Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 257/2006
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Prozess {T 7}
U 257/06

Urteil vom 5. September 2006

I. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari, Borella, Kernen und Seiler;
Gerichtsschreiber Scartazzini

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

T.________, 1954, Beschwerdegegner, vertreten
durch Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 5. April 2006)

Sachverhalt:

A.
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) sprach T.________ mit
Verfügung vom 14. Mai 2004 aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 40 % eine
Invalidenrente mit Wirkung ab 1. November 1996 sowie eine
Integritätsentschädigung zu und setzte dabei für die Zeit bis Ende Mai 2004
einen Verzugszins von Fr. 7405.- fest, später korrigiert auf Fr. 7708.-.
Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 30. November 2004 fest.

B.
T.________ erhob dagegen Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich. Dieses hiess mit Urteil vom 5. April 2006 die Beschwerde gut,
hob den Einspracheentscheid auf und wies die Sache an die SUVA zurück, damit
sie die Verzugszinsberechnung im Sinne der Erwägungen vornehme und neu
verfüge.

C.
Die SUVA erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Sozialversicherungsgerichts sei aufzuheben und der Einspracheentscheid sei zu
bestätigen. Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Gesundheit auf eine
Stellungnahme verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig ist einzig die Art der Verzugszinsberechnung gemäss Art. 26 Abs. 2
ATSG auf den Invalidenrenten. Unbestritten ist, dass die Verzugszinspflicht
erst mit dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 (vgl. BGE 130 V 334
Erw. 6) und erst 24 Monate nach Entstehung des Anspruchs beginnt. Umstritten
ist aber, wann diese      24-Monatsfrist beginnt bzw. was unter "Entstehung
des Anspruchs" zu verstehen ist. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin beginnt
der Verzugszins für jede einzelne monatliche Rentenzahlung jeweils erst
24 Monate nach deren Fälligkeit zu laufen. Nach dem angefochtenen Urteil
sowie nach Ansicht des Beschwerdegegners beginnt die Verzugszinspflicht
24 Monate nach dem Rentenbeginn für die gesamten bis anhin aufgelaufenen
Leistungen.

2.
Die Auffassung der Vorinstanz entspricht derjenigen, die das Bundesamt für
Sozialversicherung im Rahmen der AHV/IV entwickelt hat (AHI-Praxis 2003 S. 46
f.; ebenso Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 26 N 20; Kieser, Auswirkungen des
ATSG - erste Erfahrungen aus Verwaltungsverfahren und Rechtsprechung, in:
Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], Praktische Anwendungsfragen des ATSG, St. Gallen
2004, S. 9 ff., 19; Mario Christoffel, Spezifische Fragen, in: Schaffhauser/
Kieser, a.a.O., S. 145 ff., 155). Die Unfallversicherer wenden hingegen die
von der Beschwerdeführerin vertretene Berechnungsmethode an (vgl. auch Peter
Omlin, Erfahrungen in der UV, in: Schaffhauser/Kieser, a.a.O., S. 57 ff., 69
f.).

3.
3.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der
Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss
nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller
Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die
Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde
liegenden Wertungen sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit
anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht
unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm
zu erkennen (BGE 131 I 396 Erw. 3.2, 131 II 368 Erw. 4.2, 131 V 93 Erw. 4.1,
176 Erw. 3.1, 439 Erw. 6.1, 130 II 211 Erw. 5.1 mit Hinweisen). Namentlich
bei neueren Texten kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil
veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung
weniger nahelegen (BGE 131 V 292 Erw. 5.2, 128 I 292 Erw. 2.4, 124 II 377
Erw. 6a). Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von
einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das
grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich
richtige Lösung ergab (BGE 131 II 703 Erw. 4.1, 124 II 376 Erw. 5 mit
Hinweisen).

3.2 Gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG beginnt die Verzugszinspflicht "nach Ablauf
von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate
nach dessen Geltendmachung" (frz. "à l'échéance d'un délai de 24 mois à
compter de la naissance du droit, mais au plus tôt douze mois à partir du
moment où l'assuré fait valoir ce droit"; ital. "sulle sue prestazioni dopo
24 mesi dalla nascita del diritto, ma al più presto 12 mesi dopo che si è
fatto valere il diritto"). Ob sich der "Anspruch" ("droit", "diritto") auf
die einzelnen monatlichen Rentenzahlungen oder auf die Rentenberechtigung als
solche bezieht, ergibt sich aus dem Wortlaut nicht ausdrücklich. Auch der von
beiden Parteien zitierte BGE 131 V 361, Erw. 2.2, gibt dazu keine Antwort:
Das Eidgenössische Versicherungsgericht erwähnt dort einerseits, dass "die
jeweiligen Rentenbetreffnisse" ab dem Zeitpunkt zu verzinsen seien, in
welchem die "seit Anspruchsbeginn" verstrichene Zeitspanne 24 Monate erreicht
habe; daraus geht nicht hervor, ob auch der Anspruchsbeginn sich auf die
jeweiligen Rentenbetreffnisse bezieht. Vielmehr ergibt sich aus der nicht
amtlich publizierten Erwägung 3 dieses Entscheids, dass die hier streitige
Frage damals nicht entschieden wurde.

3.3 Art. 7 Abs. 2 ATSV, wonach der Verzugszins monatlich auf dem bis Ende des
Vormonats aufgelaufenen Leistungsanspruch berechnet wird, spricht in seinem
deutschen Wortlaut eher für die Auffassung der Vorinstanz, während namentlich
der französische Wortlaut ("L'intérêt moratoire est calculé par mois sur les
prestations dont le droit est échu jusqu'à la fin du mois précédent") auch
die umgekehrte Auffassung zuliesse. Indessen betrifft Art. 7 ATSV nur die
Berechnungsweise nach Entstehung des Anspruchs auf Verzugszins und sagt
nichts aus über diesen Beginn.

3.4 In systematischer Auslegung spricht der in Art. 26 Abs. 2 ATSG verwendete
Ausdruck "Entstehung des Anspruchs" für die Auffassung der Vorinstanz und des
Beschwerdegegners: Wenn das Gesetz im Zusammenhang mit Renten vom Beginn oder
von der Entstehung des Anspruchs spricht (Art. 19 Abs. 1 UVG; Art. 29 Abs. 1
IVG; Art. 21 Abs. 2 AHVG), dann meint es damit in der Regel den Rentenbeginn
als solchen, nicht die einzelnen monatlichen Rentenzahlungen. Dies gilt auch
für Art. 26 ATSG, wie sich namentlich aus dem letzten Halbsatz von Abs. 2
ergibt: Das Pronomen "dessen" bezieht sich auf den Anspruch; der Halbsatz
setzt damit voraus, dass der Anspruch geltend gemacht wird. Geltend gemacht
wird jedoch in der Regel nur die Rentenberechtigung als solche, nicht aber
die einzelne monatliche Rentenzahlung, welche - sobald einmal der
Rentenanspruch festgesetzt ist - automatisch erfolgt (vgl. Art. 19 Abs. 1
ATSG).

3.5 Die Beschwerdeführerin beruft sich demgegenüber auf Art. 24 und 25 ATSG.
In der Tat bezieht sich der in Art. 24 Abs. 1 ATSG enthaltene Ausdruck
"Anspruch auf ausstehende Leistungen" bei Renten klar auf die einzelnen
Monatsbetreffnisse und nicht auf das Rentenstammrecht, ebenso der "Anspruch"
auf Rückerstattung gemäss Art. 25 Abs. 3 ATSG. Dies ergibt sich in diesen
Fällen freilich notwendigerweise aus dem Regelungsgegenstand, würde doch
sonst der Anspruch (auf ausstehende Leistungen oder auf Rückerstattung) unter
Umständen schon erloschen sein, bevor er überhaupt fällig geworden bzw. bevor
die entsprechende Leistung bezahlt worden ist. Diese Überlegung gilt aber
nicht gleichermassen für den Verzugszins: Typischerweise beginnt dieser mit
dem Verfall der Forderung zu laufen, bei Renten somit grundsätzlich mit der
Fälligkeit jeder einzelnen Rente, freilich mit der Sonderregelung von
Art. 105 OR (vgl. BGE 119 V 135 Erw. 4c; SZS 1997 S. 465 Erw. 4). Wenn
Art. 26 ATSG den Beginn der Verzugszinspflicht um zwei Jahre hinausschiebt,
dann folgt aber daraus nicht zwingend, dass diese Frist jeweils für jede
einzelne Monatsrente gilt. Die entgegengesetzte Auffassung führt nicht zu
einem logisch widersprüchlichen oder unmöglichen Ergebnis.

3.6 Abzustellen ist unter diesen Umständen auf den Sinn und Zweck von Art. 26
Abs. 2 ATSG, wie er sich namentlich aus der Entstehungsgeschichte ergibt: Die
Kommission des Ständerates sah eine Verzugszinspflicht entsprechend der
bisherigen Praxis nur bei trölerischem oder widerrechtlichem Verhalten des
Schuldners oder bei einzelgesetzlicher Regelung vor (Art. 33 des Entwurfs;
BBl 1991 II 195). Die Nationalratskommission schlug stattdessen die Gesetz
gewordene Fassung vor (BBl 1999 4578 f.). Zur Begründung der 24-Monatsfrist
führte sie aus: "Die Kommission trägt dem Umstand, dass in den IV-Verfahren
zum Teil komplexe Abklärungen nötig sind, die auch einige Zeit in Anspruch
nehmen, Rechnung, indem sie grundsätzlich erst nach 24 Monaten eine
Verzugszinspflicht auf Leistungen entstehen lässt." Sie war der Auffassung,
dass es möglich sein sollte, den grössten Teil der Verfahren innert zweier
Jahre abzuschliessen, so dass sich die Mehrkosten im Rahmen halten lassen
sollten. Im Nationalrat wurde die Bestimmung ohne Diskussion angenommen,
nachdem der Berichterstatter darauf hingewiesen hatte, das Prinzip des
Verzugszinses sollte in einer sehr zurückhaltenden Art und Weise verankert
werden, die es auch bei der Invalidenversicherung möglich machen sollte, in
dieser Zeit zu Entscheiden zu gelangen (Amtl. Bull. N 1999 1243; sinngemäss
ebenso dann auch der Ständerat, Amtl. Bull. S 2000 180). Der Sinn der
24-Monatsfrist liegt nach diesen Äusserungen nicht darin, generell die
Verzugszinspflicht erst um zwei Jahre verzögert eintreten zu lassen, sondern
darin, der Versicherung einen gewissen Zeitraum für Abklärungen zu gewähren,
innert welchem sie noch keine Verzugszinsen bezahlen muss. Diese Abklärungen
beziehen sich in aller Regel nicht auf einzelne Monatsrenten, sondern auf die
Rentenberechtigung als solche. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung beginnt
somit die Verzugszinspflicht zwei Jahre nach Beginn der Rentenberechtigung
als solcher, nicht erst jeweils zwei Jahre nach Fälligkeit jeder einzelnen
Monatsrente.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die SUVA hat dem anwaltlich
vertretenen Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159
OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 5. September 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: