Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 291/2006
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U 291/06

Urteil vom 4. März 2008

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1,
6004 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

H.________, 1950, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Egloff, Bahnhofplatz 1, 5400 Baden.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau
vom 2. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1950 geborene H.________ ist als kaufmännische Angestellte in der Firma
X.________ AG tätig und dadurch bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Unfallfolgen
versichert. Am 3. Februar 2004 glitt sie beim Aussteigen aus dem Auto auf
Glatteis aus und stürzte rückwärts auf den Hinterkopf und den Rücken. Der
wegen danach auftretender Beschwerden aufgesuchte Hausarzt diagnostizierte
einen Status nach Schädelprellung mit reaktivem Cervicalsyndrom mit cephaler
Begleitsymptomatik. Weiter bestätigte er eine Arbeitsunfähigkeit ab dem
Unfallzeitpunkt (hausärztlicher Bericht vom 12. März 2004). Die SUVA
erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld). Mit
Verfügung vom 2. November 2004 eröffnete sie der Versicherten die Einstellung
der Leistungen auf den 31. Oktober 2004; zugleich verneinte sie einen
Anspruch auf eine Invalidenrente und auf eine Integritätsentschädigung.
Begründet wurde dies damit, die noch geklagten Beschwerden stünden nicht in
einem adäquaten Kausalzusammenhang zum versicherten Ereignis. Daran hielt die
SUVA mit Einspracheentscheid vom 13. April 2005 fest.

B.
Die von H.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau gut. Es hob den Einspracheentscheid
auf und verpflichtete die SUVA, weiterhin die gesetzlichen Leistungen zu
erbringen. Zur Begründung führte das Gericht im Wesentlichen aus, der
adäquate Kausalzusammenhang dürfe erst geprüft werden, wenn der normale,
unfallbedingt erforderliche Heilungsprozess abgeschlossen sei. Dieser
Zeitpunkt sei hier noch nicht eingetreten, weshalb die Leistungseinstellung
nicht geschützt werden könne (Entscheid vom 2. März 2006).

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.

H. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Der
angefochtene Entscheid ist indessen vorher ergangen, weshalb sich das
Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG) richtet (Art. 132 Abs. 1 BGG;
BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Leistungen der obligatorischen
Unfallversicherung aus dem Unfall vom 3. Februar 2004 über den 31. Oktober
2004 hinaus.

2.1 Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die Bestimmung über
die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers bei
Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten (Art. 6 Abs. 1 UVG)
richtig wiedergegeben. Gleiches gilt für die Grundsätze über den für einen
Leistungsanspruch nebst anderem erforderlichen natürlichen Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität,
Tod; BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181 mit Hinweisen). Ebenfalls zutreffend
dargelegt ist die Rechtsprechung über den zusätzlich zum natürlichen
Kausalzusammenhang erforderlichen adäquaten Kausalzusammenhang. Danach spielt
im Sozialversicherungsrecht die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich
aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des
Unfallversicherers im Bereich organisch objektiv ausgewiesener Unfallfolgen
praktisch keine Rolle, da sich hier die adäquate weitgehend mit der
natürlichen Kausalität deckt (BGE 127 V 102 E. 5b/bb S. 103 mit Hinweisen).
Anders verhält es sich bei natürlich unfallkausalen, aber organisch nicht
objektiv ausgewiesenen Beschwerden. Hier ist bei der Beurteilung der Adäquanz
vom augenfälligen Geschehensablauf auszugehen, und es sind je nachdem weitere
unfallbezogene Kriterien einzubeziehen (BGE 117 V 359 E. 6 S. 366 ff. und 369
E. 4 S. 382 ff., 115 V 133 E. 6 S. 138 ff.). Bei psychischen
Fehlentwicklungen nach Unfall werden diese Adäquanzkriterien unter Ausschluss
psychischer Aspekte geprüft (BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140), während bei
Schleudertraumen (BGE 117 V 359 E. 6a S. 367) und äquivalenten Verletzungen
der HWS (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 E. 2) sowie Schädel-Hirntraumen (BGE 117 V
369 E. 4b S. 383) auf eine Differenzierung zwischen physischen und
psychischen Komponenten verzichtet wird (vgl. zum Ganzen auch BGE 127 V 102
E. 5b/bb S. 103 und SVR 2007 UV Nr. 8 S. 27, E. 2 ff., U 277/04, je mit
Hinweisen).

2.2 Im jüngst ergangenen, noch nicht in der Amtlichen Sammlung
veröffentlichten Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 hat das Bundesgericht
die Praxis zur Kausalitätsprüfung bei Unfall mit Schleudertrauma,
äquivalenter Verletzung der HWS oder Schädel-Hirntrauma ohne organisch
objektiv ausgewiesene Beschwerden (sog. Schleudertrauma-Praxis) in mehrfacher
Hinsicht präzisiert. Gemäss diesem Urteil ist am Erfordernis einer besonderen
Adäquanzprüfung bei Unfällen mit solchen Verletzungen festzuhalten (E. 7-9
des erwähnten Urteils). Auch besteht keine Veranlassung, die bewährten
Grundsätze über die bei dieser Prüfung vorzunehmende Einteilung der Unfälle
nach deren Schweregrad und den abhängig von der Unfallschwere gegebenenfalls
erforderlichen Einbezug weiterer Kriterien in die Adäquanzbeurteilung zu
ändern (E. 10.1). Das Bundesgericht hat aber die Anforderungen an den
Nachweis einer natürlich unfallkausalen Verletzung, welche die Anwendung der
Schleudertrauma-Praxis rechtfertigt, erhöht (E. 9) und die adäquanzrelevanten
Kriterien teilweise modifiziert (E. 10).

3.
Das kantonale Gericht hat in Bezug auf die streitige Leistungsberechtigung
erwogen, die persistierenden Beschwerden seien natürlich kausal auf das
Unfallereignis zurückzuführen, könnten aber nicht mit organisch objektiv
ausgewiesenen Unfallfolgen erklärt werden. Der für eine Leistungsberechtigung
nebst dem natürlichen erforderliche adäquate Kausalzusammenhang müsste daher
grundsätzlich einer besonderen Prüfung unterzogen werden, was nach der
Schleudertrauma-Praxis zu erfolgen habe. Die Adäquanzbeurteilung könne aber
noch nicht erfolgen, da der normale, unfallbedingt erforderliche
Heilungsprozess nicht abgeschlossen sei. Daher sei der Einspracheentscheid
vom 13. April 2005, mit welchem die SUVA eine weitere Leistungspflicht mit
der Begründung, die noch geklagten Beschwerden seien nicht adäquat
unfallkausal, verneinte, aufzuheben.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtsbeschwerde führenden
Unfallversicherers ist die Adäquanzprüfung nicht verfrüht erfolgt. Weiter
wird, zumindest in einem Teil der Rechtsmittelbegründung, das Vorliegen einer
natürlich unfallkausalen Verletzung, welche die Anwendung der
Schleudertrauma-Praxis zu begründen vermöchte, sinngemäss in Frage gestellt.
Demgegenüber erachtet die Versicherte den angefochtenen Entscheid für
rechtmässig.

4.
4.1 Im erwähnten Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 hat sich das
Bundesgericht auch kritisch mit dem verschiedentlich erhobenen Einwand
auseinandergesetzt, mit der Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhanges bei
organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden müsse bis zur Beendigung
des normalen, unfallbedingten Heilungsprozesses zugewartet werden. Es hat
erkannt, dass nicht danach zu fragen ist, in welchem Zeitpunkt die
Adäquanzprüfung vorzunehmen ist, sondern wann der Unfallversicherer den Fall
(unter Einstellung der vorübergehenden Leistungen und Prüfung des Anspruchs
auf eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung) abzuschliessen hat
(erwähntes Urteil, E. 3.2). Dies hat gestützt auf Art. 19 Abs. 1 UVG in dem
Zeitpunkt zu geschehen, in welchem von der Fortsetzung der ärztlichen
Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten
mehr erwartet werden kann und allfällige Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung abgeschlossen sind. Das Bundesgericht hat klargestellt,
der Fallabschluss dürfe nicht mit der Begründung, der adäquate
Kausalzusammenhang könne noch nicht geprüft werden, über diesen Zeitpunkt
hinausgezögert werden (erwähntes Urteil, E. 3 und 4).
Aus dem Gesagten erhellt, dass der von der SUVA auf den 31. Oktober 2004
vorgenommene Fallabschluss nicht mit der Begründung der verfrühten
Adäquanzprüfung für unrechtmässig erklärt werden kann. Die Rechtmässigkeit
des Fallabschlusses beurteilt sich, da keine Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung zur Diskussion stehen, danach, ob von einer Fortsetzung
der ärztlichen Behandlung über den 31. Oktober 2004 hinaus noch eine namhafte
Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden konnte. Die SUVA
bestreitet dies.

4.2 Was unter einer namhaften Besserung des Gesundheitszustandes im Sinne von
Art. 19 Abs. 1 UVG zu verstehen ist, hat das Bundesgericht im Urteil U 394/06
vom 19. Februar 2008 näher umschrieben. Danach bestimmt sich dies namentlich
nach Massgabe der zu erwartenden Steigerung oder Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit, soweit unfallbedingt beeinträchtigt, wobei die durch
weitere Heilbehandlung zu erwartende Besserung ins Gewicht fallen muss.
Unbedeutende Verbesserungen genügen nicht (besagtes Urteil, E. 4.3 mit
Hinweisen).

4.3 Aus den medizinischen Akten (insbesondere Untersuchungsbericht Frau Dr.
V.________, Fachärztin FMH für Neurologie, vom 6. Oktober 2004 und Ärztliche
Beurteilung Kreisarzt Dr. med. W.________, FMH Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 31. März 2005 ergibt sich, dass die von den Fachärzten
noch empfohlenen Therapien dazu dienen sollten, die Schmerzen zu lindern und
die Versicherte ihre Situation besser verstehen zu lassen. Eine namhafte
Besserung des Gesundheitszustandes konnte davon aber nicht erwartet werden.
Dass die begonnene Akupunktur-Behandlung einen solchen Effekt erbringen
könne, entsprach sodann zwar der Hoffnung der Versicherten. Es liegt aber
keine zuverlässige ärztliche Bestätigung dafür vor, dass diese
Erwartungshaltung berechtigt war. Was sodann die mehrfach verordnete
Physiotherapie betrifft, ist festzustellen, dass entsprechende Massnahmen
zunehmend der Eigenverantwortung der Versicherten (Selbsttraining) übertragen
wurden und eine ärztliche/ physiotherapeutische Begleitung sich mithin auf
allenfalls noch erforderliche Anleitungen beschränkte. Die SUVA hat demnach
den Fall nicht zu früh abgeschlossen und den Anspruch auf eine Invalidenrente
und eine Integritätsentschädigung nicht zu früh beurteilt.
Die Vorbringen der Versicherten führen zu keiner anderen Betrachtungsweise.
Das gilt auch für den neu aufgelegten Bericht der Klinik Y.________ vom
15. August 2006 über eine stationäre Behandlung, zumal diese erst am
8. Februar 2006 begonnen wurde. Der Klinikaufenthalt erfolgte mithin deutlich
nach dem vom Versicherer ausgesprochenen Fallabschluss, aber auch nach dem
Erlass des Einspracheentscheides vom 13. April 2005, welcher
rechtsprechungsgemäss die zeitliche Grenze der gerichtlichen
Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 129 V 167 E. 1 S. 169 mit Hinweis auf 121 V
362 E. 1b S. 366).

4.4 Der Entscheid der Vorinstanz ist daher aufzuheben und die Sache an diese
zurückzuweisen, damit sie über die materielle Richtigkeit des
Einspracheentscheides vom 13. April 2005 hinsichtlich des Anspruchs auf eine
Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung befinde. Die Parteien können
im kantonalen Verfahren ihre diesbezüglichen Standpunkte ergänzend erläutern,
sofern sie sich dazu aufgrund der mit Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008
präzisierten bundesgerichtlichen Praxis veranlasst sehen.

5.
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 134 OG). Eine Parteientschädigung ist
nicht zuzusprechen (Art. 159 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 2. März 2006
aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im
Sinne der Erwägungen über die Beschwerde neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. März 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Lanz