Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 26/2006
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Prozess {T 7}
U 26/06

Urteil vom 6. November 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

D.________, 1977, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Dr. Claude
Schnüriger, Aeschenvorstadt 77, 4051 Basel

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Verfügung vom 27. Dezember 2005)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 9. April 2003 kürzte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) die dem 1977 geborenen D.________ für die
Folgen eines Ereignisses vom 25. Januar 2003 geschuldeten Geldleistungen
wegen starker Provokation um 50 %, woran sie mit Einspracheentscheid vom
26. Mai 2003 festhielt.

B.
Mit Eingabe vom 17. September 2003 liess D.________ beim
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt Beschwerde führen mit dem
Rechtsbegehren, der Einspracheentscheid der SUVA sei aufzuheben. Am
29. Oktober 2003 liess die SUVA beantragen, das Verfahren sei bis zum
Vorliegen des Grundsatzurteils des Eidgenössischen Versicherungsgerichts zur
Anwendbarkeit der Bestimmungen des ATSG über den Fristenstillstand im
Beschwerdeverfahren nach UVG zu sistieren. Mit Verfügung vom 3. November 2003
sistierte das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt das Verfahren
entsprechend diesem Antrag. Mit Verfügung vom 27. Dezember 2005 hob der
Präsident des Sozialversicherungsgerichts die am 3. November 2003 angeordnete
Sistierung des Verfahrens auf und stellte fest, die Beschwerde vom
17. September 2003 sei rechtzeitig erhoben worden, weshalb darauf einzutreten
sei.

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die
vorinstanzliche Verfügung sei aufzuheben und auf die Beschwerde vom
17. September 2003 sei wegen Fristversäumnis nicht einzutreten.

D. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim vorinstanzlichen Zwischenentscheid, lautend auf Eintreten auf die
Beschwerde des Versicherten, handelt es sich um eine selbstständig
anfechtbare Zwischenverfügung im Sinne von Art. 128 in Verbindung mit Art. 97
OG, Art. 5 Abs. 2 und Art. 45 VwVG (SVR 1998 UV Nr. 10 S. 25 f. Erw. 1;
Urteil A. vom 13. Juni 2006, U 446/05). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ist daher einzutreten.

2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in BGE 131 V 314 und 325 erkannt,
dass der Fristenstillstand nach Art. 60 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38
Abs. 4 ATSG auch bei mehrmonatigen Beschwerdefristen zu beachten ist, diese
Regelung jedoch während der fünfjährigen Übergangszeit gemäss Art. 82 Abs. 2
ATSG keine Anwendung findet, wenn das kantonale Recht für die nach Monaten
berechneten Fristen (noch) keinen Fristenstillstand vorsieht. Die Vorinstanz
hat somit zutreffend festgestellt, dass für den Fristenstillstand das
kantonale Recht massgebend ist. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale
Gericht gestützt auf die einschlägige Bestimmung zu Recht auf die Beschwerde
eingetreten ist oder ob es - entsprechend dem von der SUVA in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Standpunkt - zufolge
Fristversäumnis auf Nichteintreten auf das Rechtsmittel hätte erkennen
müssen.
§ 3 des auf den 1. April 2002 in Kraft getretenen Gesetzes über das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und über das
Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen (Sozialversicherungsgesetz, SVGG)
vom 9. Mai 2001 bestimmt:
Die gesetzlichen und richterlichen Fristen, die nach Tagen bestimmt sind,
stehen still:
a. vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach Ostern,
b. vom 15. Juli bis und mit dem 15. August,
c. vom 18. Dezember bis und mit dem 1. Januar.

4.
4.1 Mit dem kantonalen Recht hat sich das Eidgenössische Versicherungsgericht
grundsätzlich nicht zu befassen (Art. 128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG
und Art. 5 Abs. 1 VwVG). Es hat nur zu prüfen, ob die Anwendung der
einschlägigen kantonalen Bestimmungen oder - bei Fehlen solcher Vorschriften
- die Ermessensausübung durch das kantonale Gericht zu einer Verletzung von
Bundesrecht (Art. 104 lit. a OG), insbesondere des Willkürverbots oder des
Verbots des überspitzten Formalismus, geführt hat (BGE 120 V 416 Erw. 4a, 114
V 205 Erw. 1a mit Hinweisen).

4.2 Nach der Rechtsprechung ist eine Entscheidung willkürlich (vgl. Art. 9
BV), wenn sie eine Norm oder einen klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsatz
offensichtlich schwer verletzt, sich mit sachlichen Gründen schlechthin nicht
vertreten lässt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken
zuwiderläuft. Willkürliche Rechtsanwendung liegt nicht schon vor, wenn eine
andere Lösung in Betracht zu ziehen oder sogar vorzuziehen wäre (BGE 131 I 61
Erw. 2, 129 I 9 Erw. 2.1, 58 Erw. 4, 127 I 41 Erw. 2a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV
ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 125 I 168 Erw. 2a, 125 II
15 Erw. 3a, 124 V 139 Erw. 2b, je mit Hinweisen).

4.3 Die Vorinstanz hat den Fristenstillstand gemäss § 3 SVGG über den
gesetzlichen Wortlaut hinaus auch auf die nach Monaten bemessene Frist des
Art. 106 UVG angewendet und deshalb die Beschwerde als rechtzeitig
eingereicht erachtet. Zur Begründung berief sie sich im Wesentlichen auf die
Praxis des aufgehobenen Versicherungsgerichts Basel-Stadt sowie die nach
Ablauf der fünfjährigen Anpassungsfrist des Art. 82 Abs. 2 ATSG geltenden
bundesrechtlichen Vorschriften von Art. 38 Abs. 4 ATSG. Kurze Zeit vor Ablauf
dieser Anpassungsfrist verbiete es sich, die Praxis für eine geringe
Zeitspanne zu ändern.

4.4 Nach dem Wortlaut von § 3 SVGG unterliegen die nach Monaten bestimmten
Fristen, weil nicht erwähnt, keinem Stillstand. Im Ratschlag zuhanden des
kantonalen Gesetzgebers vom 20. Februar 2001 betreffend das SVGG war § 3 noch
umfassender formuliert, indem der Fristenstillstand auch für die nach Monaten
bestimmten Fristen vorgesehen war. Weshalb der Fristenstillstand in der
definitiven Gesetzesfassung auf Fristen, die nach Tagen bestimmt sind,
beschränkt wurde, ist nicht klar, spielt aber keine entscheidende Rolle,
zumal sich für ein Versehen des kantonalen Gesetzgebers keine Anhaltspunkte
finden, sodass nicht zu prüfen ist, wie in einem solchen Fall zu entscheiden
wäre.

4.5 In SVR 1998 UV Nr. 10 S. 26 f. Erw. 2 hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
Kantons Zürich, das aufgrund einer identisch formulierten Norm des Kantons
Zürich (§ 13 des Gesetzes über das Sozialversicherungsgericht vom 7. März
1993; GSVGer) ohne entsprechenden Hinweis in den Gesetzesmaterialien den
Fristenstillstand auf nach Monaten bestimmte Fristen nicht anwendete, nicht
als willkürlich erachtet und darin auch keine anderweitige
Bundesrechtsverletzung erblickt. Daraus kann indessen nicht geschlossen
werden, dass der auf der gegenteiligen Rechtsauffassung beruhende Entscheid
des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt willkürlich ist; dieses beruft
sich für seinen Standpunkt auf seine eigene, mit der Praxis des früheren
kantonalen Versicherungsgerichts übereinstimmende Rechtsprechung und macht
geltend, mit einer Art. 38 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 2 ATSG
entsprechenden Auslegung des kantonalen Rechts könne die gebotene
Vereinheitlichung in der Fristenstillstandsfrage schon während der
fünfjährigen Anpassungszeit (1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2007)
herbeigeführt werden. Wenn die Vorinstanz in Auslegung des kantonalen Rechts
einer Lösung den Vorzug gibt, welche der bundesgesetzlichen Regelung
entspricht, deren intertemporalrechtliche Anwendbarkeit von Bundesrechts
wegen (Art. 82 Abs. 2 ATSG) einzig aus Achtung vor der kantonalen Verfahrens-
und Organisationsautonomie um längstens fünf Jahre aufgeschoben worden ist
und diese Praxis mit keinem materiellen oder formellen Rechtsverlust für die
Rechtsuchenden verbunden ist, besteht kein Raum für die Annahme von Willkür
oder einer sonstigen Bundesrechtsverletzung. Kann bei der Auslegung
kantonalen Verfahrensrechts das Abweichen vom Wortlaut, wie hier, mit
triftigen Gründen gerechtfertigt werden, liegt keine Willkür vor (Urteil des
Bundesgerichts in Sachen M. vom 9. September 2003, 5P.209/2003).

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der SUVA
aufzuerlegen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat dem
Beschwerdegegner zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der SUVA auferlegt und mit dem
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 6. November 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: