Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 364/2006
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2006
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2006


U 364/06

Urteil vom 13. August 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Schön, Frésard,
Gerichtsschreiber Hochuli.

B. ________, 1970, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7,
6004 Luzern,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
Luzern vom 14. Juni 2006.

Sachverhalt:

A.
B. ________, geboren 1970, war bei der Helsana Versicherungen AG
(nachfolgend: Helsana oder Beschwerdegegnerin) obligatorisch gegen die Folgen
von Unfällen und Berufskrankheiten versichert, als sie am 11. März 2002 von
einem Bierglas am Kopf getroffen wurde. Die hiefür erbrachten gesetzlichen
Versicherungsleistungen stellte die Helsana mit Verfügung vom 17. November
2004, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 13. Mai 2005, Ende Oktober 2004
ein.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der B.________, mit welcher sie unter
anderem die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung beantragte, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, ohne öffentliche Verhandlung mit Entscheid vom 14. Juni 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt B.________ unter anderem das
Rechtsbegehren, die Sache sei zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Während die Helsana und das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung
verzichten, schliesst die als Mitinteressierte beigeladene CSS Versicherung
sinngemäss auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

D.
Mit Schreiben vom 27. Juli 2007 liess der Präsident der I. sozialrechtlichen
Abteilung die Versicherte anfragen, ob sie am Antrag auf Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung festhalte, nachdem die Sache gemäss Aktenlage liquid
erscheine, sich weitere Abklärungen erübrigten und mit Blick auf den
Streitgegenstand keine Notwendigkeit ersichtlich sei, eine Zeugeneinvernahme
und/oder eine Parteibefragung durchzuführen. Am 6. August 2007 lässt die
Beschwerdeführerin mitteilen, dass sie am Antrag auf Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung festhalte.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz
75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid am 14. Juni 2006 und somit vor dem 1. Januar
2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember
2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2
S. 395).

2.
Die Versicherte beantragte mit Beschwerde vom 23. Mai 2005 im
erstinstanzlichen Verfahren frist- und formgerecht die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung. Letztinstanzlich rügt die Beschwerdeführerin, das
kantonale Gericht habe durch den Verzicht auf Durchführung der beantragten
öffentlichen Verhandlung Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.

2.1 Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache
in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird,
das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu
entscheiden hat (Satz 1). Die Konvention selber sieht in Art. 6 Ziff. 1
Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz vor im Interesse der Sittlichkeit, der
öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit oder wenn die Interessen
von Jugendlichen, der Schutz des Privatlebens von Prozessparteien oder die
Gefahr einer Beeinträchtigung der Rechtspflege es gebieten (Satz 2).

2.2 Praxisgemäss stellen folgende Situationen besondere Umstände dar, unter
denen im erstinstanzlichen Sozialversicherungsprozess trotz Nichterfüllung
der im zweiten Satz von Art. 6 Ziff. 1 EMRK aufgezählten Ausnahmetatbestände
und trotz Vorliegens eines Gesuchs um Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung von der Anordnung einer solchen abgesehen werden kann (SVR 2006
IV Nr. 1 S. 4 E. 3.6, I 573/03):
Der Antrag wurde nicht frühzeitig genug gestellt; der Antrag erscheint als
schikanös oder lässt auf eine Verzögerungstaktik schliessen und läuft damit
dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwider oder ist
gar rechtsmissbräuchlich; es lässt sich auch ohne öffentliche Verhandlung mit
hinreichender Zuverlässigkeit erkennen, dass eine Beschwerde offensichtlich
unbegründet oder unzulässig ist; es steht eine Materie hochtechnischen
Charakters zur Diskussion, worunter etwa rein rechnerische,
versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zu verstehen sind,
nicht aber in der Regel andere dem Sozialversicherungsprozess inhärente
Themen wie etwa die Würdigung medizinischer Gutachten; das Gericht gelangt
auch ohne öffentliche Verhandlung schon allein aufgrund der Akten zum
Schluss, dass dem materiellen Rechtsbegehren der die Verhandlung
beantragenden Partei zu entsprechen ist (BGE 122 V 47 E. 3b S. 55-58; SVR
1996 KV Nr. 85 S. 271 E. 4c, K 127/94). Auch nach der Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts fällt zugunsten der Durchführung einer
mündlichen Verhandlung ins Gewicht, wenn eine solche geeignet ist, zur
Klärung allfälliger noch streitiger Punkte beizutragen (vgl. BGE 122 V 47
E. 4c S. 59 und Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 264/99 vom
13. Februar 2001, E. 2b).

2.3 Die Beschwerdeführerin stellte im vorinstanzlichen Verfahren den Antrag
auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung unter Verweis auf ihren
"Anspruch gemäss EMRK", ohne diesen Antrag weiter zu begründen. Zwar erkannte
die Vorinstanz zutreffend, dass die Einvernahme des einzigen, auf Seite 11
der Beschwerdeschrift vom 23. Mai 2005 im kantonalen Verfahren von der
Versicherten angebotenen Zeugen nur hätte bestätigen können, was aus dem bei
den Akten liegenden Arztbericht der Psychiaterin Dr. med. X.________ vom 27.
April 2003 und weiteren medizinischen Unterlagen ohnehin bekannt war. Das
kantonale Gericht vertrat in der Folge die Auffassung, seien von der
Zeugeneinvernahme keine Erkenntnisse zu erwarten, welche für die Falllösung
relevant wären, liege praxisgemäss ein Ausnahmefall vor, welcher den Verzicht
auf die Durchführung der beantragten öffentlichen Verhandlung rechtfertige.
Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht geltend, es gehe
ihr um die Garantie der Verfahrensöffentlichkeit und somit um ihren Anspruch,
dem Gericht ihre Argumente mündlich in einer öffentlichen Sitzung vortragen
zu können. In der diesbezüglichen Begründung des angefochtenen Entscheids,
wonach sich die Sache bereits auf Grund der Akten beurteilen lasse und sich
die Beschwerde als unbegründet erweise, sei keiner der rechtsprechungsgemäss
vorgesehenen Ausnahmegründe (BGE 122 V 47 E. 3b S. 55 ff.) zu erblicken,
welcher es ausnahmsweise erlaube, von der Anordnung einer
konventionskonformen Verhandlung abzusehen, ohne Art. 6 Ziff. 1 EMRK zu
verletzen.

2.4 Der Versicherten ist insoweit beizupflichten, als sie mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht rügt, das kantonale Gericht habe nicht
dargelegt, dass hier einer der in BGE 122 V 47 E. 3b S. 55 ff. angeführten
Ausnahmetatbestände erfüllt sei, welcher im Einzelfall den Ausschluss der
Öffentlichkeit aus besonders gewichtigen Gründen als zulässig erscheinen
lasse. Auf die Durchführung einer EMRK-konformen öffentlichen Verhandlung  -
trotz des ausdrücklich und rechtzeitig (BGE 122 V 47 E. 3b/bb in fine [mit
Hinweisen] S. 56; Urteil I 98/07 vom 18. April 2007, E. 4.1 mit Hinweisen)
gestellten entsprechenden Antrages  -  zu verzichten, lässt sich im Gegensatz
zur vorinstanzlichen Auffassung nicht damit rechtfertigen, dass von der
Verhandlung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien, welche am
festgestellten Sachverhalt gemäss Aktenlage noch etwas zu ändern vermöchten,
zumal die Beschwerdeführerin ihren formellen Antrag im erstinstanzlichen
Verfahren nicht mit der Einvernahme des angebotenen Zeugen begründet hatte.

2.5 Sind auch sonst keine Umstände erkennbar, welche nach der feststehenden
Praxis ausnahmsweise den Verzicht auf die Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung rechtfertigen liessen, und hält die Versicherte mit Eingabe vom
6. August 2007 ausdrücklich an ihrem entsprechenden Antrag fest, bleibt nach
dem Gesagten nichts anderes übrig, als die Sache zur Durchführung einer
konventionskonformen öffentlichen Verhandlung und zum anschliessenden
Neuentscheid über die Beschwerde vom 23. Mai 2005 an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der obsiegenden, anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführerin steht dem Verfahrensausgang entsprechend eine
Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 14. Juni 2006 aufgehoben und die
Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägung
Ziffer 2.5 verfahre und über die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der
Helsana Versicherungen AG vom 13. Mai 2005 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, dem Bundesamt für Gesundheit und der
CSS Versicherung AG, Luzern, zugestellt.

Luzern, 13. August 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: