(Bericht vom 28. August 2003), radiologische (Bericht vom 22. September
2003), neurologische (Bericht vom 11. Dezember 2003) sowie rheumatologische
(Bericht 7. Juli 2004) Abklärungen vorgenommen wurden, führte grundsätzlich
zu den gleichen Schlüssen. So hielt etwa der Neurologe Dr. B.________ fest,
es liessen sich aus rein somatischer Sicht keine sicheren Folgen des Unfalles
ausmachen. Dieser Einschätzung schloss sich auch der Rheumatologe
Dr. K.________ an. Er sah dabei ebenfalls die psychiatrische Störung
("Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt" sowie
"deutliche Hinweise in Richtung einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung") im Vordergrund stehen.

4.2 Nach dem Gesagten ging die Vorinstanz im vorliegenden Fall zu Recht nach
der Rechtsprechung zu psychischen Unfallfolgen gemäss BGE 115 V 133 ff. vor:
Denn einerseits wies die psychische Problematik schon sehr bald nach dem
Unfallereignis vom 16. September 2001 eindeutige Dominanz auf, und
andererseits haben die physischen Beschwerden - auch im Verlauf der ganzen
Entwicklung vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt - gesamthaft nur eine
sehr untergeordnete Rolle gespielt und sind damit ganz in den Hintergrund
getreten (BGE 123 V 99 Erw. 2a; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437 [U 164/01]). So
enthält bereits der Arztbericht des Rheumatologen Dr. S.________ vom
22. September 2001 (mithin nur knapp eine Woche nach dem Unfall) Hinweise auf
eine psychische Problematik: "Patient zeigt einen ängstlich gefärbten Zustand
mit Neigung zu Hyperventilation". Auch die in der Folge verfassten
medizinischen Berichte und Gutachten wiesen (fast ausnahmslos) auf ein
psychisches Leiden des Versicherten hin. Sämtliche in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten Einwände vermögen an dieser
Betrachtungsweise nichts zu ändern: Der Versicherte macht namentlich geltend,
es seien noch nicht sämtliche somatischen Unfallfolgen weggefallen. Dabei
stützt er sich im Wesentlichen auf das (letztinstanzlich erstmals
vorgebrachte) Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstituts (ABI) vom
12. Dezember 2005. Der Einwand des Beschwerdeführers wird indessen im
Gutachten des ABI unter dem Titel "Stellungnahme zu früheren ärztlichen
Einschätzungen" gleich selbst entkräftet, zumal festgehalten wird, "es
besteht eine gute Übereinstimmung mit dem abschliessenden Gutachten der
Klinik Y.________ [...]. Aus somatischer Sicht besteht unsere Übereinstimmung
mit diesem früheren Gutachten". Wie bereits vorne dargelegt, äusserten sich
die Ärzte der Klinik Y.________ zu dieser Thematik dahingehend, dass sich
"aus rein somatischer Sicht [...] keine sicheren Folgen des Unfalles vom
16. September 2001" finden liessen. Ebenso wenig vermag der Kurzbericht von
Dr. E.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie, vom 14. März 2005 etwas
an der vorgenannten Auffassung zu ändern, zumal er (beispielsweise) die klar
im Vordergrund stehende psychische Problematik mit keinem Wort anspricht.

4.3 Nach dem Gesagten ist die Adäquanz nach Massgabe der in BGE 115 V 138
Erw. 6 und 407 Erw. 5 entwickelten und seither ständig angewandten
Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 129 V 183 Erw. 4.1) zu beurteilen,
d.h. mit der Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten
der unfallbezogenen Merkmale (BGE 117 V 367 Erw. 6a in fine; SVR 2003
UV Nr. 12 S. 36 Erw. 3.2.3).

5.
5.1 Aufgrund des augenfälligen Geschehensablaufs und der erlittenen
Verletzungen ist die Doppelkollision vom 16. September 2001 in
Übereinstimmung mit der Vorinstanz dem Bereich der mittelschweren Unfälle
zuzurechnen (vgl. RKUV 2003 Nr. U 489 S. 360 Erw. 4.2 am Anfang). Bei
Unfällen, die bezüglich des Schweregrades dem mittleren Bereich zuzuordnen
sind, lässt sich die Frage des adäquaten Kausalzusammenhangs
rechtsprechungsgemäss nicht aufgrund des Unfalls allein schlüssig
beantworten; vielmehr sind weitere, objektiv erfassbare Umstände, die
unmittelbar mit dem Unfall im Zusammenhang stehen oder als direkte oder
indirekte Folgen davon erscheinen, in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen. Der
adäquate Kausalzusammenhang ist nur dann zu bejahen, wenn eines der im
Zusammenhang mit dem Schleudertrauma der HWS massgebenden Kriterien in
besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder mehrere Kriterien erfüllt sind
(vgl. BGE 115 V 141 Erw. 6c/bb). Dabei gilt es zu betonen, dass bei der
Prüfung der einzelnen Kriterien nur die organisch bedingten Beschwerden zu
berücksichtigen sind, während die psychisch begründeten Anteile, deren
hinreichender Zusammenhang mit dem Unfall den Gegenstand der Prüfung bildet,
ausgeklammert bleiben (Urteil P. vom 30. September 2005, U 277/04, Erw. 4.3).
5.2 Der Unfall ereignete sich weder unter besonders dramatischen
Begleitumständen, noch ist er als speziell eindrücklich zu bezeichnen. Daran
ändert auch die Zweiphasigkeit des Unfallereignisses nichts. Die erlittenen
(physischen) Verletzungen waren weder schwer noch von besonderer Art. Ebenso
wenig ist eine ärztliche Fehlbehandlung aktenkundig, welche die Unfallfolgen
erheblich verschlimmert hätte. Sodann kann weder von einem schwierigen
Heilungsverlauf gesprochen werden, noch traten erhebliche Komplikationen auf.
Ferner ist auch eine ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung zu
verneinen. Denn die nach dem Unfall erfolgte Behandlung beschränkte sich im
Wesentlichen auf die Durchführung medizinischer Abklärungen und
Verlaufskontrollen (viele davon bedingt durch den häufigen Ärztewechsel des
Versicherten). Zudem unterzog sich der Beschwerdeführer physiotherapeutischen
Behandlungen. Das polydisziplinäre Gutachten der Klinik Y.________ kam zum
Schluss, dass sich aus rein somatischer Sicht keine sichere Folge des
Unfalles fände und die geklagten Beschwerden daher auf die psychische
Problematik zurückzuführen seien. Aus diesem Grund sind auch die Kriterien
"körperliche Dauerschmerzen" und "Grad und Dauer physisch bedingter
Arbeitsunfähigkeit" zu verneinen.

6.
Die - vorinstanzlich bestätigte - Leistungseinstellung seitens der Allianz
erfolgte demnach zu Recht. Daran vermöchten ergänzende Abklärungen nichts zu
ändern. Es ist deshalb von den beantragten Weiterungen abzusehen.

7.
Die Allianz hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG).
Da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos
zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372
Erw. 5b, je mit Hinweisen), kann die beantragte unentgeltliche Verbeiständung
des Beschwerdeführers gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135
OG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht,
wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird,
wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokat Dominik
Zehntner, Basel, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der
Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.
Luzern, 11. Januar 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:    Der Gerichtsschreiber: