Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 270/2006
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Prozess {T 7}
U 270/06

Urteil vom 7. September 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiber
Grunder

Erben des M.________, 1945, gestorben 4. Oktober 2005:

1. R.________,

2. D.________,

3. A.________,

4. S.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Roland Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 29. März 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1945 geborene, als Gipser erwerbstätig gewesene M.________ stürzte am
21. Januar 2003 aus einer Höhe von drei Metern von einem Baugerüst auf das
Gesäss und litt seither an Schmerzen im Bereich des Beckens und der
Lendenwirbelsäule. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung und Taggeld), welche
sie nach umfangreichen medizinischen Abklärungen mit Verfügung vom 22. Juni
2004 ab 1. Juli 2004 einstellte. Im Einspracheverfahren holte die SUVA ein
Aktengutachten des Dr. med. B.________, Facharzt FMH Chirurgie, Leitender
Arzt der Versicherungsmedizin SUVA, vom 31. März 2005 ein und bestätigte die
per 1. Juli 2004 verfügte Leistungseinstellung (Einspracheentscheid vom
18. Mai 2005).

B.
Hiegegen liess M.________ Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau einreichen. Er verstarb am 4. Oktober 2005 während des hängigen
Prozesses. Seine Erben traten in das Verfahren als Rechtsnachfolger ein und
liessen beantragten, es seien die medizinischen Abklärungen mit einem
Obergutachten zu ergänzen und die SUVA sei zu verpflichten, zu Gunsten der
Erbschaft die Taggelder bis zum Todestag des Verstorbenen nachzuzahlen sowie
eine Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 40 %
auszurichten. Das kantonale Gericht zog die Akten der Invalidenversicherung
bei und wies die Beschwerde mit Entscheid vom 29. März 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lassen die Erben des M.________ das
Rechtsbegehren stellen, die SUVA sei zur Bezahlung von Taggeldern bis zum
Todestag des Verstorbenen und zur Ausrichtung einer Integritätsentschädigung
aufgrund einer Integritätseinbusse von 40 % zu verpflichten.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig ist zunächst, ob der Verstorbene an die Arbeitsfähigkeit
beeinträchtigenden psychischen Beschwerden gelitten hat.

1.1 Nach der Rechtsprechung ist hinsichtlich des Beweiswerts eines
Arztberichtes entscheidend, ob dieser auf allseitigen Untersuchungen beruht,
auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet
und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 352
Erw. 3a mit Hinweis).

1.2 Der von der Krankentaggeldversicherung mit der Begutachtung des
Versicherten beauftragte Dr. med. O.________, Psychiatrie und Psychotherpie
FMH, hat anlässlich einer Untersuchung vom 20. September 2004 festgestellt
(Gutachten vom 16. Oktober 2004), der Explorand sei bei klarem Bewusstsein,
in den üblichen Belangen (zeitlich, örtlich, situativ und autopsychisch)
orientiert und die Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistung sei während des
Gesprächs unauffällig gewesen. Der Denkprozess sei inhaltlich auf das
Unfallgeschehen und dessen subjektiv empfundenen Folgen zentriert, sonst aber
formal und inhaltlich unauffällig. Insbesondere fehlten die für eine
depressive Verstimmung typischen formalen Denkstörungen wie Verlangsamung
oder Zähflüssigkeit. Trotz der angegebenen Beschwerden sei die Grundstimmung
insgesamt ausgeglichen bis heiter, das Gespräch im emotionalen Bereich
lebendig und facettenreich. Mimisch wirke der Versicherte völlig
unverkrampft. Aufgrund dieser Befunde kam Dr. med. O.________ zum Schluss,
die vom psychiatrischen Konsilium der Rehaklinik X.________ vom 1. September
2003 sowie im Bericht der Klinik Y.________ vom 3. Mai 2004 (in welchen
Kliniken der Verstorbene vom 27. August bis 26. September 2003 und vom
31. März bis 28. April 2004 hospitalisiert war) erwähnte Anpassungsstörung
(ICD-10: F43.22) liege nicht vor. Im Untersuchungszeitpunkt sei weder Angst
noch eine depressive Verstimmung spürbar, wozu auch die kürzlich begonnene
antidepressive Therapie beigetragen haben möge (vgl. Bericht des Dr. med.
U.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 28. April
2005, wonach der Versicherte seit 19. August 2004 in psychiatrischer
Behandlung stand). Auch die angegebenen Schmerzen seien, abgesehen von den im
Laufe der Untersuchung eingeschobenen plakativen Darstellungen, nicht
spürbar. Sie könnten daher nicht als somatischer Ausdruck eines unbewussten
Konflikts gedeutet werden (im Sinne einer somatoformen Störung). Dafür fehle
auch eine der Umgebung sichtbare, dem Versicherten unbewusste innere
Konfliktsituation. Objektiv sei festzuhalten, dass die Persistenz der
Schmerzen einen beträchtlichen sekundären Krankheitsgewinn beschere (der
Versicherte werde von den Angehörigen gepflegt und umsorgt). Bezeichnend sei,
dass der Explorand den physiotherapeutisch passiven Applikationen gegenüber
aktiven Massnahmen den Vorzug gegeben habe. Gegenwärtig könne keine die
Arbeitsfähigkeit einschränkende psychiatrische Erkrankung diagnostiziert
werden.

1.3 Auf dieses überzeugende Gutachten ist abzustellen, wovon auch SUVA und
Vorinstanz ausgegangen sind. Es steht demnach fest, dass der Versicherte an
keiner psychischen Gesundheitsschädigung mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit gelitten hat. Selbst wenn man eine solche annähme, wäre der
adäquate Kausalzusammenhang zwischen den Folgen des Unfalls und einer
psychischen Symptomatik gestützt auf die Rechtsprechung (BGE 115 V 133) zu
verneinen. Der Sturz vom 21. Januar 2003 ist den Unfällen im mittleren
Bereich zuzuordnen; die erforderlichen Kriterien liegen, wie das kantonale
Gericht zutreffend erkannt hat, nicht in gehäufter und auffallender Weise
vor, noch ist eines in ausgeprägter Weise erfüllt (vgl. a.a.O., S. 141 f.
Erw. 6c). Dies bestreiten die Beschwerdeführer nicht. Sie machen aber
geltend, die Praxis gemäss BGE 115 V 133 sei zu ändern. Auf dieses Vorbringen
ist mangels Begründung nicht näher einzugehen.

2.
Zu prüfen ist weiter, ob der Verstorbene über den 1. Juli 2004 hinaus einen
Taggeldanspruch hatte.
Wie die Vorinstanz, auf deren Erwägungen im Übrigen verwiesen wird (Art. 36a
Abs. 3 OG), zutreffend erkannt hat, ist gestützt auf das Aktengutachten des
Dr. med. B.________ vom 31. März 2005 festzustellen, dass der Versicherte
beim Sturz vom 21. Januar 2003 keine Fraktur im Bereiche des Steiss- und
Kreuzbeins erlitten hat. Der mittels bildgebender Verfahren sichtbar
gewordene Spalt an Sakrum und Kokzyx war vielmehr eine angeborene Anomalie.
Die Stauchung am Gesäss aktivierte zwar die Beschwerden an der durch
mittelschwere degenerative Veränderungen vorgeschädigten Lendenwirbelsäule
und Iliosakralgelenke, sie führte aber nicht zu einer richtunggebenden
Verschlimmerung des Krankheitsbildes. Spätestens ein Jahr nach dem Unfall war
der status quo sine erreicht. Die SUVA hat daher die Leistungen zu Recht ab
1. Juli 2004 eingestellt.

3.
Nach dem Gesagten hat der Verstorbene durch den Unfall vom 21. Januar 2003
keine dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen, geistigen oder
psychischen Integrität erlitten, weshalb kein Anspruch auf eine
Integritätsentschädigung bestand (vgl. Art. 24 Abs. 1 UVG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 7. September 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: