Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 284/2006
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Prozess {T 7}
U 284/06

Urteil vom 13. November 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

A.________, 1956, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Valentin
Pfammatter, Sonnenstrasse 9, 3900 Brig,

gegen

Allianz Suisse Leben, Rechtsdienst, Laupenstrasse 27, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin

Kantonsgericht Wallis, Sitten

(Entscheid vom 1. Mai 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene A.________ war als selbstständig erwerbender Metzger bei
der Elvia Versicherungen (nunmehr Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft;
im Folgenden: Allianz) gegen Unfälle versichert. Am 26. September 1994 erlitt
er bei der Arbeit eine Teilamputation des Daumens und des Zeigefingers der
linken Hand. In der Folge musste sich der Versicherte verschiedenen
operativen Eingriffen unterziehen, und er absolvierte Rehabilitations- sowie
berufliche Abklärungsaufenthalte. Im Laufe der Zeit traten zunehmend
psychische Beschwerden auf. Die Allianz kam für die Heilbehandlung auf und
richtete Taggelder aus. Mit Verfügung vom 28. September 2001 stellte sie die
Leistungen auf Grund der fachärztlichen Angaben rückwirkend auf den 31. Juli
2001 ein, weil A.________ in somatischer Hinsicht wieder arbeitsfähig sei,
während die psychischen Beschwerden in keinem natürlichen Kausalzusammenhang
zum Unfall stünden. Auf Einsprache hin hielt die Allianz an ihrem Standpunkt
fest (Entscheid vom 25. September 2002).

B.
A liess Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des
Einspracheentscheides sei festzustellen, dass zwischen dem Unfallereignis und
dem psychischen Leiden ein natürlicher Kausalzusammenhang bestehe, und die
Allianz sei zu verpflichten, ihm ab 1. August 2001 weiterhin Taggelder
auszurichten. Das Kantonale Versicherungsgericht des Wallis gelangte gestützt
auf das von ihm eingeholte psychiatrisch-neurologische Gutachten des Dr. med.
B.________, Zentrum für Versicherungsmedizinische Begutachtung, vom
17. August 2004 zum Schluss, dass zwischen dem Unfall und der schweren,
vollständig chronifizierten Depression, welche die Arbeitsfähigkeit des
Versicherten beeinträchtigt, ein natürlicher Kausalzusammenhang bestehe,
verneinte indessen die Adäquanz dieses Zusammenhangs. Dementsprechend wies es
die Beschwerde ab, soweit sie den Taggeldanspruch zum Gegenstand hatte,
während es die Sache unter teilweiser Aufhebung des Einspracheentscheides an
die Allianz zurückwies, damit sie den Anspruch auf eine Invalidenrente prüfe
(Entscheid vom 13. Dezember 2004).

C.
In teilweiser Gutheissung der von A.________ eingereichten
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hob das Eidgenössische Versicherungsgericht den
angefochtenen Entscheid vom 13. Dezember 2004 auf und wies die Sache an das
Kantonale Versicherungsgericht des Wallis zurück, damit es im Sinne der
Erwägungen verfahre und über die Beschwerde neu entscheide (Urteil vom 24.
Mai 2005, U 53/05). Das Gericht gelangte zum Schluss, dass die Vorinstanz den
Anspruch des Versicherten auf rechtliches Gehör verletzt habe, indem sie die
adäquate Kausalität zwischen dem Unfall und der psychischen Fehlentwicklung
ohne Wahrung der Parteirechte beurteilt habe, obwohl diese Frage von der
Allianz weder in der Verfügung noch im Einspracheentscheid behandelt worden
sei. Das kantonale Gericht habe das Versäumte nachzuholen und hernach über
die Beschwerde neu zu entscheiden.

D.
In Befolgung dieses Urteils räumte das kantonale Gericht den Parteien
Gelegenheit ein, zur Frage nach dem adäquaten Kausalzusammenhang Stellung zu
nehmen, wovon die Allianz mit Eingabe vom 28. Juni 2005, A.________ mit
Eingabe vom 14. Juli 2005, Gebrauch machten.

Mit Entscheid vom 1. Mai 2006 wies das kantonale Versicherungsgericht die
Beschwerde ab.

E.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ beantragen, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und des Einspracheentscheides sei
die Allianz zu verpflichten, ihm ab 1. August 2001 weiterhin Taggelder auf
der Grundlage voller Arbeitsunfähigkeit zu bezahlen; eventuell sei die Sache
zur Festlegung einer Invalidenrente und einer Integritätsentschädigung an die
Allianz zurückzuweisen; diese sei überdies anzuweisen, die Heilbehandlung für
die Folgen des Unfalls vom 26. September 1994 zu übernehmen, soweit sie dafür
bisher nicht aufgekommen sei. Ferner ersucht er um die Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.

Während die Allianz auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Mit Eingabe vom 22. August 2006 nimmt der Versicherte zur Vernehmlassung der
Allianz Stellung; diese wiederum äussert sich in einer Eingabe vom 25. August
2006 zur Stellungnahme von A.________.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht macht der Beschwerdeführer geltend, die
Vorinstanz habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie die
von ihm in der Ergänzung zur Beschwerde beantragte Zusatzexpertise nicht
durchgeführt habe. Diese Rüge ist unbegründet. Das kantonale Gericht hat
diesen Beweisantrag in antizipierter Beweiswürdigung abgewiesen, da es hievon
keine verwertbaren Erkenntnisse erwartet hat. Dazu war es befugt, und in
diesem Vorgehen ist keine Verletzung des rechtlich geschützten
Gehörsanspruchs zu erblicken (BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d).
Gleiches gilt für den Verzicht auf Beizug der für die Unfallkausalität
belanglosen Akten der Invalidenversicherung. Entgegen der Behauptung des
Versicherten war die Vorinstanz auch nicht verpflichtet, über den
Beweisantrag mittels Zwischenverfügung zu befinden.

2.
Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht der
Unfallversicherung zunächst vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität,
Tod) zutreffend dargelegt (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b). Ebenso
hat sie die Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfall und der in der Folge einsetzenden psychischen Fehlentwicklung mit
Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 115 V 133) richtig
wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.

3.
Gestützt auf die medizinischen Unterlagen ist erstellt und im Übrigen
unbestritten, dass zwischen dem Unfallereignis und dem psychischen Leiden des
Beschwerdeführers ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Zu prüfen ist,
ob die für die Leistungspflicht der Allianz über den 31. Juli 2001 hinaus
weiter vorausgesetzte Adäquanz des Kausalzusammenhangs gegeben ist. Diese
Frage beurteilt sich nach Massgabe von BGE 115 V 133.

3.1 Auf Grund des augenfälligen Geschehensablaufs und der vom Versicherten an
Daumen und Zeigefinger der linken Hand erlittenen Verletzungen ist der Unfall
vom 26. September 1994 im Rahmen der Einteilung, wie sie für die Belange der
Adäquanzbeurteilung praxisgemäss vorzunehmen ist, mit dem kantonalen Gericht
dem mittleren Bereich zuzuordnen. Damit die Adäquanz bejaht werden könnte,
müsste somit eines der massgebenden unfallbezogenen Kriterien gemäss BGE 115
V 140 Erw. 6c/aa in besonders ausgeprägter Weise erfüllt oder es müssten
mehrere unfallbezogene Kriterien gegeben sein (BGE 115 V 140 Erw. 6c/bb).

3.2 Dies trifft hier nicht zu. Der Unfall ereignete sich nicht unter
besonders dramatischen Begleitumständen und kann auch nicht als besonders
eindrücklich bezeichnet werden. Die beim Unfall erlittenen Verletzungen sind
insofern nicht besonders schwer, als sie nicht die Gebrauchshand betroffen
haben; schon aus diesem Grund kann nicht gesagt werden, dass sie
erfahrungsgemäss geeignet seien, eine psychische Fehlentwicklung auszulösen.

3.3 Des Weiteren dauerte die ärztliche Behandlung lange, und der
Beschwerdeführer musste sich nach der Erstversorgung bis letztmals am 21.
Januar 1999, somit während eines Zeitraums von über vier Jahren, mehreren
operativen Eingriffen unterziehen. Erst am 13. April 2000 erachtete Dr. med.
S.________, Chefarzt am Regionalspital I.________, den Fall aus somatischer
Sicht als abgeschlossen. Auch wenn im Verlauf der Zeit die
Behandlungsbedürftigkeit des psychischen Leidens in den Vordergrund trat, wie
die Vorinstanz ausführt, waren es doch die physischen Unfallfolgen, welche
die verschiedenen chirurgischen Eingriffe und die damit zusammenhängenden
Therapien erforderlich machten. Das Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer
der ärztlichen Behandlung ist damit, wenn auch nicht besonders ausgeprägt,
als erfüllt zu erachten.

3.4 Sodann kann als erwiesen gelten, dass der Beschwerdeführer an
körperlichen Dauerschmerzen, insbesondere im Bereich des linken Daumens,
leidet, auch wenn die schon nach kurzer Zeit auftretende psychische
Überlagerung des somatischen Beschwerdebildes nicht zu verkennen ist.

3.5 Hingegen kann von einer ärztlichen Fehlbehandlung, welche die
Unfallfolgen erheblich verschlimmert, nicht gesprochen werden. Zwar trifft es
zu, dass die Erledigung eines Versicherungsfalles, sei es durch die
Behandlung als Naturalleistung der Versicherung, sei es durch die Abklärungen
der Kreis- und anderen beigezogenen Ärzte, zur Verschlimmerung oder
Verfestigung der psychogenen Beschwerden beitragen kann und solche Umstände
gegebenenfalls unter das Kriterium der ärztlichen Fehlbehandlung mit
Verschlimmerung der Unfallfolgen zu subsumieren sind (SVR 1996 UV Nr. 58 S.
193 f. Erw. 4e). Anhaltspunkte dafür, dass die Erledigung des
Versicherungsfalles durch die Allianz zur Verfestigung oder gar zur
Verschlimmerung des psychischen Gesundheitsschadens geführt habe, fehlen
jedoch. Wenn die Beschwerdegegnerin ihre Taggeldzahlungen teilweise nur
schleppend erbracht hat, wie der Versicherte geltend macht, kann darin kein
Umstand erblickt werden, der einer ärztlichen Fehlbehandlung mit einer
Verfestigung der nach kurzer Zeit imponierenden psychischen Unfallfolgen
gleichgestellt werden könnte. Von der Anordnung eines Gutachtens zu dieser
Frage sind keine abweichenden Erkenntnisse zu erwarten, weshalb auf weitere
Beweismassnahmen zu verzichten ist.

3.6 Ferner ist mit der Vorinstanz ein schwieriger Heilungsverlauf mit
erheblichen Komplikationen zu verneinen. Dass nach der anfänglich zu einer
Verminderung der Schmerzen führenden Behandlung wieder vermehrt Beschwerden
auftraten, die neuerliche Abklärungen und Therapien erforderlich machten,
genügt nicht zur Annahme eines schwierigen Heilungsverlaufs (Urteil B. vom 7.
August 2002, U 313/01). Der Umstand, dass die Behandlung sich über einer
längeren Zeitraum erstreckte, wurde sodann bereits beim Kriterium der
ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung berücksichtigt. Aus der
Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer mehreren Operationen unterziehen
musste, kann nicht auf Komplikationen im Heilungsverlauf geschlossen werden,
sind doch Nachoperationen gerade bei Fingerverletzungen häufig.

3.7 Was schliesslich Grad und Dauer der physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit
betrifft, ist mit dem kantonalen Gericht festzustellen, dass dieses Kriterium
ebenfalls nicht erfüllt ist. Wenn die Allianz vom September 1994 bis Ende
Juli 2001 Taggelder für volle Arbeitsunfähigkeit ausgerichtet hat, ist dies
für die Adäquanzbeurteilung nicht entscheidend. Denn das Kriterium der
somatisch bedingten Arbeitsunfähigkeit beurteilt sich nicht nach Massgabe der
Dauer der Taggeldzahlung, sondern nach medizinischen Gesichtspunkten. Dr.
med. H.________ berichtete bereits am 24. November 1994, dass der
Beschwerdeführer durch die traumatische Teilamputation DIG I+II links sowohl
physisch wie auch psychisch derart traumatisiert sei, dass er zur Zeit nicht
mehr an die Wiederaufnahme der Arbeit als Metzger denken könne. Nachdem sich
der Versicherte zwischenzeitlich einem Eingriff hatte unterziehen müssen,
diagnostizierte der Psychiater Dr. med. F.________ am 19. April 1996 einen
"état dépressif majeur" und hielt fest, dass das Hauptproblem zur Zeit
psychologischer Natur sei. Im Austrittsbericht der Rehabilitationsklinik
B.________ vom 9. April 1997 wurde in psychischer Hinsicht eine erhebliche
Unfallfehlverarbeitungsstörung im Sinne einer posttraumatischen
Anpassungsstörung und reaktiven Depression festgehalten. Schliesslich ergibt
sich aus der von der Vorinstanz angeordneten Expertise des Zentrums für
Versicherungsmedizinische Begutachtung vom 17. August 2004, dass die Dauer
der Behandlung und die Arbeitsfähigkeit schon vor der ersten Dokumentation
durch Dr. med. H.________ (am 24. November 1994) durch die nach dem Unfall
einsetzende Entwicklung der psychischen Beeinträchtigungen beeinflusst war.
Auf Grund dieser schlüssigen ärztlichen Angaben ist ausgewiesen, dass die
Arbeitsunfähigkeit bereits kurz nach dem versicherten Unfall massgeblich der
hernach einsetzenden psychischen Fehlentwicklung zuzuschreiben war. Eine
langdauernde Arbeitsunfähigkeit aus somatischen Gründen ist demgegenüber
nicht erstellt.

4.
Eine gesamthafte Würdigung der in Betracht zu ziehenden Umstände zeigt, dass
dem Unfallereignis für die Entstehung des psychischen Gesundheitsschadens mit
Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit keine massgebende Bedeutung
zukommt. Das kantonale Gericht hat daher die Leistungspflicht der Allianz
über den 31. Juli 2001 hinaus mangels adäquaten Kausalzusammenhangs zu Recht
verneint.

5.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher
als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokat Valentin
Pfammatter, Brig, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Wallis und dem Bundesamt
für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 13. November 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: