Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 351/2006
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Prozess {T 7}
U 351/06

Urteil vom 4. Dezember 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

K.________, 1949, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Daniel Dietrich,
Steinenschanze 6, 4051 Basel

Kantonsgericht Basel-Landschaft, Liestal

(Entscheid vom 2. Juni 2006)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 7. Dezember 2004 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) dem 1949 geborenen K.________ für die
Folgen eines Unfalls vom 7. März 2003 eine Integritätsentschädigung von 25 %
zu. Gleichzeitig lehnte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente ab. Auf
Einsprache hin hielt die SUVA mit Entscheid vom 24. Mai 2005 an ihrem
Standpunkt fest.

B.
Am 12. September 2005 liess K.________ beim Kantonsgericht Basel-Landschaft
Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des Einspracheentscheides
sei die SUVA zu verpflichten, ihm ab 9. Juni 2004 eine auf dem von der
Invalidenversicherung ermittelten Invaliditätsgrad beruhende Invalidenrente
zuzusprechen.
Das Kantonsgericht beschränkte das Verfahren mit Verfügung vom 24. Oktober
2005 auf die Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerde und gab den Parteien
Gelegenheit zur Stellungnahme. Es gelangte zum Schluss, dass die
Beschwerdefrist aufgrund der neuen Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nach Massgabe des kantonalen Verfahrensrechts zu
bestimmen und im vorliegenden Fall bei Aufgabe der Beschwerde am
12. September 2005 bereits abgelaufen gewesen sei. Indessen sei die
Beschwerde nach dem Grundsatz von Treu und Glauben als rechtzeitig
eingereicht zu erachten, nachdem das Kantonsgericht  in mehrjähriger,
konstanter Praxis bis zum Bekanntwerden der neuen Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts den Fristenstillstand nach ATSG auch
auf die dreimonatige Beschwerdefrist im Bereich der Unfallversicherung
angewendet habe. Dadurch sei eine Vertrauensgrundlage geschaffen worden, auf
welche sich die Beschwerde führenden Personen hätten verlassen können.
Dementsprechend trat das Kantonsgericht mit Entscheid vom 2. Juni 2006 auf
die Beschwerde ein.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, der kantonale
Gerichtsentscheid sei aufzuheben mit der Feststellung, dass auf die
Beschwerde vom 12. September 2005 zufolge Fristversäumnisses nicht
einzutreten ist.

Während das Kantonsgericht sich in ablehnendem Sinne äussert und K.________
zur Hauptsache auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim vorinstanzlichen Zwischenentscheid lautend auf Eintreten auf die
Beschwerde des Versicherten, handelt es sich um eine selbstständig
anfechtbare Zwischenverfügung im Sinne von Art. 128 in Verbindung mit Art. 97
OG, Art. 5 Abs. 2 und Art. 45 VEVG (SVM 1998 UV Nr. 10 S. 25 f. Erw. 1;
Urteile D. vom 6. November 2006 [U 26/06] und A. vom 13. Juni 2006
[U 446/05]). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.

2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die vom Versicherten am
12. September 2005 eingereichte Beschwerde nach Massgabe des hier anwendbaren
kantonalen Verfahrensrechts verspätet war. Streitig und zu prüfen ist, ob die
Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde eingetreten ist, weil sie die
Voraussetzungen des Vertrauensschutzes als erfüllt erachtet hat.

4.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden Grundsätze zum Vertrauensschutz,
wie er in Art. 9 BV verankert ist, und dessen Bedeutung bei einer
Praxisänderung oder  -klarstellung im Bereich des Verfahrensrechts,
namentlich im Zusammenhang mit der Berechnung von Rechtsmittelfristen oder
der Einhaltung von Formvorschriften bei der Einreichung eines Rechtsmittels
unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zutreffend dargelegt.
Darauf kann verwiesen werden.

4.1 Der Vertrauensschutz gilt auch und erst recht, wenn eine richterliche
Behörde eine unrichtige Auskunft erteilt, wie das Eidgenössische
Versicherungsgericht mit Bezug auf ein Schreiben des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 22. Oktober 2003 an den Aargauischen Anwaltsverband
erkannt hat. Darin hatte das Gericht unter dem Titel
"Versicherungsgerichtsverfahren" darauf hingewiesen, dass es beschlossen
habe, die Fristen gemäss Art. 60 in Verbindung mit Art. 38-41 ATSG (ausser in
BVG-Verfahren) in allen Verfahren, insbesondere auch in UVG-Verfahren,
anzuwenden (...). Die dreimonatigen Fristen nach Art. 106 UVG und 104 MVG
stünden aufgrund von Art. 38 Abs. 4 ATSG still. Die Übergangsbestimmung von
Art. 82 Abs. 2 ATSG spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle. Das
Eidgenössische Versicherungsgericht, welches in BGE 131 V 314 und 325
gegenteilig entschied, wobei diese Grundsatzurteile erst am 26. August 2005
ergingen, charakterisierte das zitierte Schreiben als von Amtes wegen
erteilte Auskunft über die Praxis, welche das kantonale Versicherungsgericht
unter der Herrschaft des ATSG bei Fristberechnungen eingeschlagen hatte
(Urteil K. vom 8. Mai 2006 [U 113/06]).

4.2 Im vorliegenden Fall ist aufgrund des Schreibens des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 8. Dezember 2005 an den Basellandschaftlichen
Anwaltsverband und die Advokatenkammer Basel, in welchem es auf das Urteil
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 26. August 2005 (U 268/03 = BGE
131 V 314) hinwies und darauf aufmerksam machte, dass es seit Inkrafttreten
des ATSG am 1. Januar 2003 von der Massgeblichkeit der
Fristenstillstandsbestimmung des Art. 38 Abs. 4 ATSG für das kantonale
UV-Verfahren ausgegangen war, sowie des kantonalen Entscheides vom
24. September 2003, der BGE 131 V 314 zugrunde lag, eine mehrjährige
konstante Praxis der Vorinstanz ausgewiesen. Ebenso bestätigt das kantonale
Gericht im angefochtenen Entscheid vom 2. Juni 2006 für das Eidgenössische
Versicherungsgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 2 OG), dass es in ständiger
Praxis den Fristenstillstand gemäss Art. 38 Abs. 4 ATSG auch im
Beschwerdeverfahren nach UVG berücksichtigt hat. Damit hat die Vorinstanz
eine Vertrauensgrundlage geschaffen, auf welche sich der Beschwerdegegner
nach dem Grundsatz von Treu und Glauben bei Einreichung der Beschwerde am
12. September 2005 verlassen durfte, weil die Grundsatzurteile des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 28. August 2005 zu jenem Zeitpunkt
noch nicht bekannt waren.

4.3 Diese Lösung steht in Einklang mit dem bereits von der Vorinstanz
erwähnten Grundsatz, wonach das Bundesgericht nach ständiger Rechtsprechung
den Vorrang des Vertrauensschutzes bei der Berechnung von Rechtsmittelfristen
im Fall einer verfahrensrechtlichen Änderung bzw. Klarstellung der bisherigen
Rechtsprechung bejaht (BGE 132 II 159 Erw. 5.1, 130 IV 47 Erw. 1.5 mit
Hinweis).

4.4 Die von der SUVA in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen
Einwendungen vermögen zu keinem anderen Ergebnis zu führen. Namentlich sind
ihre Vorbringen betreffend Fehlen einer Praxis des Kantonsgerichts im
Zusammenhang mit dem Fristenstillstand seit Inkrafttreten des ATSG nicht
geeignet, die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne
von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen zu lassen. Auch ungeachtet dieser
verfahrensrechtlichen Überprüfungsbeschränkung besteht kein Anlass, die in
der Vernehmlassung verdeutlichten Ausführungen der Vorinstanz zu diesem Punkt
in Zweifel zu ziehen. Tatsachenwidrige Behauptungen des kantonalen Gerichts
sind nicht belegt. Es ist auch nicht möglich oder gar notwendig, im
Einzelfall ein Beweisverfahren darüber zu führen, ob und gegebenenfalls in
welchem Zeitpunkt einem Rechtsvertreter eine bestimmte Praxis eines Gerichts
bekannt war. Vielmehr genügt es, dass er sich, wie hier im vorinstanzlichen
Verfahren, unter Hinweis auf den Vertrauensschutz bei erstem sich bietendem
Anlass auf eine solche ihm bekannte Gerichtspraxis beruft. Dass eine
Gerichtspraxis in den interessierten Anwaltskreisen allgemein bekannt ist,
kann auch unterstellt werden, wenn sie nicht im Internet oder mittels
Schreiben an den Anwaltsverband publiziert worden ist, wie dies hinsichtlich
des Fristenstillstandes in anderen Kantonen der Fall war (vgl. Urteil K. vom
8. Mai 2006 [U 113/06]).

5.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der SUVA aufzuerlegen
(Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat dem
Beschwerdegegner sodann eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der SUVA auferlegt und mit dem
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.
Luzern, 4. Dezember 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: