Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 24/2006
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U 24/06

Urteil vom 4. Mai 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard;
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

J.________, 1966, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kurt
Fricker, Sorenbühlweg 13, 5610 Wohlen

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 2. November 2005)

Sachverhalt:

A.
Die 1966 geborene J.________ war seit 1. Juli 2000 bei der Firma O.________
AG als Betriebsarbeiterin in einem Pensum von 80 % tätig und bei der SUVA
gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 2.
Februar 2003 glitt sie beim Aussteigen aus dem Auto auf einer Eisfläche aus
und zog sich beim Sturz eine dislozierte mehrfragmentäre distale
Humerusfraktur links zu, welche gleichentags im Kantonsspital X.________
operativ versorgt wurde (offene Reposition mit Platten- und
Schraubenosteosynthese; Operationsbericht vom 3. Februar 2003). Ab 16. Juni
2003 attestierte Dr. med. L.________, Klinik für Chirurgie, Abteilung
Traumatologie, Kantonsspital X.________, J.________ eine Arbeitsfähigkeit von
50 %; ab 1. August 2003 arbeitete sie wieder zu 80 %, gemäss Auskunft der
Arbeitgeberin vom 25. August 2003 ohne Leistungseinbusse. Am 9. März 2004
erfolgte die Entfernung des Osteosynthese-Materials im Kantonsspital
X.________, wobei nicht alles Material entfernt werden konnte
(Operationsbericht vom 9. März 2004). Nach Einholung verschiedener
Arztberichte (des Dr. med. L.________, Klinik für Chirurgie, Abteilung
Traumatologie, Kantonsspital X.________, vom 20. und 27. Februar 2003, 20.
März und 12. Juni 2003 sowie 8. Januar und 29. April 2004, des Dr. med.
S.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, vom 30. April und 4. Mai 2003)
und zwei kreisärztlichen Untersuchungen durch Dr. med. C.________ am 3. Juli
2003 und 12. Mai 2004 stellte die SUVA mit Verfügung vom 14. Mai 2004 die
Taggeldleistungen ab 21. Mai 2004 ein und sprach J.________ eine
Integritätsentschädigung gestützt auf eine Erwerbseinbusse von 5 % zu. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 14. Januar 2004 (recte: 2005) fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Fortsetzung der
Heilbehandlung und Weiterausrichtung der Taggelder sowie Aufschiebung des
Entscheides über die Integritätsentschädigung, mit welcher ein Arztzeugnis
des Dr. med. B.________ vom 18. März 2005 ins Recht gelegt wurde, hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau teilweise gut und sprach J.________
eine Integritätsentschädigung von Fr. 10'680.- gestützt auf eine
Integritätseinbusse von 10 % zu. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA die Aufhebung des
Entscheides, soweit damit die Integritätsentschädigung erhöht wird. Sie legt
eine Stellungnahme des Dr. med. V.________, Abteilung Versicherungsmedizin
der SUVA, vom 18. Dezember 2005 ins Recht.

Während J.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und dabei um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen lässt, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im kantonalen Entscheid und im Einspracheentscheid der SUVA werden die
Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf Integritätsentschädigung (Art.
24 Abs. 1 UVG; Art. 36 Abs. 1 UVV), deren Abstufung nach der Schwere des
Integritätsschadens (Art. 25 Abs. 1 UVG und Anhang 3 zur UVV, gestützt auf
Art. 36 Abs. 2 UVV) sowie die Bedeutung der von der medizinischen Abteilung
der SUVA erarbeiteten weiteren Bemessungsgrundlagen (Richtwerte) in
tabellarischer Form (BGE 124 V 32 Erw. 1c mit Hinweis) zutreffend
wiedergegeben. Dasselbe gilt für die Aufgabe des Arztes (BGE 125 V 261 Erw. 4
mit Hinweisen) und die Anforderungen an einen ärztlichen Bericht (BGE 125 V
352 Erw. 3a mit Hinweis). Darauf wird verwiesen.

Das Inkrafttreten des ATSG brachte keine Änderungen im Bereich der
Integritätsentschädigung, während die im Zusammenhang mit der 4. IV-Revision
auf Januar 2004 eingeführte Gesetzes- und Verordnungsnovelle (Art. 24 Abs. 1
UVG und Art. 36 Abs. 1 UVV) zu keinen hier massgebenden Änderungen führte
(Urteil S. vom 28. Dezember 2005, U 236/05).

2.
2.1 Streitig ist nurmehr die Höhe der Integritätsentschädigung. Dabei steht
insbesondere die Bemessungsgrundlage der Integritätseinbusse in Frage.
Während die SUVA im Einspracheentscheid die Integritätseinbusse unter
Berücksichtigung einer bestehenden mässigen Arthrose im Ulnohumeralgelenk
gestützt auf die von ihr unter dem Titel "Integritätsentschädigung gemäss
UVG, Tabelle 5 betreffend Integritätsschäden bei Arthrosen" veröffentlichten
Richtwerte auf 5 % festgesetzt hatte, begründet die Vorinstanz die
Integritätseinbusse von 10 % mit den Bewegungseinschränkungen im linken Arm
und stützt sich dabei auf die Richtwerte der Tabelle 1 betreffend
Integritätsschaden bei Funktionsstörungen an den oberen Extremitäten. Sie
führt aus, bei einer normalen Beweglichkeit von 0°/90°/150° sei die
Streckfähigkeit bei der Versicherten mit 10° besser als die
entschädigungsberechtigten 30° gemäss SUVA-Tabelle; hingegen sei die
Beugefähigkeit mit 130° stärker beeinträchtigt als die in der SUVA-Tabelle
vorgesehenen 135°.

2.2 Die Vorinstanz hat die in der Tabelle unter 1.2 angegebenen
Funktionsstörungen "beweglich 0°/30°/90°" sowie "beweglich 0°/90°/135°", die
einer Integritätseinbusse von 10 % entsprechen, offenbar dahingehend
interpretiert, dass bereits eine Einschränkung in der
Beuge(=Flexions-)fähigkeit von mehr als 15° (150°-135°) einer
Integritätseinbusse entspricht, ohne dass kumulativ ein Streck(=
Extensions-)defizit vorliegen müsste, dies unter Annahme einer normalen
Beweglichkeit von 0°/90°/150°.

2.3 Wie die SUVA zu Recht einwendet, ist dies nicht zutreffend: Die in der
Tabelle unter 1.2 für eine Integritätseinbusse vorausgesetzten
Beweglichkeitseinschränkungen entsprechen der sogenannten Neutral-0-Methode.
Damit werden die Bewegungen eines einzelnen Gelenks von einer einheitlich
definierten Neutral- oder Nullstellung aus gemessen und so Beuge- und
Streckdefizite festgestellt. Von der Nullstellung aus werden die Winkel der
Bewegungsausschläge in jeder Bewegungsebene in beide Richtungen gemessen.
Zuerst wird der eine Bewegungsausschlag notiert, dann beim Durchgang durch
die Neutralposition die Null (normalerweise in der Mitte) und als dritte Zahl
der Endausschlag auf der Gegenseite. Wird (bei einer Kontraktur) die
Nullstellung nicht erreicht, steht die Null nicht in der Mitte, sondern auf
der Seite der Bewegungseinschränkung (Debrunner, Orthopädie. Orthopädische
Chirurgie, 4. Aufl. Bern 2002, S. 193 f.).

Für ein normales Ellbogengelenk ergibt sich damit - je nach dem, ob
berücksichtigt wird, dass bei gewissen Personen eine Überstreckung von etwa
10° möglich ist -, ein möglicher Bewegungsumfang von 0°/0°150° (wovon die
SUVA gestützt auf Dr. med. V.________ ausgeht) oder von -10°/0°150° (vgl.
Debrunner a.a.O.). Nach dem Gesagten bedeutet eine Beweglichkeit gemäss
Tabelle 1.2 von 0°/30°/90°, dass die Extension um 30° und gleichzeitig die
Flexion um 60° (150°-90°) eingeschränkt ist, die betroffene Person also ihren
Arm nur vom rechten Winkel von 90° bis zu 30° strecken kann; demgegenüber
kann sie bei einem Bewegungsumfang 0°/90°/135° den Arm nur im Radius zwischen
90° und 135° bewegen. Die Integritätsentschädigung gemäss Tabelle 1.2 setzt
damit, wie die SUVA mit Verweis auf die illustrierte Stellungnahme des Dr.
med. V.________ zu Recht vorbringt, eine gesamthafte
Beweglichkeitseinschränkung von 90° bzw. 105° voraus.

2.4 Eine solche liegt bei der Versicherten jedoch nicht vor: Bereits am 27.
Februar 2003 stellte Dr. med. L.________ eine Beweglichkeit von 0°/30°/95°
fest, welche sich am 20. März 2003 auf 0°/40°/105° verbesserte. Am 29. April
2004 - nach der teilweisen Entfernung des Osteosynthese-Materials am 9. März
2004 - diagnostizierte er einen Bewegungsumfang von 0°/8°/140. Kreisarzt Dr.
med. C.________ stellte schliesslich am 12. Mai 2004 eine Beweglichkeit von
0°/10°/130° fest (nach 0°/5°/120° am 3. Juli 2003). Dr. med. B.________ ging
in seinem Bericht vom 18. März 2005 ebenfalls von einem Beuge- und
Streckdefizit von je etwa 10° aus. Damit ist gemäss den übereinstimmenden
ärztlichen Feststellungen gesamthaft von einer Bewegungseinschränkung von
rund 10° bei Beugung und Streckung auszugehen. Auf das einzig höhere, von Dr.
med. S.________ am 4. Mai 2004 gemessene Flexionsdefizit von 44° bei einer
festgestellten Beweglichkeit von 0°/12°/106° ist mit SUVA und Vorinstanz
nicht abzustellen, abgesehen davon, dass auch diese Bewegungseinschränkung
nicht dem eine Integritätseinbusse begründenden Bewegungsumfang von Tabelle
1.2 entspricht.

2.5 Demgegenüber erscheint die Festsetzung einer Integritätsentschädigung von
5 % durch die SUVA unter Berücksichtigung der einzig von Kreisarzt Dr. med.
C.________ festgestellten mässigen posttraumatischen Arthrose im
Ulnohumeralgelenk als angemessen und entspricht dem Gesetz, der Verordnung
und insbesondere den Richtwerten gemäss der Tabelle 5.2 (Integritätsschaden
bei Arthrosen), wonach eine mässige Arthrose mit einer Einbusse von 5-10 % zu
veranschlagen ist. Der Einspracheentscheid der SUVA ist deshalb nicht zu
beanstanden.

3.
Dem in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellten Gesuch
um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung (Art. 152 Abs. 2 OG) kann
entsprochen werden, weil die Bedürftigkeit nach den eingereichten Unterlagen
ausgewiesen ist und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine
Rechtsanwältin geboten war (BGE 125 V 372 Erw. 5b mit Hinweisen). Die
Versicherte wird indessen darauf hingewiesen, dass sie gemäss Art. 152 Abs. 3
OG der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im
Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau aufgehoben, soweit damit die
Integritätsentschädigung auf Fr. 10'680.- festgesetzt wurde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Kurt
Fricker, Wohlen, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 4. Mai 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
i.V.