Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 261/2006
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U 261/06

Urteil vom 16. Mai 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichterin Widmer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Schön, Frésard,
Gerichtsschreiber Hochuli.

L. ________, 1957, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel
Vonesch, Sempacherstrasse 6, 6003 Luzern,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern vom 21. April 2006.

Sachverhalt:

A.
L. ________, geboren 1957, war bei der ELVIA Schweizerische
Versicherungs-Gesellschaft Zürich (heute Allianz Suisse
Versicherungs-Gesellschaft; nachfolgend: Allianz oder Beschwerdegegnerin)
obligatorisch gegen Unfälle und Berufskrankheiten versichert, als er sich am
15. August 1998 anlässlich eines Strassenverkehrsunfalles in Frankreich eine
Sternumfraktur, eine Fraktur der 9. Rippe rechts, eine Kontusion des rechten
Knies sowie eine cervicale Distorsion zuzog (Bericht des erstversorgenden
Spitals "X.________" vom 19. August 1998, wo der Versicherte im Anschluss an
den Unfall während vier Tagen hospitalisiert war). In der Folge übernahm die
Allianz die Heilbehandlung und richtete ein Taggeld aus. Mit Verfügung vom
18. November 2003, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 24. Januar 2005,
hielt die Allianz an der Einstellung sämtlicher Versicherungsleistungen zum
31. Januar 2003 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des L.________ wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid
vom 21. April 2006 ab, soweit es darauf eintrat.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ beantragen, (1) der
angefochtene Gerichts- und der Einspracheentscheid seien aufzuheben, (2) ihm
"seien sämtliche möglichen gesetzlichen Leistungen ab dem frühst möglichen
Zeitpunkt zuzusprechen, (3) "insbesondere sei festzustellen, dass auch nach
dem 31. Januar 2003 sämtliche gesetzlichen Leistungen zu erbringen seien",
(4) "insbesondere seien dem Beschwerdeführer auch ab diesem Datum weiterhin
die medizinischen Leistungen, Taggelder, Transportkosten etc. zu erbringen",
(5) "insbesondere seien zudem die Berentung zu prüfen und eine 100-prozentige
IV-Rente zu leisten und dem Beschwerdeführer eine Integritätsentschädigung
von mindestens 50% zuzusprechen". Schliesslich (6) ersucht er um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege.

Während die Allianz auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz
75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid am 21. April 2006 und somit vor dem 1. Januar
2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember
2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2
S. 395).

2.
Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 21. April 2006
ist insoweit unangefochten in Rechtskraft erwachsen, als die Vorinstanz auf
die im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren erhobenen Begehren des
Versicherten nicht eingetreten ist. Dies betrifft insbesondere den als zu
tief gerügten Stundenansatz, mit welchem die Allianz den Aufwand des
unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Verwaltungsverfahren entschädigt hat
(vgl. Dispositiv-Ziffer 3 des Einspracheentscheides vom 24. Januar 2005).

3.
Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur
Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige
Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung
genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise
weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem
Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und
insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 131 V 164 E. 2.1 S. 164 mit
Hinweisen).

Anfechtungsgegenstand bildet hier die Verfügung vom 18. November 2003, mit
welcher die Allianz sämtliche Versicherungsleistungen aus dem Unfall vom 15.
August 1998 zum 31. Januar 2003 eingestellt hat. Soweit Antrag Ziffer 2 der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf zusätzliche Leistungen vor dem
Terminierungszeitpunkt abzielt, fehlt es nicht nur am vorausgesetzten
Streitgegenstand, weil die Verwaltung hiezu bisher nicht in Form einer
Verfügung Stellung genommen hat, sondern auch an einer sachbezüglichen
Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Art. 108 Abs. 2 OG), weshalb
darauf insoweit nicht einzutreten ist.

4.
Im kantonalen Gerichtsentscheid und im Einspracheentscheid sind die
gesetzlichen Bestimmungen und Rechtsgrundsätze zu dem für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen (BGE 129
V 177 E. 3.1 S. 181, 119 V 335 E. 1 S. 337, 118 V 286 E. 1b S. 289, 117 V 369
E. 3a S. 376 je mit Hinweisen) und adäquaten Kausalzusammenhang (BGE 129 V
177 E. 3.2 S. 181, 127 V 102 E. 5b, 125 V 456 E. 5a S. 461, 119 V 401 E. 4a
S. 406, 117 V 369 E. 4a S. 382 je mit Hinweisen) zwischen dem Unfallereignis
und dem eingetretenen Schaden zutreffend dargelegt worden. Gleiches gilt für
die Ausführungen betreffend die Pflicht des Unfallversicherers zum Nachweis
der dahingefallenen Kausalität bei Leistungseinstellung (RKUV 2000 Nr. U 363
S. 45 [U 355/98], 1994 Nr. U 206 S. 328 E. 3b [U 180/93], je mit Hinweisen)
sowie zur Beweiswürdigung und zum Beweiswert ärztlicher Berichte und
Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352, 122 V 157 E. 1c S. 160). Darauf wird
verwiesen.

5.
Strittig ist einzig der folgenlose Fallabschluss mit Terminierung sämtlicher
Versicherungsleistungen zum 31. Januar 2003. Dabei ist zu prüfen, ob die über
den 31. Januar 2003 hinaus geklagten gesundheitlichen Beeinträchtigungen in
einem natürlich und adäquat kausalen Zusammenhang mit dem versicherten Unfall
vom 15. August 1998 stehen.

6.
6.1 Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, sämtliche in der Folge des
Unfalles  -  und über den 31. Januar 2003 hinaus  -  subjektiv geklagten
Befindlichkeitsstörungen stünden in einem anspruchsbegründenden
Kausalzusammenhang mit dem Ereignis vom 15. August 1998 und führten dazu,
dass er unfallbedingt "in keinem Bereich mehr arbeiten" könne.

6.2 Demgegenüber stellte das kantonale Gericht auf das umfassende
polydisziplinäre Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle vom 26. August
2003 (nachfolgend: MEDAS-Gutachten) ab, wonach die unfallbedingten
Beschwerden ein Jahr nach dem Ereignis abgeklungen und der status quo ante
wieder erreicht waren (ZMB-Gutachten S. 32). Der Unfall hat somit nur eine
vorübergehende Verschlimmerung der erheblichen vorbestehenden
Wirbelsäulenerkrankung zur Folge gehabt. Die radiologischen Abklärungen
liessen nicht auf eine Fraktur von Brustwirbelkörpern, sondern eher auf eine
heftige Prellung/Stauchung der Wirbelsäule schliessen. Diese Auffassung
stützt sich auf die Angaben des Neurochirurgen Dr. med. V.________ und des
Orthopäden Dr. med. S.________ (beide am Spital Y.________), welche den
Versicherten am 3. Dezember 1998 bzw. am 22. Juni 1999 spezialärztlich
untersucht, dabei eine Operationsindikation ausgeschlossen und auf die
deutlichen degenerativen Veränderungen im Bereich der Brust- und
Lendenwirbelsäule hingewiesen haben. Weiter ist dem MEDAS-Gutachten zu
entnehmen, dass die schwere thorakale Kyphoskoliose und die zahlreichen
weiteren degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule ebenso wie der
Diabetes mellitus, das Übergewicht, die rechtsseitige Gehörsstörung, die
Bauchbeschwerden und die schwere Parodontose krankhafter Genese sind. Auch
die in psychiatrischer Hinsicht einzig festgestellte leichte
Anpassungsstörung mit Beteiligung affektiver Qualitäten sei, soweit sie
überhaupt Krankheitswert erreiche, nicht behandlungsbedürftig und führe auch
nicht zu Arbeitsunfähigkeit. Gemäss ZMB-Gutachten steht fest, dass die über
den 31. Januar 2003 hinaus anhaltend geklagten Beschwerden nicht mit dem
erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 129 V 177
E. 3.1 S. 181 mit Hinweisen) in einem natürlichen Kausalzusammenhang mit dem
Unfall vom 15. August 1998 stehen. Dieses Gutachten ist für die streitigen
Belange umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen, berücksichtigt die
geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden;
zudem ist es in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der
medizinischen Situation einleuchtend und enthält begründete
Schlussfolgerungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Somit kommt dieser Expertise
grundsätzlich volle Beweiskraft zu.

6.3 Der Beschwerdeführer beruft sich in erster Linie auf die Einschätzungen
des Dr. med. G.________, Facharzt FMH für Innere Medizin, welcher der
Überzeugung ist, dass sämtliche von ihm beschriebenen "Krankheitsfaktoren
durch den Unfall richtunggebend verschlimmert" worden sein müssten, sofern es
zutreffe, dass der Versicherte vor dem Unfall beschwerdefrei gewesen sei
(Bericht vom 30. März 2004). Demgegenüber ist nicht jede nach einem Unfall
aufgetretene gesundheitliche Störung  -  nach der Formel "post hoc, ergo
propter hoc"  -  zwangsläufig auch als unfallbedingt zu qualifizieren (vgl.
BGE 119 V 335 E. 2b/bb i.f. S. 341 f.). Entgegen der Einschätzung des den
Beschwerdeführer erst seit Juni 2001 behandelnden Dr. med. G.________ hat der
Kieferchirurg Dr. med. et Dr. med. dent. C.________ den natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und einer Kieferschädigung gemäss
Bericht vom 12. April 2002 angesichts der initial nach dem Ereignis vom 15.
August 1998 vollkommen fehlenden Anzeichen für eine derartige Verletzung mit
Blick auf die detaillierten Untersuchungsergebnisse des Dr. med. M.________,
vom 10. Dezember 2001 ausdrücklich verneint. Der Gastroenterologe Dr. med.
O.________, welcher den Versicherten von November 2000 bis März 2001 wegen
einer chronischen Refluxoesophagitis und Bauchschmerzen behandelte, führte in
seinem Bericht vom 18. Oktober 2002 aus, die nach Angaben des
Beschwerdeführers "seit vielen Jahren bestehenden, medianen
Oberbauchschmerzen, gelegentlich mit Blähungen unter Zunahme des Oberbauches
verbunden, welche seit dem Unfallereignis täglich und fast andauernd"
aufgetreten seien, hätten sich durch seine Behandlung mit Blick auf das
Magenleiden nicht positiv beeinflussen lassen. Er gehe von einer erheblichen
funktionellen Überlagerung bei Verdacht auf eine Begehrungsneurose aus. Zudem
halte er an seinem bereits am 19. Februar 2001 angeregten Vorschlag einer
polydisziplinären MEDAS-Begutachtung fest. Die krankhaften Vorzustände eines
Magengeschwürs und einer erosiven Gastro-Duodenopathie hätten durch den
Unfall höchstens vorübergehend verschlimmert werden können, wofür er
allerdings keine entsprechenden Anhaltspunkte habe finden können. Soweit Dr.
med. G.________ entgegen dieser spezialärztlichen Beurteilungen und entgegen
dem MEDAS-Gutachten, welches sich ausführlich und umfassend auch mit den
abweichenden medizinischen Einschätzungen auseinander gesetzt hat, an seiner
eigenen Auffassung festhält, ist dem Grundsatz Rechnung zu tragen, wonach
Berichte der behandelnden Ärzte auf Grund deren auftragsrechtlichen
Vertrauensstellung zum Patienten mit Vorbehalt zu würdigen sind (BGE 125 V
351 E. 3b/cc S. 353), was nicht nur mit Blick auf den allgemein
praktizierenden Hausarzt und den behandelnden Spezialarzt zutrifft, sondern
erst recht für den schmerztherapeutisch tätigen Arzt gilt, welcher angesichts
des besonderen Vertrauensverhältnisses zunächst den geklagten Schmerz
bedingungslos zu akzeptieren hat (Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts I 655/05 vom 20. März 2006, E. 5.4 mit Hinweisen).

6.4 Nach dem Gesagten steht fest, dass der Unfall vom 15. August 1998 nebst
den folgenlos abgeheilten Frakturen und der Kniekontusion rechts nur eine
vorübergehende Verschlimmerung der zahlreichen krankhaften Vorzustände im
Bereich der Wirbelsäule verursacht hat und (spätestens) nach dem
Terminierungszeitpunkt keine objektivierbare Beschwerden mehr vorhanden
waren, welche in einem natürlichen Kausalzusammenhang mit dem Unfall standen,
und auch keine psychogene Gesundheitsstörung festgestellt werden konnte,
welche behandlungsbedürftig war oder die Arbeitsfähigkeit in der angestammten
Tätigkeit eingeschränkt hätte. Die vorinstanzlich bestätigte Einstellung
sämtlicher Versicherungsleistungen zum 31. Januar 2003 gemäss strittiger
Verfügung vom 18. November 2003 ist somit nicht zu beanstanden.

7.
7.1 Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine
Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne
der Befreiung von den Gerichtskosten ist daher gegenstandslos.

7.2 Nach Gesetz (Art. 152 OG) und Praxis sind in der Regel die
Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und
Verbeiständung erfüllt, wenn der Prozess nicht aussichtslos erscheint, die
Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch
geboten ist (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Die Vorinstanz hat in ihrem
Entscheid die Sachverhalts- und Rechtslage einlässlich darlegt und begründet.
Da hiegegen mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts Erhebliches vorgebracht
wird, war diese von vornherein aussichtslos. Dem Gesuch um Bestellung eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes ist deshalb nicht stattzugeben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 16. Mai 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: