Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 319/2006
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Prozess {T 7}
U 319/06

Urteil vom 24. November 2006
II. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Borella und Kernen; Gerichtsschreiber
Traub

L.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Thomas Schwarz,
Marktgasse 23/25,
4902 Langenthal,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 1. Juni 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1977 geborene L.________ arbeitete seit August 2000 als
Betriebsmitarbeiter (Ofenführer) bei der Firma G.________ und war somit
obligatorisch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen
die Folgen von Unfällen versichert. Am 31. Januar 2003 erlitt er während der
Arbeit einen Unfall, als er sich bei der Reinigung einer Maschine den rechten
Vorderarm einklemmte. Dabei zog er sich mehrere Rissquetschwunden zu. In der
Folge trat ein schmerzhaftes Logensyndrom auf, welches noch gleichentags
operativ behandelt wurde. Am 25. April 2003 schloss der behandelnde Mediziner
Dr. R.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie, die Behandlung mit der
Feststellung ab, der Vorderarm habe sich fast vollständig erholt; ab dem
28. April 2003 sei eine Arbeitsfähigkeit von 50 % und ab dem 5. Mai 2003 eine
solche von 100 % zu erwarten. Die SUVA erbrachte für die Unfallfolgen Heil-
und Taggeldleistungen.

Im Mai 2003 meldete sich der Versicherte nach einem Arbeitsversuch erneut
arbeitsunfähig. Vom 26. November 2003 bis 14. Januar 2004 hielt sich
L.________ in der Rehaklinik B.________ auf. Im Frühjahr 2004 erfolgte eine
mehrwöchige stationäre Psychotherapie in der Privatklinik W.________.
Schliesslich führte der Kreisarzt Dr. I.________ am 23. Dezember 2004 eine
Abschlussuntersuchung durch und schätzte den Integritätsschaden auf 5 %. Mit
Verfügung vom 24. Januar 2005 stellte die SUVA die Leistungen mit dem
15. Februar 2005 ein. Die verbliebene Leistungseinschränkung sei psychogener
Natur und stehe nicht in rechtserheblichem Zusammenhang mit dem
Unfallereignis. Demzufolge lehnte es der Unfallversicherer auch ab, eine
Invalidenrente auszurichten, sprach dem Versicherten hingegen eine
Integritätsentschädigung von 5 % zu. Auf Einsprache hin hielt die SUVA an
ihrer Beurteilung fest (Entscheid vom 6. April 2005).

B.
L.________ liess gegen den Einspracheentscheid Beschwerde erheben und die
Zusprechung einer ganzen Invalidenrente sowie eine Anpassung der
Integritätsentschädigung beantragen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
wies die Beschwerde mit Entscheid vom 1. Juni 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ den vorinstanzlich
gestellten Antrag erneuern.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente der Unfallversicherung
sowie auf eine Integritätsentschädigung auch für die nichtorganischen
Gesundheitsschädigungen, wie sie nach dem Unfall eingetreten sind. Der
Rechtsstreit betrifft allein noch die Frage, ob die Adäquanz des
Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis vom 31. Januar 2003 und dem
nachmaligen psychischen Gesundheitsschaden gegeben sei.

Nach den zutreffenden Ausführungen von Verwaltung und Vorinstanz, auf welche
verwiesen werden kann, setzt die Leistungspflicht des Unfallversicherers nach
Art. 6 Abs. 1 UVG voraus, dass zwischen Unfallereignis und eingetretenem
Gesundheitsschaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher (BGE
129 V 181 Erw. 3.1 mit Hinweisen) und adäquater (BGE 129 V 181 Erw. 3.2, 405
Erw. 2.2, 125 V 461 Erw. 5a) Kausalzusammenhang besteht. Die Kriterien der
Adäquanzbeurteilung bei psychischen Fehlentwicklungen mit Einschränkung der
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit nach Unfällen ohne Distorsion der
Halswirbelsäule oder vergleichbaren Körpereinwirkungen (BGE 115 V 133) sind
ungeachtet der konkret in Betracht fallenden Leistungen (wie Heilbehandlung
[Art. 10 UVG], Taggeld [Art. 16 UVG], Integritätsentschädigung [Art. 24 UVG]
oder Invalidenrente [Art. 18 UVG]) massgebend (BGE 127 V 102).

2.
Der Beschwerdeführer lässt im Wesentlichen geltend machen, dass die bei ihm
bestehende psychische Störung eine adäquate Folge des versicherten
Unfallereignisses sei und dass sich diese Beeinträchtigung demzufolge bei der
Bemessung des Invaliditätsgrads und der Integritätsentschädigung auswirken
müsse.

2.1 Die Vorinstanzen haben die Frage der Adäquanz des Kausalzusammenhangs
gestützt auf eine Prüfung der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien
(vgl. dazu BGE 115 V 140 Erw. 6c) verneint. Dabei haben sie den Unfall
aufgrund des tatsächlichen Geschehensablaufs zu Recht als mittelschwer
eingestuft (zur Kasuistik vgl. etwa RKUV 2005 Nr. U 555 S. 324 Erw. 3.4, 1999
Nr. U 330 S. 122 Erw. 4b/bb). Im Übrigen kommt die Rechtsprechung zur
Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs bei psychischer Schädigung nach
Schreckereignissen (BGE 129 V 177) nicht zur Anwendung; diese ist denjenigen
Fällen vorbehalten, in denen kein eigentlicher Unfall - in Gestalt einer
unmittelbaren Einwirkung auf den Körper der versicherten Person - geschehen
ist.

2.2 In Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien (vgl. den
Verweis in Erw. 1 hievor) ergibt sich Folgendes:
2.2.1 Für die Beantwortung der Frage, ob der Unfall besonders dramatische
Begleitumstände oder eine besondere Eindrücklichkeit aufwies, ist - im
Hinblick auf die Gebote der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen
Behandlung der Versicherten - nicht auf das subjektive Erleben abzustellen,
sondern auf die objektive Eignung der Umstände, bei den Betroffenen
psychische Beeinträchtigungen auszulösen (RKUV 1999 Nr. U 335 S. 209
Erw. 3b/cc).

2.2.1.1 In formeller Hinsicht rügt der Beschwerdeführer in diesem
Zusammenhang, die Vorinstanz habe die "einseitige Darstellung der SUVA
betreffend den Unfallhergang" übernommen und es unterlassen, ein eigenes
Beweisverfahren durchzuführen. Somit habe sie gegen das Willkürverbot (Art. 9
BV) und gegen Art. 6 EMRK verstossen. Der Beschwerdeführer hat indes nicht
stichhaltig dargelegt, inwiefern das Willkürverbot und Art. 6 EMRK verletzt
sein sollten. Auch aus den Akten ergeben sich diesbezüglich keine
Anhaltspunkte.

2.2.1.2 Die Darstellungen der Parteien über den Unfallhergang bzw. dessen
Begleitumstände und die daraus abzuleitende Eindrücklichkeit des Geschehens
gehen stark auseinander. Die in den Akten dokumentierten Erhebungen vor Ort
ergeben diesbezüglich kein eindeutiges Bild. Eine abschliessende
Rekonstruktion des Ablaufs ist allerdings entbehrlich. Wenn sich das
Unfallgeschehen nicht mehr genau nachzeichnen lässt, kann dessen
grundsätzlicher Schweregrad anhand der erlittenen Verletzungen erfasst
werden, also nicht wie sonst üblich anhand des Unfallgeschehens (nicht
veröffentlichtes Urteil S. vom 31. Dezember 1991, U 7/89, Erw. 5a). Ähnlich
verhält es sich mit der Grundlage für der Einschätzung der Eindrücklichkeit
sowie der Dramatik der Begleitumstände. Einerseits ist die unmittelbare
Lebensbedrohlichkeit des Vorgangs an sich aufgrund der Art der erlittenen
Verletzungen (mehrere Rissquetschwunden im Bereich des rechten Vorderarms,
aber keine ossären Läsionen) zu verneinen (vgl. etwa auch das nicht
veröffentlichte Urteil E. vom 23. Februar 1999, U 133/98, Erw. 3d).
Anderseits ist die geltend gemachte Gefahr einer Verbrennung und Abtrennung
des eingeklemmten Arms (im Falle eines nicht rechtzeitigen Abschaltens der
Maschine) sicherlich geeignet, beim Betroffenen zunächst einen Schockzustand
hervorzurufen. Dass damit auch eine nachhaltige psychische Traumatisierung
verbunden war, kann indes nach Lage der Akten nicht angenommen werden: In den
ärztlichen Berichten ist vorerst nur von einem postoperativ guten
Heilungsverlauf die Rede (Schreiben des Orthopäden Dr. R.________ vom
25. April 2003). Belastungsabhängige Schmerzen führten zwar bald wieder zu
einer Arbeitsunfähigkeit (Schreiben desselben Arztes vom 14. Mai 2003). Doch
erst für die Zeit ab Ende Juni 2003 ist eine "posttraumatische
Symptombildung" ausgewiesen (Berichte der Psychologin I.________ vom
13. August 2003 und vom 27. Februar 2004; vgl. auch den Bericht des
Kreisarztes vom 24. Juli 2003). Wären das Ereignis und seine Begleitumstände
objektiv geeignet gewesen, originär traumatisch bedingte psychische
Beschwerden auszulösen, so müsste eine psychologische oder psychiatrische
Betreuungsbedürftigkeit schon für einen früheren Zeitpunkt ausgewiesen sein.
An dieser Feststellung ändert auch der Umstand nichts, dass psychische
Symptome nach einem Unfall häufig erst mit einiger Verzögerung ("Latenz")
auftreten. Eine solche ergibt sich typischerweise aus einer zeitlich
beschränkten Kompensation bzw. Verdrängung von bleibenden körperlichen
Unfallfolgen. Nach einer medizinischen Lehrmeinung beginnt mitunter erst,
wenn nach einer mehr oder weniger langen Zeit die Beschwerden persistieren
und die Unfallfolgen ihrerseits Konsequenzen zeigen (z.B. Einbusse der
Leistungsfähigkeit), eine verspätete Auseinandersetzung mit dem Ereignis und
seinen Folgen, die, wenn sie nicht regelrecht abläuft, in psychiatrische
Krankheitsbilder münden kann (Jürg Haefliger/Ulrich Schnyder, Zum Phänomen
der Latenz in der Psychotraumatologie, unter spezieller Berücksichtigung des
Unfalltraumas, in: SZS 41/1997, S. 290 f.). Nach dieser Darstellung liegt der
Latenz eine Psychodynamik zugrunde, aufgrund welcher erst nach Wegfall von
gewissermassen ablenkenden Umständen eine tatsächliche Konfrontation mit
gravierenden Unfallfolgen stattfindet. Demgegenüber ist die Eindrücklichkeit
eines glücklicherweise noch rechtzeitig abgewendeten beträchtlich schwereren
Verlaufs des Unfalls von Beginn weg manifest; auf sie passt die medizinische
Erklärung für die Latenz demgemäss nicht.

2.2.2 Bezüglich der Schwere und der besonderen Art der erlittenen
Verletzungen ist festzuhalten, dass die Quetschungen am Vorderarm durch einen
operativen Eingriff erfolgreich behandelt werden konnten. Auch der
postoperative Verlauf an sich war wie erwähnt komplikationslos. Für sich
allein betrachtet erscheinen die organischen Verletzungen demzufolge nicht
geeignet, eine psychische Fehlentwicklung herbeizuführen.

2.2.3 Ebensowenig kann von einer langen Dauer der ärztlichen Behandlung oder
der Arbeitsunfähigkeit aus körperlichen Gründen ausgegangen werden.
Dr. R.________ stellte bereits zwölf Wochen nach der Operation eine fast
vollständige Erholung des Vorderarms fest. Ab dem 28. April 2003 bestehe eine
Arbeitsfähigkeit von 50 % und ab dem 5. Mai 2003 eine solche von 100 %
(Bericht vom 25. April 2003). Nach einem Rückfall, bei dem der
Beschwerdeführer ab dem 8. Mai 2003 wieder vollständig arbeitsunfähig wurde,
folgten weitere Untersuchungen. Die neurologische Abklärung durch den
Neurologen Dr. G.________ förderte keine sicheren motorischen Defizite zutage
(Bericht vom 5. Juni 2003). Ein ähnliches Bild ergab die kreisärztliche
Untersuchung vom 18. September 2003. Dabei kam Dr. I.________ zum Schluss,
der Verlauf nach der schweren Armverletzung sei "sehr günstig". Am
23. September 2003 hob Dr. G.________ hervor, aus neurologischer Sicht sei
eine Arbeitsfähigkeit von 100 % zu postulieren.

Derweil sind die gesundheitlichen Beschwerden, welche die Behandlungsdauer
verlängerten, vorwiegend psychischer Natur und können als solche nicht in die
Adäquanzbeurteilung einbezogen werden: In Konsilien vom 8. und 15. Januar
2004 hielt der leitende Arzt der Psychosomatik an der Rehaklink B.________,
Dr. K.________, fest, dass sich beim Versicherten eine Persönlichkeitsstörung
mit Selbstwertproblematik, unreifen Zügen und allenfalls histrionischem
Agieren abzeichne. Den Schweregrad einer darüber hinaus bestehenden
psychotraumatischen Störung schätzte er jedoch als eher gering ein. Ebenso
ergab die kreisärztliche Abschlussuntersuchung vom 23. Dezember 2004 eine im
Vordergrund stehende psychische Problematik, bestehend aus Angststörung,
Nervosität, sozialem Rückzug und Vermeidensverhalten.

2.2.4 Wie es sich mit dem vorinstanzlich ebenfalls verneinten Kriterium
körperlicher Dauerschmerzen verhält, bedarf keiner abschliessenden Prüfung.
Denn auch die Erfüllung (allein) dieses Kriteriums reichte praxisgemäss nicht
aus, um dem Unfall vom 31. Januar 2003 eine adäquanzrechtlich massgebende
Bedeutung für die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers
zuzuschreiben. Auch sind weitere unfallbezogene Umstände, welche
erfahrungsgemäss eine psychische Fehlreaktion begünstigen könnten, nicht
ersichtlich.

2.3 Nach dem Gesagten ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem
versicherten Unfall und den danach eingetretenen Beschwerden zu verneinen.
Der Entscheid der Vorinstanzen, die psychischen Leiden bei der Bemessung der
Invalidität und des Integritätsschadens nicht zu berücksichtigen, ist mithin
zu bestätigen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 24. November 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: