Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 245/2006
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{T 7}
U 245/06

Urteil vom 14. Februar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter U. Meyer,
Gerichtsschreiber Schmutz.

M.________, 1962, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Marco Biaggi,
Aeschenvorstadt 71, 4051 Basel,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 4. April 2006.

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1962, war als Bauarbeiter in der Firma A.________,
Bauunternehmung, angestellt und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfällen versichert. Am 7. Februar 2003 arbeitete er nach Angaben
im Untersuchungsbericht von Dr. med. S.________, Facharzt FMH für Innere
Medizin speziell Rheumatologie, vom 22. Mai 2003 auf einer Leiter. Als diese
wegrutschte, klammerte er sich mit dem linken Arm an einer Sprosse fest, um
nicht zu stürzen. Dabei erlitt er ein Extensions-Drehtrauma der linken
Schulter und es traten unmittelbar bewegungsabhängige Schulterschmerzen auf.
Zunächst arbeitete er weiter. Wegen zunehmender Beschwerden begab er sich
eine Woche später in ärztliche Behandlung. Der Hausarzt Dr. med. C.________,
Facharzt FMH für Allgemeine Medizin, schrieb ihn ab dem 15. März 2003 zu
100 % arbeitsunfähig (Arztzeugnis UVG vom 14. März 2003). Es entwickelte sich
eine Schultersteife ("Frozen shoulder") links. Die SUVA erbrachte die
gesetzlichen Leistungen (Taggeld, Heilbehandlung). Nach einer Untersuchung am
13. September 2004 durch den Kreisarzt Dr. med. W.________ (Bericht vom 14.
September 2004), stellte sie die Leistungen auf Ende November 2004 ein, weil
eine Behandlung der Unfallfolgen nicht mehr notwendig sei. Mit Verfügung vom
7. Dezember 2004 sprach sie dem Versicherten auf der Basis eines
Invaliditätsgrades von 15 % eine Rente und bei einer Integritätseinbusse von
10 % eine Integritätsentschädigung zu. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 12. August 2005 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt mit Entscheid vom 4. April 2006 teilweise gut; es wies die SUVA
an, dem Versicherten ab 1. Dezember 2004 eine Invalidenrente auf der Basis
eines Invaliditätsgrades von 19 % auszurichten.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M.________ beantragen, die Sache sei
unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides zur Neubeurteilung an die
SUVA zurückzuweisen.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Vorinstanz und Bundesamt für Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der für die Höhe des Anspruchs auf
Invalidenrente und Integritätsentschädigung massgebende Sachverhalt
spruchreif ist oder weiterer Abklärungen bedarf. Das kantonale Gericht hat in
materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht die Grundlagen für die Beurteilung
dieser Fragen zutreffend dargelegt. Es wird auf die Erwägungen 3b, 4b und 5b
im angefochtenen Entscheid verwiesen (Art. 36a Abs. 3 zweiter Satz OG).

3.
3.1 Verwaltung und kantonales Gericht berücksichtigten bei ihren Entscheiden
den Bericht des Kreisarztes Dr. med. W.________ vom 14. September 2004 über
die am Vortag durchgeführte Untersuchung. Dieser diagnostizierte eine
funktionell erheblich überlagerte Schultersteife links nach Distorsion,
unfallfremdem Diabetes mellitus und Adipositas. Als objektive und subjektive
Befunde gab er an, die Beschwerden seien durchaus nachvollziehbar, aber
funktionell erheblich überlagert bei deutlicher Ablenkbarkeit. Insbesondere
seien bei normaler Trophik keinerlei Ruheschäden bei sehr moderaten
Schonungszeichen zu finden. Bis Brusthöhe werde die linke Hand ziemlich
normal eingesetzt. In der versicherungsmedizinischen Beurteilung kam er zum
Schluss, die Kausalität (der Beschwerden zum Unfallereignis) sei zumindest
teilweise gegeben, bekanntlich könnten gerade bei Diabetikern auch spontane
Schultersteifen auftreten. Mit seiner Einschränkung der linken Schulter sei
der Versicherte tauglich für eine ganztags zu besorgende, leichte,
abwechslungsreiche, rumpfnahe Tätigkeit zwischen Knie- und Brusthöhe.
Traglimite links sei hängend und in Vorhalt ein Gewicht von wenigen
Kilogramm.

3.2 Der behandelnde Arzt Dr. med. S.________ attestierte dem Beschwerdeführer
in dem im Einspracheverfahren eingereichten Bericht vom 4. März 2005 eine
weitgehende Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes wegen der Versteifung der
linken Schulter mit starken Schmerzen beim Bestreben, die Bewegung über die
Arretierung hinaus zu führen (so zum Beispiel beim Versuch des Schürzengriffs
[Zurückführen des Armes auf den Rücken] sowie beim Anheben und bei
Seitwärtsbewegung des Armes). Der Versicherte sei nicht in der Lage, jede
leichte, abwechslungsreiche, rumpfnahe Tätigkeit in Industrie und Gewerbe
auszuüben. Die Beschwerden seien überwiegend wahrscheinlich ausschliesslich
auf den Unfall vom 7. Februar 2003 zurückzuführen. Die Prädisposition eines
Diabetes könne für die Entwicklung der "Frozen shoulder" im Gefolge des
auslösenden Traumaereignisses nur als mögliche Mitursache gelten, nicht aber
als wahrscheinliche oder überwiegend wahrscheinliche. Der Versicherte sei vor
dem Unfall in beiden Schultern vollständig beschwerdefrei und arbeitsfähig
gewesen. Es handle sich um keine Beschwerdenausweitungsproblematik oder
Aggravation. Bereits zuvor, am 21. Dezember 2004, gab Dr. med. S.________ im
Arztbericht gegenüber der Invalidenversicherung an, es sei gegenwärtig sowie
kurz- und mittelfristig ("zirka ein halbes Jahr") an eine Wiederaufnahme der
früheren Beschäftigung als Betonschaler nicht zu denken;
Verweisungstätigkeiten seien eigentlich nur mit Alleingebrauch des rechten
Armes vorstellbar, eventuell in Form leichtester Montagearbeit mit hängendem
linken Arm und ohne Tragen von Gewichten.

4.
Wie der Beschwerdeführer unter Hinweis auf BGE 122 V 157 E. 1d S. 162
zutreffend vorbringt, kann das Sozialversicherungsgericht abschliessend
gestützt auf Beweisgrundlagen urteilen, die im wesentlichen oder
ausschliesslich aus dem Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger stammen.
In solchen Fällen sind jedoch an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu
stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und
Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen
vorzunehmen. Ein solcher Bedarf ist hier aus den folgenden Gründen gegeben.

4.1 Der kreisärztliche Bericht vom 14. September 2004 (über die am Vortag
erfolgte Untersuchung) ist ohne Vorlage von Röntgenbildern verfasst worden
("1.7. - 27.8.04 erfolglose Suche nach Röntgenbildern"; "Röntgenaufnahmen
liegen keine vor"; gemeint waren wohl Aufnahmen bildgebender
röntgendiagnostischer Verfahren generell), obwohl solche verschiedentlich
erstellt worden waren (vgl. Berichte IMAMED Radiologie Nordwest vom 3. März
2003 [MR-Arthrographie am 3. März 2003] und 16. Mai 2003 [Sonographie am 16.
Mai 2003] sowie Bericht Allgemeine Röntgendiagnostik Universitätsklinik
Spital X.________ vom 31. Oktober 2003 [Sonographie am 30. Oktober 2003]).
Eventuell hatte Kreisarzt Dr. med. W.________ mit diesem Vermerk aktuelle
Röntgen gemeint, was aber nichts ändert. Zwar sind nach
Würgler-Hauri/Sheikh/Jost/Gerber (Periarthropathia humeroscapularis ...?,
Diagnostik und Therapie, in: Schweiz Med Forum 2007, 7, S. 81-86) bei
Erkrankungen der Schulter im klinischen Alltag die Anamnese und die klinische
Untersuchung von unveränderter Bedeutung. Sie erlauben in den meisten Fällen
eine Diagnosestellung. Die konventionelle Radiologie hat als
Standardabklärung aber nach wie vor ihren Stellenwert; so lassen sich
beispielsweise nur so erste degenerative Gelenkveränderungen erkennen. Die
heute häufig angewendeten diagnostischen Mittel wie CT und MRI gehören nicht
zur Primärabklärung, tragen aber unbestritten zur Diagnosesicherung bei. Die
Interpretation der Befunde ist nur im Kontext von Anamnese und klinischer
Untersuchung möglich. Diese nach den Autoren "durchaus wichtigen
Zusatzuntersuchungen" dienen meist erst sekundär der Beurteilung des
Ausmasses einer Erkrankung (a.a.O., Quintessenz S. 81). Gerade um die
Beurteilung des Ausmasses der Schulterbefunde ging es aber bei der
kreisärztlichen Untersuchung. Dass dabei auf Aufnahmen bildgebender
röntgendiagnostischer Verfahren verzichtet worden ist, weckt allein schon
Zweifel an der Zuverlässigkeit der kreisärztlichen Feststellungen.

4.2 Der Hinweis zum objektiven Befund, die linke Hand werde "bis Brusthöhe
ziemlich normal eingesetzt", wirft Fragen auf. Es bleibt dabei unklar, ob nur
der Unter- oder auch der Oberarm bewegt und ob dabei Gewicht gehoben wurde.
Die Angabe "ziemlich normal" ist nicht aussagekräftig und ersetzt die
üblichen Messangaben zur Beschreibung der aktiven und passiven Beweglichkeit
nicht.

4.3 Ungeklärt geblieben ist der Einfluss des Diabetes auf die
Schulterbeschwerden. Während der Kreisarzt ihn bejaht, bezeichnet der
behandelnde Arzt den Diabetes als mögliche, nicht aber als wahrscheinliche
oder überwiegend wahrscheinliche Mitursache. Beide begründen ihre Aussage
nicht näher. Aus den Akten sind keine früheren Schulterprobleme des auf dem
Bau arbeitenden Beschwerdeführers bekannt. Der Versicherte soll nach Dr. med.
S.________ vor dem Unfall in beiden Schultern vollständig beschwerdefrei und
arbeitsfähig gewesen sein. Zudem scheint die rechte Schulter immer noch nicht
betroffen zu sein. Wie sich dies medizinisch verhält, ist unbeantwortet
geblieben. Der Kreisarzt begründet in der Beurteilung des Integritätsschadens
auch nicht, warum am Befund "Schulterbeschwerden links" bei einer
Integritätseinbusse von 15 % der Diabetes mellitus zu einem Drittel
mitbeteiligt sein soll. Im Untersuchungsbericht führt er in diesem
Zusammenhang lediglich aus, bekanntlich könnten gerade bei Diabetikern auch
spontane Schultersteifen auftreten. Der Sinn dieses Hinweises ist deshalb
nicht klar, weil nach den Akten unumstritten ist, dass die Schultersteife
beim Beschwerdeführer gerade nicht spontan aufgetreten ist, sondern sich erst
ab dem Moment des Extensions-Drehtraumas der linken Schulter am 7. Februar
2003 entwickelt hat. Es kann somit nicht beantwortet werden, ob Art. 36 Abs.
2 Satz 2 UVG Anwendung findet oder nicht.

5.
Dem Hinweis der Beschwerdegegnerin in der vorinstanzlichen Duplik, sie sei
nicht verpflichtet, psychiatrische Abklärungen durchzuführen, weil aus
somatischer Sicht die Sach- und Rechtslage klar sei, kann nach dem Gesagten
nicht beigepflichtet werden. Denn Dr. S.________ als Spezialarzt hat mit
guten Gründen das Leiden als rein somatisch bezeichnet und dessen
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit höher eingeschätzt als der
Versicherungsarzt, der seinerseits eine funktionelle, das heisst wohl
psychogene Überlagerung und damit eine Interferenz psychischer mit
somatischer Beschwerden (Roche Lexion Medizin, 5. Aufl.) festgestellt hat,
ohne die Gründe anzugeben, welche ihn zu dieser Angabe führen.

6.
Bevor abschliessend eingeschätzt werden kann, in welchem Ausmass der
Beschwerdeführer unfallbedingt in seiner Erwerbsfähigkeit und Integrität
eingeschränkt ist, sind daher zusätzliche medizinische Untersuchungen
bezüglich der Verhältnisse an der Schulter, dem Einfluss des Diabetes und der
funktionellen Überlagerung angezeigt.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 4. April 2006 und der
Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) vom
12. August 2005 aufgehoben, und es wird die Sache an die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf Invalidenrente und
Integritätsentschädigung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 14. Februar 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: