Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 353/2006
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Prozess {T 7}
U 353/06

Urteil vom 4. Dezember 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

I.________, 1968, Beschwerdegegner, vertreten
durch Advokat Dr. Daniel Riner, Steinentorstrasse 13, 4051 Basel

Kantonsgericht Basel-Landschaft, Liestal

(Entscheid vom 2. Juni 2006)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 3. Februar 2005 stellte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) die dem 1968 geborenen I.________ für die
Folgen eines am 21. Mai 2002 erlittenen Unfalls erbrachten Leistungen auf den
31. März 2005 ein, woran sie auf Einsprache hin mit Entscheid vom 22. Juni
2005 festhielt.

B.
Am 20. Oktober 2005 liess I.________ beim Kantonsgericht Basel-Landschaft
Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des Einspracheentscheides
seien ihm weiterhin die gesetzlichen Leistungen für die Folgen des
versicherten Unfalls zu erbringen. Nachdem die SUVA beantragt hatte, es sei
wegen verspäteter Einreichung auf die Beschwerde nicht einzutreten,
beschränkte das Kantonsgericht das Verfahren mit Verfügung vom 5. Dezember
2005 auf die Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerde und gab den Parteien
Gelegenheit zur Stellungnahme. Es gelangte zum Schluss, dass die
Beschwerdefrist aufgrund der neuen Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nach Massgabe des kantonalen Verfahrensrechts zu
bestimmen und im vorliegenden Fall bei Aufgabe der Beschwerde am 20. Oktober
2005 bereits abgelaufen gewesen sei. Indessen sei die Beschwerde nach dem
Grundsatz von Treu und Glauben als rechtzeitig eingereicht zu erachten,
nachdem das Kantonsgericht in mehrjähriger, konstanter Praxis bis zum
Bekanntwerden der neuen Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts den Fristenstillstand nach ATSG auch auf die
dreimonatige Beschwerdefrist im Bereich der Unfallversicherung angewendet
habe. Dadurch sei eine Vertrauensgrundlage geschaffen worden, auf welche sich
die Beschwerde führenden Personen hätten verlassen können. Dementsprechend
trat das Kantonsgericht mit Entscheid vom 2. Juni 2006 auf die Beschwerde
ein.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, der kantonale
Gerichtsentscheid sei aufzuheben mit der Feststellung, dass auf die
Beschwerde vom 20. Oktober 2005 zu Folge Fristversäumnisses nicht einzutreten
sei.

Während das Kantonsgericht sich in ablehnendem Sinne äussert und I.________
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen lässt, verzichtet
das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim vorinstanzlichen Zwischenentscheid, lautend auf Eintreten auf die
Beschwerde des Versicherten, handelt es sich um eine selbstständig
anfechtbare Zwischenverfügung im Sinne von Art. 128 in Verbindung mit Art. 97
OG, Art. 5 Abs. 2 und Art. 45 VwVG (SVR 1998 UV Nr. 10 S. 25 f. Erw. 1;
Urteile D. vom 6. November 2006 [U 26/06] und A. vom 13. Juni 2006
[U 446/05]). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.

2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die vom Versicherten am 20. Oktober
2005 eingereichte Beschwerde nach Massgabe des hier anwendbaren kantonalen
Verfahrensrechts verspätet war. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz
zu Recht auf die Beschwerde eingetreten ist, weil sie die Voraussetzungen des
Vertrauensschutzes als erfüllt erachtet hat.

4.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden Grundsätze zum Vertrauensschutz,
wie er in Art. 9 BV verankert ist, und dessen Bedeutung bei einer
Praxisänderung oder -klarstellung im Bereich des Verfahrensrechts, namentlich
im Zusammenhang mit der Berechnung von Rechtsmittelfristen oder der
Einhaltung von Formvorschriften bei der Einreichung eines Rechtsmittels,
unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zutreffend dargelegt.
Darauf kann verwiesen werden.

4.1 Der Vertrauensschutz gilt auch und erst recht, wenn eine richterliche
Behörde eine unrichtige Auskunft erteilt, wie das Eidgenössische
Versicherungsgericht mit Bezug auf ein Schreiben des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 22. Oktober 2003 an den Aargauischen Anwaltsverband
erkannt hat. Darin hatte das Gericht unter dem Titel
"Versicherungsgerichtsverfahren" darauf hingewiesen, dass es beschlossen
habe, die Fristen gemäss Art. 60 in Verbindung mit Art. 38-41 ATSG (ausser in
BVG-Verfahren) in allen Verfahren, insbesondere auch in UVG-Verfahren,
anzuwenden (...). Die dreimonatigen Fristen nach Art. 106 UVG und 104 MVG
stünden aufgrund von Art. 38 Abs. 4 ATSG still. Die Übergangsbestimmung von
Art. 82 Abs. 2 ATSG spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle. Das
Eidgenössische Versicherungsgericht, welches in BGE 131 V 314 und 325
gegenteilig entschied, wobei diese Grundsatzurteile erst am 26. August 2005
ergingen, charakterisierte das zitierte Schreiben als von Amtes wegen
erteilte Auskunft über die Praxis, welche das kantonale Versicherungsgericht
unter der Herrschaft des ATSG bei Fristberechnungen eingeschlagen hatte
(Urteil K. vom 8. Mai 2006 [U 113/06]).

4.2 Im vorliegenden Fall ist aufgrund des Schreibens des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 8. Dezember 2005 an den Basellandschaftlichen
Anwaltsverband und die Advokatenkammer Basel, in welchem es auf das Urteil
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 26. August 2005 (U 268/03 = BGE
131 V 314) hinwies und darauf aufmerksam machte, dass es seit Inkrafttreten
des ATSG am 1. Januar 2003 von der Massgeblichkeit der
Fristenstillstandsbestimmung des Art. 38 Abs. 4 ATSG für das kantonale
UV-Verfahren ausgegangen war, sowie des kantonalen Entscheides vom
24. September 2003, der BGE 131 V 314 zugrunde lag, eine mehrjährige
konstante Praxis der Vorinstanz ausgewiesen. In der Eingabe an das
Kantonsgericht vom 16. Dezember 2005 hat der Rechtsvertreter des
Beschwerdegegners geltend gemacht, zum Zeitpunkt der Zustellung (des
Einspracheentscheides) habe bei der Vorinstanz eine ihm bekannte Praxis
bestanden, wonach der Fristenstillstand gemäss Art. 38 Abs. 4 ATSG zur
Anwendung gelangt sei. Diese Tatsache sei in verschiedenen Urteilsberatungen
des Kantonsgerichts sowie auf Anfrage von einzelnen Mitgliedern des Gerichts
bestätigt worden. Schliesslich stellt die Vorinstanz im angefochtenen
Entscheid vom 2. Juni 2006 für das Eidgenössische Versicherungsgericht
verbindlich (Art. 105 Abs. 2 OG) fest, dass sie in ständiger Praxis den
Fristenstilstand gemäss Art. 38 Abs. 4 ATSG auch im Beschwerdeverfahren nach
UVG berücksichtigt hat. Damit hat die Vorinstanz eine Vertrauensgrundlage
geschaffen, auf welche sich der Beschwerdegegner nach dem Grundsatz von Treu
und Glauben bei Einreichung der Beschwerde am 20. Oktober 2005 verlassen
durfte, weil die Grundsatzurteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
vom 28. August 2005 bei Beginn der dreimonatigen Beschwerdefrist am 25. Juni
2005 noch nicht ergangen waren.

4.3 Diese Lösung steht in Einklang mit dem bereits von der Vorinstanz
erwähnten Grundsatz, wonach das Bundesgericht nach ständiger Rechtsprechung
den Vorrang des Vertrauensschutzes bei der Berechnung von Rechtsmittelfristen
im Fall einer verfahrensrechtlichen Änderung bzw. Klarstellung der bisherigen
Rechtsprechung bejaht (BGE 132 II 159 Erw. 5.1, 130 IV 47 Erw. 1.5 mit
Hinweis).

4.4 Die von der SUVA in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen
Einwendungen vermögen zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Namentlich sind
ihre Vorbringen betreffend Fehlen einer Praxis des Kantonsgerichts im
Zusammenhang mit dem Fristenstillstand seit Inkrafttreten des ATSG nicht
geeignet, die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne
von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen zu lassen. Auch ungeachtet dieser
verfahrensrechtlichen Überprüfungsbeschränkung besteht kein Anlass, die in
der Vernehmlassung verdeutlichten Ausführungen der Vorinstanz zu diesem Punkt
in Zweifel zu ziehen. Tatsachenwidrige Behauptungen des kantonalen Gerichts
sind nicht belegt. Es ist auch nicht möglich oder gar notwendig, im
Einzelfall ein Beweisverfahren darüber zu führen, ob und gegebenenfalls in
welchem Zeitpunkt einem Rechtsvertreter eine bestimmte Praxis eines Gerichts
bekannt war. Vielmehr genügte es, dass er sich, wie hier im vorinstanzlichen
Verfahren, unter Hinweis auf den Vertrauensschutz bei erstem sich bietendem
Anlass auf eine solche ihm bekannte Gerichtspraxis beruft. Dass eine
Gerichtspraxis in den interessierten Anwaltskreisen allgemein bekannt ist,
kann auch unterstellt werden, wenn sie nicht im Internet oder mittels
Schreiben an den Anwaltsverband publiziert worden ist, wie dies hinsichtlich
des Fristenstillstandes in anderen Kantonen der Fall war (vgl. Urteil K. vom
8. Mai 2006, U 113/06).

5.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der SUVA aufzuerlegen
(Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat dem
Beschwerdegegner sodann eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der SUVA auferlegt und mit dem
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.
Luzern, 4. Dezember 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: