Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 234/2006
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Prozess {T 7}
U 234/06

Urteil vom 5. September 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiber
Attinger

B.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
Hauptstrasse 11a, 8280 Kreuzlingen,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 22. Februar 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1968 geborene B.________ war seit Juni 2000 als Mitarbeiter im
Reinigungsdienst/Gebäudeunterhalt der Firma X.________ AG angestellt und bei
der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen
Unfallfolgen versichert. Am 8. März 2004 rutschte er während der Arbeit auf
einer nassen Schwelle aus, stürzte zu Boden und schlug dabei den Nacken an
der Arbeitsplatte einer Werkbank und die rechte Stirnseite am Schlüssel des
Schubladenblocks auf. Die gleichentags aufgesuchte Hausärztin Dr. K.________
diagnostizierte eine Rissquetschwunde an der Stirn und eine Distorsion der
Halswirbelsäule (HWS). Der Versicherte litt an rechtsseitigen Nackenschmerzen
(dort fand die Hausärztin ein Hämatom) sowie an Schwindel und Übelkeit
(Arztzeugnis vom 29. März 2004). Die Nackenschmerzen waren in der Folge stets
vorhanden. Am 2. Mai 2004 schossen sie plötzlich mit massiver Intensität ein
und verursachten ein Taubheitsgefühl des gesamten linksseitigen Nacken- und
Schulterbereichs. Im zwei Tage später erstellten Kernspintomogramm der
Halswirbelsäule fand sich im Segment C4/5 eine rechtslaterale grosse
Diskushernie. Vom 7. Juli bis 4. August 2004 hielt sich B.________ in der
Rehaklinik Y.________ auf. Im Austrittsbericht vom 9. August 2004 äusserten
sich die Klinikärzte dahin gehend, dass der Versicherte vom körperlichen
Gesichtspunkt her wieder voll leistungsfähig, in "psychiatrischer Hinsicht
(hingegen) im Moment arbeitsunfähig" sei. Unter Hinweis auf diese ärztliche
Stellungnahme stellte die SUVA die bisher erbrachten Leistungen
(Heilbehandlung und Taggeld) mit Verfügung vom 14. September 2004 auf den
15. September 2004 hin ein, weil zwischen den allein verbliebenen psychischen
Beschwerden und dem versicherten Arbeitsunfall kein adäquater
Kausalzusammenhang bestehe. Auf Einsprache hin holte die SUVA beim
Orthopädischen Chirurgen Dr. M.________ ihrer Abteilung Versicherungsmedizin
eine weitere, am 2. März 2005 verfasste Stellungnahme ein und hielt in der
Folge an der verfügten Leistungseinstellung fest (Einspracheentscheid vom
9. Mai 2005).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 22. Februar 2006 ab.

C.
B.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung
der Sache an die Vorinstanz "zur Veranlassung weiterer Abklärungen und zum
Erlass eines neuen Entscheides durch die Verwaltung".

Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die von der Rechtsprechung für
die Leistungspflicht des Unfallversicherers entwickelten Grundsätze über den
erforderlichen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität),
insbesondere bei sekundären psychischen Folgen (BGE 129 V 183 Erw. 4.1, 407
Erw. 4.4.1, 115 V 140 f. Erw. 6c/aa und bb, 409 f. Erw. 5c/aa und bb),
richtig wiedergegeben. Hierauf wird verwiesen.

2.
Der Beschwerdeführer litt unbestrittenermassen über die auf den 15. September
2004 verfügte Leistungseinstellung hinaus weiterhin an Kopf-/Nackenschmerzen,
einer Hypästhesie im linken Vorderarm sowie an psychischen Beschwerden
(Anpassungsstörung und längere depressive Reaktion, grosse Tendenz zur
Somatisierung der depressiven Symptome; Austrittsbericht der Rehaklinik
Y.________ vom 9. August 2004, einschliesslich Bericht über das durchgeführte
psychosomatische Konsilium).

2.1 Soweit die Schmerzen im Bereich von Kopf und Nacken sowie die erwähnte
Sensibilitätsstörung von der am 4. Mai 2004 diagnostizierten rechtslateralen
Diskushernie C4/5 herrühren, ist die SUVA nicht leistungspflichtig. Denn wie
der Orthopädische Chirurge Dr. M.________ in seiner eingangs genannten
Stellungnahme vom 2. März 2005 nachvollziehbar und überzeugend dargelegt hat,
ist die Diskushernie selber eindeutig nicht auf das Unfallereignis vom
8. März 2004 zurückzuführen (vgl. RKUV 2000 Nr. U 378 S. 190, Nr. U 379
S. 192; Urteil H. vom 18. August 2000, U 4/00; Debrunner, Orthopädie,
orthopädische Chirurgie, 4. Aufl. Bern 2002, S. 880 unten;
Debrunner/Ramseier, Die Begutachtung von Rückenschäden, Bern 1990, S. 54 ff.,
insbesondere S. 56). An dieser Betrachtungsweise vermag die Beurteilung von
Dr. D.________, Facharzt für Allgemeine Medizin, vom 20. Juli 2005, wonach
"durchaus eine kausale Verbindung zwischen dem Unfall und den Beschwerden des
Patienten möglich" sei, nichts zu ändern. Ebenso wenig die Stellungnahmen des
Neuroradiologen Dr. C.________ von der W.________-Poliklinik vom 27. Oktober
2004 und des Orthopädischen Chirurgen Dr. Z.________ von der Poliklinik
V.________, vom 29. Oktober 2004, in welchen von einer "möglicherweise
traumatischen Ätiologie" bzw. von einer "eigentlichen Osteoporosis einer
posttraumatischen Genesis des Halssegmentes der Wirbelsäule" die Rede ist.

2.2 Ob die über Mitte September 2004 hinaus andauernden Kopf-/Nackenschmerzen
sowie die Hypästhesie natürlich-kausal (auch) auf eine am 8. März 2004
erlittene sog. schleudertraumaähnliche Verletzung der HWS zurückzuführen
sind, oder aber (allein) Ausdruck der psychischen Gesundheitsstörungen
bilden, welche ihrerseits - zumindest im Sinne einer natürlichen
Teilkausalität - eindeutig unfallbedingt sind, kann hier offen bleiben. Wie
nachfolgend zu zeigen sein wird, ist nämlich die Adäquanz des
Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den verbliebenen
Folgeschäden im einen wie im andern Fall nach der in Erw. 1 hievor am Ende
angeführten Rechtsprechung für sekundäre psychische Unfallfolgen vorzunehmen,
welche im Rahmen der Prüfung der unfallbezogenen Kriterien allein auf die
körperlichen Beschwerden abstellt.

3.
Die zu den Schleudertraumata der Halswirbelsäule (oder äquivalenten
Verletzungen bzw. Schädel-Hirntraumata) entwickelte Gerichtspraxis (ohne
Differenzierung zwischen somatischen und psychischen Beeinträchtigungen; BGE
117 V 359 und 369, SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) kann hier nicht
herangezogen werden, weil - selbst unter der Annahme, dass die zum typischen
Beschwerdebild nach Schleudertraumata (und ähnlichen Verletzungen)
auftretenden Beeinträchtigungen anfänglich vorhanden waren - die psychische
Problematik schon sehr bald nach dem Unfallereignis vom 8. März 2004
eindeutige Dominanz aufwies, und auf der andern Seite die physischen
Beschwerden - auch im Verlauf der ganzen Entwicklung vom Unfall bis zum
Beurteilungszeitpunkt - gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle
gespielt haben und damit ganz in den Hintergrund getreten sind (vgl. BGE
123 V 99 Erw. 2a; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437 [U 164/01]). So ist dem mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten "Auszug aus der
Krankengeschichte" zu entnehmen, dass ärztlicherseits bereits anlässlich der
Konsultation bei Dr. J.________ ("in Vertretung [der Hausärztin]
Dr. K.________") vom 12. März 2004, d.h. nur gerade vier Tage nach dem
Unfall, die Frage nach einer "psychosomatischen Komponente" aufgeworfen
wurde. Die Ärzte der Rehaklinik Y.________ (wo sich der Beschwerdeführer vom
7. Juli bis 4. August 2004 aufhielt) bejahten diese Frage klar, indem sie im
Austrittsbericht vom 9. August 2004 - wie bereits erwähnt - vom Körperlichen
her eine volle Leistungsfähigkeit bescheinigten und einzig "in
psychiatrischer Hinsicht (.....) im Moment" eine (vollständige)
Arbeitsunfähigkeit attestierten. Wie dominant sich die psychische Problematik
bereits damals in den Vordergrund geschoben hatte, wird dadurch illustriert,
dass keine einzige der in der Rehaklinik Y.________ durchgeführten Therapien
zu einer Abnahme der Schmerzen führte. Selbst mit dem Einsatz von
opioidähnlichen Schmerzmedikamenten konnte keine Besserung erzielt werden.

4.
Aufgrund des augenfälligen Geschehensablaufs und der erlittenen Verletzungen
ist der Arbeitsunfall vom 8. März 2004 dem Bereich der mittelschweren Unfälle
und innerhalb dieses Rahmens den leichteren Unfällen zuzuordnen. Für die
Bejahung der adäquaten Kausalität wäre daher erforderlich, dass zumindest ein
einzelnes unfallbezogenes Kriterium in besonders ausgeprägter Weise erfüllt
ist oder dass die praxisgemäss zu berücksichtigenden Merkmale in gehäufter
oder auffallender Weise gegeben sind (BGE 129 V 408 Erw. 4.4.1, 115 V 140
Erw. 6c/bb, 409 Erw. 5c/bb).

Verwaltung und Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass offenkundig kein
einziges der relevanten Kriterien als erfüllt betrachtet werden kann, weshalb
die Unfalladäquanz der psychischen Fehlentwicklung zu verneinen ist. Daran
vermöchten ergänzende Abklärungen nichts zu ändern. Es ist deshalb von den
beantragten Weiterungen abzusehen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 5. September 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: