Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 321/2006
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U 321/06

Urteil vom 25. April 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Seiler,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1962, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Dominik
Zehntner, Spalenberg 20, 4051 Basel.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 5. April 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1962 geborene, als arbeitslose Person bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Unfälle versicherte
S.________ erlitt am 30. April 2003 eine Auffahrkollision mit den
Unfallfolgen eines HWS-Schleudertraumas, einer Sternum- und Schulterkontusion
sowie eines Verdachts auf einen Muskelriss im Unterleib. Die SUVA erbrachte
Versicherungsleistungen und liess verschiedene medizinische Untersuchungen
durchführen, wobei sich die Versicherte diversen therapeutischen Massnahmen
unterzog. Mit Verfügung vom 16. November 2004 stellte die SUVA die
Versicherungsleistungen ab 30. November 2004 ein und bestätigte dies mit
Einspracheentscheid vom 8. Juli 2005.

B.
Die von S.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht mit Entscheid vom 5.
April 2006 in dem Sinne gut, dass sie befand, die SUVA habe die gesetzlichen
Leistungen über den 30. November 2004 hinaus zu erbringen.

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt in Aufhebung des
kantonalen Entscheides, an der Einstellung der Versicherungsleistungen ab 30.
November 2004 sei festzuhalten.

S. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
beantragt eventualiter die Rückweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz
zur Vornahme weiterer medizinischer Abklärungen. Ferner wird die
unentgeltliche Verbeiständung beantragt. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Das kantonale Gericht hat die für die Leistungspflicht des Unfallversicherers
massgeblichen Gesetzesbestimmungen und die für die Beurteilung der Frage der
Kausalität rechtsprechungsgemäss geltenden Grundsätze zutreffend dargelegt.
Insbesondere wurde festgehalten,  dass die Adäquanzbeurteilung nach
Schleudertrauma der Halswirbelsäule (ohne nachweisbare organische
Unfallfolgeschäden) grundsätzlich nach der Rechtsprechung gemäss BGE 117 V
359 E. 6a S. 366 und 369 E. 4b S. 382 erfolgt, dass in bestimmten Fällen
diese Prüfung aber unter dem Gesichtspunkt einer psychischen Fehlentwicklung
nach Unfall gemäss BGE 115 V 133 E. 6 S. 138 und 403 E. 5 S. 407 vorzunehmen
ist. Darauf wird verwiesen.

3.
Mit dem kantonalen Gericht ist gestützt auf die medizinischen Akten davon
auszugehen, dass die Versicherte ein Schleudertrauma erlitten hat. Die
Vorinstanz hat ferner festgestellt, zwischen den beklagten Beschwerden und
dem Unfallereignis bestehe ein natürlicher Kausalzusammenhang, was die
Beschwerdeführerin allerdings bestreitet. Ob dieser Zusammenhang tatsächlich
gegeben ist, mag im Lichte der Rechtsprechung fraglich erscheinen. Wie aus
dem Folgenden ersichtlich ist, kann die Frage jedoch offen bleiben.

4.
Im kantonalen Entscheid hat die Vorinstanz zur Prüfung des adäquaten
Kausalzusammenhangs die Schleudertraumapraxis angewendet, während die SUVA in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde davon ausgeht, diese Prüfung sei in
Anwendung der Praxis zu psychischen Unfallfolgen vorzunehmen. Umstritten ist
dabei, ob im Fall der Versicherten von einer psychischen Überlagerung im
Sinne von BGE 123 V 98 gesprochen werden kann.

4.1 Ein organisch objektivierbarer Befund für die beklagten Beschwerden liegt
aufgrund der medizinischen Akten nicht vor. Die theoretische Möglichkeit,
dass durch neue Untersuchungsmethoden die bisher bereits festgestellte
Diskusprotrusion anders beurteilt werden könnte, ändert daran nichts. Zwar
weist die Versicherte leichte neuropsychologische Funktionsstörungen auf;
doch hat die Rechtsprechung neuropsychologische Defizite ohne organische
Befunde den psychischen Problemen gleichgesetzt mit der Folge, dass sie bei
Dominanz auch als psychische Überlagerung betrachtet werden, wobei die
Adäquanzprüfung unter diesen Umständen nach der Praxis gemäss BGE 115 V 133
zu erfolgen hat (Urteile C. vom 19. September 2006, U 60/06, E. 4.2.2; B. vom
15. März 2006, U 213/04, E. 4; N. vom 16. Februar 2006, U 466/04, lit. A und
E. 2.2; D. vom 25. Januar 2006, U 244/05, E. 4; N. vom 20. Dezember 2005, U
452/04, E. 3; O. vom 14. Dezember 2005, U 341/04, E. 2.3; vgl. auch
[ausserhalb Schleudertrauma] A. vom 24. Oktober 2005, U 292/04, E. 6). Eine
eigentliche psychische Krankheit liegt hier ebenfalls nicht vor, und auch
eine bewusste Aggravation wird verneint. Dies ist allerdings unerheblich,
denn neuropsychologisch festgestellte Defizite können auf eine psychische
Überlagerung schliessen lassen, auch wenn keine psychiatrische Diagnose
gestellt ist (Urteile C. vom 19. September 2006, U 60/06, E. 4.2.2; T. vom 22
März 2006, U 285/05, E. 3.2.1).
4.2 Für eine psychische Überlagerung sprechen im vorliegenden Fall die gemäss
den Berichten der Rehaklinik X.________ vom 20. Februar 2004 und des Dr. med.
K.________ vom 13. Juli 2004 attestierten Anpassungsstörung und depressive
Reaktion. Dass das Gesamtbild durch die psychiatrische Problematik überlagert
ist, ergibt sich auch aus dem Bericht von Dr. med. L.________ vom 4. Oktober
2004, in welchem dieser Arzt eine psychiatrische Behandlung vorschlägt,
während physiotherapeutische Massnahmen nach seinem Dafürhalten nichts mehr
bringen würden. In einem von Dr. med. K.________ am 5. Dezember 2004
erwähnten Bericht von Frau Dr. med. H.________, Klinik Z.________,
Psychosomatik, vom 30. August 2004, werden die im Anschluss an den Unfall
aufgetretene depressive Entwicklung mit Angst-Symptomatik sowie die
leichtgradige neuropsychologische Funktionsstörung bestätigt. Nach
Hospitalisationsbericht des Kantonsspitals Y.________ vom 8. März 2005
standen bei der Patientin die psychosoziale Problematik, die
Anpassungsstörung, die erschwerte Schmerzverarbeitung und die depressive
Symptomatik im Vordergrund. Schliesslich geht aus einer diesem Bericht
angehängten Stellungnahme von Frau lic. phil. O.________ hervor, dass die
Versicherte an chronischen Schmerzen, ängstlich/posttraumatischen Symptomen
sowie an mit juristischen und ökonomischen Problemen verbundenem
psychosozialem Stress leidet.

4.3 Anhand der gesamten medizinischen Aktenlage ist das Vorliegen einer
psychischen Überlagerung somit zu bejahen. Unter diesen Umständen hat die
SUVA die Prüfung der adäquaten Kausalität zu Recht unter dem Gesichtspunkt
einer psychischen Fehlentwicklung nach Unfall gemäss BGE 115 V 133
vorgenommen, wobei - wie aus dem Folgenden hervorgeht - auch eine Beurteilung
nach der Schleudertraumapraxis am Ergebnis nichts ändern würde.

5.
Zutreffend hat die Vorinstanz den am 30. April 2003 erlittenen Verkehrsunfall
dem mittleren Bereich im Grenzbereich zu den leichten Unfällen zugeordnet.
Damit die Adäquanz des Kausalzusammenhangs bejaht werden könnte, müsste somit
ein einzelnes der in die Beurteilung einzubeziehenden Kriterien (BGE 115 V
133 E. 6c/aa S. 140) in besonders ausgeprägter Weise erfüllt sein oder die zu
berücksichtigenden Kriterien müssten in gehäufter oder auffallender Weise
gegeben sein (BGE 115 V 133 E. 6c/bb S. 140).

5.1 In Beurteilung der einzelnen Kriterien ist im Lichte der Rechtsprechung
mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass der Unfall nicht als besonders
dramatisch oder eindrücklich bezeichnet werden kann und dass auch das
Kriterium einer ärztlichen Fehlbehandlung im vorliegenden Fall zu verneinen
ist.

5.2 Entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts und wie die
Beschwerdeführerin in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend dargelegt
hat, bedeutet das Vorliegen der für HWS-Distorsionen typischen Beschwerden
nicht, dass die Kriterien der Dauerbeschwerden und der besonderen Art und
Schwere der Verletzungen ohne weiteres zu bejahen wären. Aus den
medizinischen Akten geht einerseits nicht hervor, dass die Beschwerdegegnerin
am 30. April 2003 schwere Verletzungen erlitten hätte. Andererseits wäre das
Kriterium der körperlichen Dauerbeschwerden allenfalls zu bejahen, erscheint
allerdings nicht besonders ausgeprägt, da es sich um unspezifische Schmerzen
handelt.

5.3 Verneint werden muss im vorliegenden Fall auch das Kriterium einer langen
Dauer der ärztlichen Behandlung. Nach der Aktenlage hat sich die Versicherte
nebst zwei Aufenthalten in der Rehaklinik X.________ von einigen Wochen in
der Tat nur unregelmässig ambulanten Behandlungen unterzogen.

5.4 Aus einem am 4. Oktober 2004 erstellten ärztlichen Bericht von Dr. med.
L.________ geht hervor, dass kein schwieriger Heilverlauf mit Komplikationen
vorlag und dass die Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdegegnerin nur bis
ungefähr Ende 2004 ausgewiesen ist. Aber selbst wenn die Beurteilung der
Adäquanz nach der Schleudertraumapraxis vorzunehmen wäre und daher weiterhin
eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit relevant wäre, würde dies für die
Bejahung des Kausalzusammenhangs für sich allein und auch noch zusammen mit
dem allenfalls erfüllten Kriterium der Dauerbeschwerden nicht genügen.

6.
Unbegründet ist schliesslich der Einwand der Beschwerdegegnerin, die SUVA
hätte den Fall zu früh abgeschlossen. Schon in der kreisärztlichen
Untersuchung vom 4. August 2004 wurde etwa der gleiche Gesundheitszustand der
Versicherten wie ein Jahr zuvor im Arztzeugnis des Dr. med. K.________ vom 8.
Juli 2003 ermittelt. Aber auch bis zur Erstellung des
Hospitalisationsberichts des Kantonsspitals Y.________ vom 8. März 2005 und
des neuen Artzberichts von Dr. med. K.________ vom 4. Juni 2005 kann keine
wesentliche gesundheitliche Änderung festgestellt werden. Der Fallabschluss
war unter diesen Umständen berechtigt und die SUVA hat ihre Leistungspflicht
mangels Unfallkausalität ab 30. November 2004 somit zu Recht eingestellt.

7.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung
kann der Beschwerdegegnerin gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art.
135 OG), da ihre Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung geboten war
(BGE 125 V 202 E. 4a und 372 E. 5b je mit Hinweisen). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 5.
April 2006 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokat  Dominik
Zehntner für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 25. April 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: