Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 21/2006
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Prozess {T 7}
U 21/06

Urteil vom 30. August 2006
II. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Borella und Kernen; Gerichtsschreiber
Attinger

H.__________, 1950, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Baumann, Laurenzenvorstadt 19, 5001 Aarau,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 30. November 2005)

Sachverhalt:

A.
Der 1950 geborene H.__________ war seit seiner Einreise in die Schweiz im
Jahre 1987 stets als Bauarbeiter/Schaler angestellt, zuletzt ab August 2000
bei der Baufirma X.________ Co. Am 9. Februar 2001 stürzte er während der
Arbeit in einen rund 3 m tiefen Schacht und zog sich dabei nebst einer
Commotio cerebri Frakturen im Bereich beider Hände zu (links: distale
intraartikuläre Radiustrümmerfraktur; rechts: extraartikuläre
Metakarpale-I-Basisfraktur). Der Versicherte wurde unmittelbar nach dem
Unfallereignis im Spital Y.________ hospitalisiert, wo er sich noch am 9.
bzw. am 15. Februar 2001 operativen Eingriffen zur Sanierung der erlittenen
Frakturen unterziehen musste. Hiefür wie auch für die am 11. April 2002
notwendig gewordene Verkürzungsosteotomie der linksseitigen Ulna und für die
übrige Heilbehandlung kam die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) auf, bei welcher H.__________ obligatorisch gegen Unfallfolgen
versichert war. Des Weitern erbrachte der Versicherer Taggeldleistungen. Mit
Verfügung vom 5. März 2004 und Einspracheentscheid vom 16. November 2004
sprach die SUVA dem Versicherten eine 19%ige Invalidenrente ab 1. Dezember
2003 sowie eine Integritätsentschädigung von 10 % zu.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 30. November 2005
ab.

C.
H.__________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen auf
Zusprechung einer 100%igen Invalidenrente und einer Integritätsentschädigung
von mindestens 50 %.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während
das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In formeller Hinsicht beantragt der Beschwerdeführer die Durchführung einer
mündlichen Verhandlung.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist indessen grundsätzlich
schriftlich (Art. 110 in Verbindung mit Art. 132 OG). Wohl kann der Präsident
gemäss Art. 112 OG eine mündliche Parteiverhandlung anordnen. Dies geschieht
jedoch nur ausnahmsweise, wenn der zu beurteilende Fall tatsächliche oder
rechtliche Fragen aufwirft, die nicht allein aufgrund der Akten entschieden
werden können (RKUV 2003 Nr. KV 250 S. 222 Erw. 4.2.3 [K 9/00]; Urteil X. vom
7. Dezember 2005 [K 68/05], Erw. 1 mit Hinweisen). Ein derartiger
Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers vermittelt auch die EMRK keinen Anspruch auf eine mündliche
Verhandlung im vorliegenden Verfahren. Nach der Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts setzt die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK (und Art. 30 Abs. 3 BV) im
Sozialversicherungsprozess grundsätzlich einen entsprechenden, im
erstinstanzlichen Verfahren zu stellenden klaren und unmissverständlichen
Parteiantrag voraus. Versäumt eine Partei die rechtzeitige Geltendmachung des
Anspruchs auf öffentliche Verhandlung, hat dieser grundsätzlich als verwirkt
zu gelten (BGE 125 V 38 Erw. 2, 122 V 55 f. Erw. 3a und 3b/bb mit Hinweisen;
RKUV 2004 Nr. U 497 S. 155 Erw. 1.2 [U 273/02]). Da der Antrag auf mündliche
Verhandlung (mit Parteibefragung) letztinstanzlich erstmals gestellt wurde,
ist er zufolge Verwirkung abzuweisen.

2.
Das kantonale Gericht hat die hier massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und
von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, namentlich diejenigen über
die Bemessung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 1 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; BGE
130 V 348 Erw. 3.4, 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a und b) und die Höhe
der Integritätsentschädigung (Art. 25 UVG; BGE 124 V 32 Erw. 1c, 211
Erw. 4a/cc, je mit Hinweis) richtig wiedergegeben. Dasselbe gilt für die
vorinstanzliche Darlegung der Rechtsprechung zum für die Leistungspflicht des
Unfallversicherers erforderlichen natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität), insbesondere bei sekundären psychischen Folgen (BGE
129 V 181 ff. Erw. 3 und 4.1, 406 f. Erw. 4.3.1 und 4.4.1, 115 V 134 ff.
Erw. 3 und 4, 138 ff. Erw. 6 und 7, 405 ff. Erw. 3-6). Darauf wird verwiesen.

3.
Die Vorinstanz ist gestützt auf die Aktenlage, namentlich die beiden
Abschlussberichte des SUVA-Kreisarztes Dr. W.__________ vom 17. Februar 2003
und 27. Oktober 2004 zu Recht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer
seine angestammte Tätigkeit als Bauarbeiter unfallbedingt nicht mehr ausüben
kann, wogegen ihm aus rein somatischer Sicht eine ganztägig zu verrichtende
manuell leichte Arbeit, welche der verbliebenen Beeinträchtigung seiner
(ehemals dominanten) linken Hand Rechnung trägt (keine Tätigkeiten, welche
eine hohe Beweglichkeit des Handgelenks hinsichtlich Pro- und Supination
erfordern; keine stressrepetitiven Tätigkeiten), weiterhin uneingeschränkt
zumutbar ist. An dieser Betrachtungsweise vermögen die - ohne jegliche
Begründung eine vollständige Leistungseinbusse bescheinigenden - Atteste des
Hausarztes Dr. G.________ vom 17. Januar, 31. März und 8. Juli 2004 nichts zu
ändern. Des Weitern erweisen sich - unter rein somatischem Blickwinkel -
sowohl der von SUVA und kantonalem Gericht vorgenommene Einkommensvergleich
als auch deren Annahme einer 10%igen Integritätseinbusse als rechtens.

4.
Zu prüfen bleibt, inwiefern die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend
gemachten psychischen bzw. psychosomatischen Beschwerden, welche sich
namentlich in Kopf-, Nacken-, Rücken- und linksseitigen Beinschmerzen sowie
Schwindelbeschwerden äussern würden, auf das versicherte Unfallereignis vom
9. Februar 2001 zurückgehen.

4.1 Kreisarzt Dr. W.__________ führte in seinem Abschlussbericht vom
27. Oktober 2004 aus, es bestünden psychosomatische Probleme, die seiner
Ansicht nach nicht unfallbedingt und "nicht unbedingt als dauernd zu
erachten" seien, welche "aber die Vermittlungsfähigkeit und das
Zumutbarkeitsprofil zusätzlich kompromittieren". Nach der vom 15. September
bis 12. Dezember 2003 erfolgten Abklärung der Leistungs- und
Vermittlungsfähigkeit des Versicherten in der Eingliederungsstätte Q.________
hatte die Berufsberaterin der IV-Stelle des Kantons Aargau ihrerseits die
Frage nach einer allfälligen "Anpassungsstörung und psychosomatischen
Einschränkungen" aufgeworfen. Schliesslich wird in einer mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten Stellungnahme des Anästhesiologen
Dr. U.________ vom 3. Januar 2006 die Diagnose "invalidisierende Schmerzen
bei Chronifizierung Stadium III nach Gerbershagen" erhoben.

4.2 Anhand der zur Verfügung stehenden medizinischen Akten lässt sich die
Frage nach dem natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und
den heute geklagten Beschwerden nicht abschliessend beantworten. Eine
Rückweisung der Sache zur Durchführung ergänzender spezialärztlicher
Abklärungen erübrigt sich aber; selbst wenn aufgrund zusätzlicher
medizinischer Erkenntnisse die natürliche Kausalität zu bejahen wäre, fehlt
es - wie die nachstehenden Ausführungen zeigen - an der Adäquanz des
Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den organisch nicht
nachweisbaren Folgeschäden.

4.3 SUVA und Vorinstanz haben die Adäquanzbeurteilung zu Recht nach der in
Erw. 2 hievor am Ende angeführten Rechtsprechung für sekundäre psychische
Unfallfolgen vorgenommen, welche im Rahmen der Prüfung der unfallbezogenen
Kriterien allein auf die körperlichen Beschwerden abstellt. Die zu den
Schädel-Hirntraumata (oder den Schleudertraumata der Halswirbelsäule bzw.
äquivalenten Verletzungen) entwickelte Gerichtspraxis (ohne Differenzierung
zwischen somatischen und psychischen Beeinträchtigungen; BGE 117 V 359 und
369, SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) kann nicht herangezogen werden, weil im
Anschluss an den Unfall vom 9. Februar 2001 ein für solche Verletzungen
typisches Beschwerdebild mit einer Häufung von spezifischen Beschwerden nicht
gegeben war: Von den rechtsprechungsgemäss zu diesem typischen ("bunten")
Beschwerdebild gehörenden Beeinträchtigungen (wie diffuse Kopfschmerzen,
Schwindel, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rasche
Ermüdbarkeit, Visusstörungen, Reizbarkeit, Affektlabilität, Depression,
Wesensveränderung usw; BGE 117 V 360 Erw. 4b) lagen beim Beschwerdeführer
nach seiner Entlassung aus dem erstversorgenden Spital Y.________ vom
22. Februar 2001 nur gerade Kopfschmerzen vor. Zudem waren diese laut den
Angaben im kreisärztlichen Untersuchungsbericht vom 11. April 2001
"erträglich (...), resp. (wurden) als Druck empfunden". Im Übrigen war von
Kopfschmerzen letztmals im Bericht der SUVA-Abklärungsperson vom 25. Oktober
2001 die Rede, bevor solche Beschwerden knapp zwei Jahre später gegenüber den
Eingliederungsfachleuten der Stätte Q.________ erneut geklagt wurden (vgl.
deren Bericht vom 15. Dezember 2003). Auf anders lautende Angaben in der
"Schmerzanamnese" der nachgereichten Stellungnahme von Dr. U.________ vom
3. Januar 2006 kann nicht abgestellt werden, weil dieser Arzt den
Versicherten erstmals am 19. Dezember 2005 gesehen hat.

4.4 Aufgrund des augenfälligen Geschehensablaufs und der erlittenen
Verletzungen ist der Arbeitsunfall vom 9. Februar 2001 dem Bereich der
mittelschweren Unfälle und innerhalb dieses Rahmens nicht den schwereren
Unfällen zuzuordnen. Für die Bejahung der adäquaten Kausalität wäre daher
erforderlich, dass zumindest ein einzelnes unfallbezogenes Kriterium in
besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder dass die praxisgemäss zu
berücksichtigenden Merkmale in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sind
(BGE 129 V 408 Erw. 4.4.1, 115 V 140 Erw. 6c/bb, 409 Erw. 5c/bb).

4.5 Der Unfall ereignete sich bei objektiver Betrachtung weder unter
besonders dramatischen Begleitumständen, noch war er durch eine besondere
Eindrücklichkeit gekennzeichnet. Ferner ist weder von einer schweren noch von
einer im Hinblick auf die in Frage stehende Adäquanzbeurteilung besonders
gearteten Verletzung auszugehen. Hinsichtlich der Commotio cerebri und der
erlittenen Frakturen im Bereich beider Hände kann auch keine ungewöhnlich
lange Dauer der ärztlichen Behandlung angenommen werden: Während bezüglich
der Commotio spätestens mit Abklingen der bis Herbst 2001 persistierenden
Kopfschmerzen von einer Behandlungseinstellung auszugehen ist, erfolgte diese
im Hinblick auf die verbliebenen Beschwerden im linken Handgelenk am
27. Januar 2003, als die Ärzte der Klinik Z.________ im Bericht vom
letztgenannten Datum feststellten, "zum jetzigen Zeitpunkt sehen wir keine
Möglichkeit, die Situation chirurgisch zu verbessern". Dabei ist nicht aus
den Augen zu verlieren, dass sich die eigentliche Behandlung der
Handgelenksbeschwerden - abgesehen von den jeweils kurzen Klinikaufenthalten
im Zusammenhang mit den eingangs erwähnten drei Operationen - weitestgehend
in der Durchführung ambulanter Physio- und Ergotherapie sowie medizinischen
Verlaufskontrollen und Medikamentenabgaben erschöpfte. Sie hätte überdies um
einige Monate verkürzt werden können, wenn der Beschwerdeführer seine
Einwilligung zur (vom Spital Y.________ schon am 24. August 2001 empfohlenen,
erst am 11. April 2002 durchgeführten) Korrekturosteotomie bereits früher
erteilt hätte. Die in erster Linie als "Bewegungs-" oder
"Belastungsschmerzen" auftretenden Beschwerden im linken Handgelenk waren
nach der Aktenlage weder im gesamten Verlauf nach dem Unfallereignis noch im
gewöhnlichen Tagesablauf durchgehend vorhanden, weshalb das Kriterium
körperlicher Dauerschmerzen ebenfalls nicht erfüllt ist. Dasselbe gilt für
das Merkmal des "schwierigen Heilungsverlaufs und erheblicher
Komplikationen": Wohl musste sich der Beschwerdeführer insgesamt drei
eigentlichen Operationen (zuzüglich Metallentfernung) im Bereich beider Hände
unterziehen. Dies kann indessen nicht als erhebliche Komplikation bezeichnet
werden, zumal sich der Heilprozess an sich nach den einzelnen Eingriffen
stets problemlos gestaltete. Schliesslich mangelt es an jeglichen Hinweisen
für eine ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen hätte erheblich
verschlimmern können.
Demgegenüber ist das Kriterium des Grades und der Dauer der physisch
bedingten Arbeitsunfähigkeit zu bejahen. Das Merkmal liegt jedoch nicht in
derart ausgeprägter Form vor, welche rechtsprechungsgemäss erforderlich wäre,
damit dem Unfall vom 9. Februar 2001 eine rechtlich massgebende Bedeutung für
das seit September 2003 aktenkundige psychische/psychosomatische
Beschwerdebild zukäme: Wohl wird dem Versicherten seit dem Unfallereignis im
angestammten Tätigkeitsbereich als Bauarbeiter/Schaler durchwegs eine
vollständige Leistungseinbusse bescheinigt. Allerdings ist auch in diesem
Zusammenhang nicht ausser Acht zu lassen, dass dem Beschwerdeführer aus rein
somatischer Sicht spätestens seit der (ersten) kreisärztlichen
Abschlussuntersuchung vom 17. Februar 2003 eine leidensangepasste ganztägige
Erwerbstätigkeit uneingeschränkt zumutbar war (Erw. 3 hievor).

4.6 Zusammenfassend ist festzustellen, dass dem Unfall keine massgebende
Bedeutung für die psychische Fehlentwicklung zukommt, welche offenbar die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers zusätzlich einschränkt.
Da es am adäquaten Kausalzusammenhang fehlt, hat die SUVA ihre
Leistungspflicht für die psychischen/ psychosomatischen Unfallfolgen zu Recht
verneint.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 30. August 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: