Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 27/2006
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Prozess {T 7}
U 27/06

Urteil vom 17. November 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

E.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Markus Schmid,
Steinenschanze 6, 4051 Basel

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 2. Januar 2006)

Sachverhalt:

A.
Für die Folgen eines Unfalls vom 18. August 2000 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) E.________ mit Verfügung vom 25. März 2003
eine Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 26 % zu,
woran sie auf Einsprache hin mit Entscheid vom 29. September 2003 festhielt.

B.
E.________ liess mit Eingabe vom 5. Januar 2004 beim
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt Beschwerde führen mit dem Antrag,
unter Aufhebung des Einspracheentscheides sei die SUVA zu verpflichten, ihm
ab 1. Februar 2003 eine Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit
von 48,5 % auszurichten.

Mit Eingabe vom 21. Januar 2004 ersuchte die SUVA unter Hinweis darauf, dass
die Beschwerde verspätet eingereicht worden sei, um Sistierung des Verfahrens
bis zum Vorliegen des Grundsatzurteils des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts zur Frage der Anwendbarkeit der
Fristenstillstandsbestimmungen des ATSG auf das Beschwerdeverfahren nach UVG,
welchem Antrag das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Verfügung vom
10. Mai 2004 entsprach.

Mit Verfügung vom 27. Dezember 2005 hob der Präsident des
Sozialversicherungsgerichts die am 10. Mai 2004 angeordnete Sistierung des
Verfahrens auf und stellte fest, die Beschwerde sei rechtzeitig eingereicht
worden, weshalb darauf einzutreten sei.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, die vorinstanzliche
Verfügung sei aufzuheben und auf die Beschwerde vom 5. Januar 2004 sei wegen
Fristversäumnis nicht einzutreten.

Während E.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim vorinstanzlichen Zwischenentscheid, lautend auf Eintreten auf die
Beschwerde des Versicherten, handelt es sich um eine selbstständig
anfechtbare Zwischenverfügung im Sinne von Art. 128 in Verbindung mit Art. 97
OG, Art. 5 Abs. 2 und Art. 45 VwVG (SVR 1998 UV Nr. 10 S. 25 f. Erw. 1;
Urteil A. vom 13. Juni 2006, U 446/05). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ist daher einzutreten.

2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in BGE 131 V 314 und 325 erkannt,
dass der Fristenstillstand nach Art. 60 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38
Abs. 4 ATSG auch bei mehrmonatigen Beschwerdefristen zu beachten ist, diese
Regelung jedoch während der fünfjährigen Übergangszeit gemäss Art. 82 Abs. 2
ATSG keine Anwendung findet, wenn das kantonale Recht für die nach Monaten
berechneten Fristen (noch) keinen Fristenstillstand vorsieht. Die Vorinstanz
hat somit zutreffend festgestellt, dass für den Fristenstillstand das
kantonale Recht massgebend ist. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale
Gericht gestützt auf die einschlägige Bestimmung zu Recht auf die Beschwerde
eingetreten ist oder ob es - entsprechend dem von der SUVA in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Standpunkt - zufolge
Fristversäumnis auf Nichteintreten auf das Rechtsmittel hätte erkennen
müssen.

§ 3 des auf den 1. April 2002 in Kraft getretenen Gesetzes über das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und über das
Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen (Sozialversicherungsgesetz, SVGG)
vom 9. Mai 2001 bestimmt:
Die gesetzlichen und richterlichen Fristen, die nach Tagen bestimmt sind,
stehen still:
a. vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach
Ostern,
b. vom 15. Juli bis und mit dem 15. August,
c. vom 18. Dezember bis und mit dem 1. Januar.

4.
4.1 Mit dem kantonalen Recht hat sich das Eidgenössische Versicherungsgericht
grundsätzlich nicht zu befassen (Art. 128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG
und Art. 5 Abs. 1 VwVG). Es hat nur zu prüfen, ob die Anwendung der
einschlägigen kantonalen Bestimmungen oder - bei Fehlen solcher Vorschriften
- die Ermessensausübung durch das kantonale Gericht zu einer Verletzung von
Bundesrecht (Art. 104 lit. a OG), insbesondere des Willkürverbots oder des
Verbots des überspitzten Formalismus, geführt hat (BGE 120 V 416 Erw. 4a, 114
V 205 Erw. 1a mit Hinweisen).

4.2 Nach der Rechtsprechung ist eine Entscheidung willkürlich (vgl. Art. 9
BV), wenn sie eine Norm oder einen klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsatz
offensichtlich schwer verletzt, sich mit sachlichen Gründen schlechthin nicht
vertreten lässt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken
zuwiderläuft. Willkürliche Rechtsanwendung liegt nicht schon vor, wenn eine
andere Lösung in Betracht zu ziehen oder sogar vorzuziehen wäre (BGE 131 I 61
Erw. 2, 129 I 9 Erw. 2.1, 58 Erw. 4, 127 I 41 Erw. 2a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV
ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 125 I 168 Erw. 2a, 125 II
15 Erw. 3a, 124 V 139 Erw. 2b, je mit Hinweisen).

4.3 Die Vorinstanz hat den Fristenstillstand gemäss § 3 SVGG über den
gesetzlichen Wortlaut hinaus auch auf die nach Monaten bemessene Frist des
Art. 106 UVG angewendet und deshalb die Beschwerde als rechtzeitig
eingereicht erachtet. Zur Begründung berief es sich im Wesentlichen auf die
Praxis des aufgehobenen Versicherungsgerichts Basel-Stadt sowie die nach
Ablauf der fünfjährigen Anpassungsfrist des Art. 82 Abs. 2 ATSG geltenden
bundesrechtlichen Vorschriften von Art. 38 Abs. 4 ATSG. Kurze Zeit vor Ablauf
dieser Anpassungsfrist verbiete es sich, die Praxis für eine geringe
Zeitspanne zu ändern.

4.4 Nach dem Wortlaut von § 3 SVGG unterliegen die nach Monaten bestimmten
Fristen, weil nicht erwähnt, keinem Stillstand. Im Ratschlag zuhanden des
kantonalen Gesetzgebers vom 20. Februar 2001 betreffend das SVGG war § 3 noch
umfassender formuliert, indem der Fristenstillstand auch für die nach Monaten
bestimmten Fristen vorgesehen war. Weshalb der Fristenstillstand in der
definitiven Gesetzesfassung auf Fristen, die nach Tagen bestimmt sind,
beschränkt wurde, ist nicht klar, spielt aber keine entscheidende Rolle,
zumal sich für ein Versehen des kantonalen Gesetzgebers keine Anhaltspunkte
finden, sodass nicht zu prüfen ist, wie in einem solchen Fall zu entscheiden
wäre.

4.5 In SVR 1998 UV Nr. 10 S. 26 f. Erw. 2 hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
Kantons Zürich, das aufgrund einer identisch formulierten Norm des Kantons
Zürich (§ 13 des Gesetzes über das Sozialversicherungsgericht vom 7. März
1993; GSVGer) ohne entsprechenden Hinweis in den Gesetzesmaterialien den
Fristenstillstand auf nach Monaten bestimmte Fristen nicht anwendete, nicht
als willkürlich erachtet und darin auch keine anderweitige
Bundesrechtsverletzung erblickt. Daraus kann indessen nicht geschlossen
werden, dass der auf der gegenteiligen Rechtsauffassung beruhende Entscheid
des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt willkürlich ist; dieses beruft
sich für seinen Standpunkt auf seine eigene, mit der Praxis des früheren
kantonalen Versicherungsgerichts übereinstimmende Rechtsprechung und macht
geltend, mit einer Art. 38 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 2 ATSG
entsprechenden Auslegung des kantonalen Rechts könne die gebotene
Vereinheitlichung in der Fristenstillstandsfrage schon während der
fünfjährigen Anpassungszeit (1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2007)
herbeigeführt werden. Wenn die Vorinstanz in Auslegung des kantonalen Rechts
einer Lösung den Vorzug gibt, welche der bundesgesetzlichen Regelung
entspricht, deren intertemporalrechtliche Anwendbarkeit von Bundesrechts
wegen (Art. 82 Abs. 2 ATSG) einzig aus Achtung vor der kantonalen Verfahrens-
und Organisationsautonomie um längstens fünf Jahre aufgeschoben worden ist
und diese Praxis mit keinem materiellen oder formellen Rechtsverlust für die
Rechtsuchenden verbunden ist, besteht kein Raum für die Annahme von Willkür
oder einer sonstigen Bundesrechtsverletzung. Kann bei der Auslegung
kantonalen Verfahrensrechts das Abweichen vom Wortlaut, wie hier, mit
triftigen Gründen gerechtfertigt werden, liegt keine Willkür vor (Urteil des
Bundesgerichts in Sachen M. vom 9. September 2003, 5P.209/2003).

4.6 Auf Grund dieser Erwägungen braucht nicht geprüft zu werden, ob der
Beschwerdegegner sich unter den gegebenen Umständen mit Erfolg auf den
Grundsatz von Treu und Glauben berufen könnte, weil er vom kantonalen
Gerichtspräsidenten eine falsche Auskunft zur Anwendbarkeit von § 3 SVGG auf
nach Monaten bestimmte Fristen erhalten habe.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der SUVA
aufzuerlegen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat dem
Beschwerdegegner zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der SUVA auferlegt und mit dem
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 17. November 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: