Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 217/2006
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Prozess {T 7}
U 217/06

Urteil vom 23. Juni 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard;
Gerichtsschreiber Flückiger

G.________, 1959, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Christoph Anwander-Walser, Bahnhofstrasse 21,
9100 Herisau,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden, Trogen

(Entscheid vom 18. Januar 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1959 geborene G.________ war seit 2001 bei der Q.________ AG angestellt
und damit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen
versichert. Am 23. September 2003 war er von einem Verkehrsunfall betroffen,
als ein anderer Personenwagen auf das Heck des von ihm gelenkten Autos
auffuhr. Der gleichentags aufgesuchte Dr. med. K.________, Chirurgie FMH,
diagnostizierte im Arztzeugnis UVG den Verdacht auf ein Schleudertrauma. Die
SUVA holte Angaben über den Unfallhergang sowie Auskünfte des Versicherten
vom 30. Oktober 2003 ein und liess durch die Arbeitsgruppe für Unfallmechanik
am 29. Dezember 2003 eine biomechanische Kurzbeurteilung (Triage) vornehmen.
Ausserdem zog sie unter anderem Berichte der Klinik X.________ vom
10. Oktober 2003 (zervikale Kernspintomographie und cranio-cerebrale
Computertomographie vom 9. Oktober 2003), der Neurologin Dr. med. H.________
vom 21. Oktober und 17. Dezember 2003, des Dr. med. L.________,
SUVA-Abteilung Unfallmedizin, vom 11. März 2004 (neurootologische
Untersuchung) und des Psychiatrischen Zentrums Y.________ vom 23. April 2004
bei. Anschliessend stellte sie mit Verfügung vom 12. Mai 2004 ihre Leistungen
auf den 15. Mai 2004 ein. Daran wurde mit Einspracheentscheid vom 11. Mai
2005 festgehalten. Im Verlauf des Einspracheverfahrens hatte der Versicherte
Berichte von Dr. med. R.________, Physikalische Medizin und Rehabilitation,
vom 15. Juni 2004 und Dr. med. K.________ vom 14. Juni und 7. September 2004
eingereicht.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht von Appenzell
Ausserrhoden ab (Entscheid vom 18. Januar 2006).

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei die SUVA zu verpflichten, über den 15. Mai 2004 hinaus weiterhin
sämtliche Leistungen gemäss UVG zu erbringen. Eventuell sei der Fall zur
rechtsgenüglichen Abklärung des Sachverhaltes und zur Neubeurteilung an die
Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt zunächst
voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht.
Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände,
ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder
nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten
gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung
des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die
alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es
genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die
körperliche oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt
hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass
auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (BGE 129 V 181
Erw. 3.1, 406 Erw. 4.3.1, 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit
Hinweisen).
Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung
ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die
Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden
Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit
eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht
(BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 119 V 338 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit
Hinweisen).

1.2 Die Leistungspflicht des Unfallversicherers setzt im Weiteren voraus,
dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein adäquater
Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als
adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist,
einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt
dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint
(BGE 129 V 181 Erw. 3.2, 405 Erw. 2.2, 125 V 461 Erw. 5a mit Hinweisen).

1.3 Für die Beurteilung der Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen einem
Unfallereignis und einer psychischen Fehlentwicklung mit Krankheitswert hat
die Rechtsprechung die allgemeine Adäquanzformel dahingehend konkretisiert,
dass eine Kategorisierung der Unfälle vorzunehmen ist, wobei leichte,
mittelschwere und schwere unterschieden werden. Massgebend für die Einstufung
ist dabei nicht das subjektive Unfallerlebnis, sondern das objektiv
erfassbare Unfallereignis (BGE 115 V 139 Erw. 6). Liegt ein schwerer Unfall
vor, ist die Adäquanz regelmässig zu bejahen (BGE 115 V 140 Erw. 6b). Bei
einem leichten oder banalen Ereignis ist sie in der Regel ohne weitere
Prüfung zu verneinen, da ein derartiger Unfall nach allgemeiner
Lebenserfahrung nicht geeignet ist, einen invalidisierenden psychischen
Gesundheitsschaden zu verursachen (BGE 115 V 139 Erw. 6a). Handelt es sich um
einen Unfall im mittleren Bereich, sind für die Adäquanzbeurteilung weitere
unfallbezogene Kriterien heranzuziehen. Bei der Beurteilung der Frage, ob
diese Merkmale erfüllt sind, ist die psychisch bedingte Beeinträchtigung
auszuklammern und nur der somatische Anteil zu berücksichtigen (BGE 115 V 140
Erw. 6c/aa).

1.4 Die Adäquanzprüfung bei einem Unfall mit Schleudertrauma der HWS ohne
organisch nachweisbare Funktionsausfälle erfolgt, was das Vorgehen anbelangt,
prinzipiell analog zur Rechtsprechung bezüglich der psychischen Unfallfolgen.
Im Gegensatz zu den bei psychischen Fehlentwicklungen relevanten Kriterien
gemäss BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa wird jedoch für die Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhangs zwischen einem mittelschweren Unfall mit Schleudertrauma
der HWS und in der Folge eingetretenen Beschwerden auf eine Differenzierung
zwischen psychischen und physischen Komponenten verzichtet, weil diese
Abgrenzung erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann (BGE 117 V 364
Erw. 5d/aa) und letztlich nicht entscheidend ist, ob Beschwerden medizinisch
eher als organischer oder psychischer Natur bezeichnet werden (BGE 117 V 367
Erw. 6a am Ende).

1.5 Auch bei Vorliegen eines Schleudertraumas der HWS oder einer
gleichgestellten Verletzung ist die Adäquanzprüfung nicht nach der mit BGE
117 V 359 ff. begründeten Rechtsprechung, sondern nach den für psychische
Unfallfolgen geltenden Regeln (BGE 115 V 133 ff.) durchzuführen, wenn das für
eine spezifische HWS-Verletzung typische "bunte" Beschwerdebild (BGE 119 V
338 Erw.EUR1, 117 V 360 Erw.EUR4b) zwar teilweise vorliegt, aber die
physischen Symptome im Verlauf der Entwicklung vom Unfall bis zum
Beurteilungszeitpunkt gegenüber einer ausgeprägten psychischen Komponente
gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben (BGE 127 V 103
Erw.EUR5b/bb mit Hinweisen, 123 V 99 Erw.EUR2a; RKUVEUR2002 Nr.EURUEUR465
S.EUR438 f. Erw.EUR3a und b [= Urteil W. vom 18. Juni 2002, UEUR164/01]).

2.
Das kantonale Gericht ist auf Grund der medizinischen Akten mit Recht zum
Ergebnis gelangt, es sei mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit
Hinweisen; vgl. BGE 130 III 324 f. Erw. 3.2 und 3.3) erstellt, dass der
Beschwerdeführer anlässlich des Auffahrunfalls vom 23. September 2003 ein
Schleudertrauma der HWS erlitten hat. Innerhalb eines kurzen Zeitraums nach
diesem Ereignis sind gemäss den Feststellungen des Dr. med. K.________
verschiedene Symptome aufgetreten, welche dem typischen Beschwerdebild
zuzurechnen sind. Der natürliche Kausalzusammenhang ist unter diesen
Umständen zu bejahen (BGE 119 V 338 Erw. 1 am Ende, 117 V 360 Erw. 4b am
Ende).

3.
3.1 Die für die Adäquanzbeurteilung massgebliche Vorgehensweise hängt in der
dargestellten Konstellation davon ab, ob die Elemente dieses Beschwerdebildes
gegenüber einer psychischen Symptomatik in den Hintergrund getreten sind und
gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben. Diesbezüglich
fällt ins Gewicht, dass die Neurologin Dr. med. H.________ bereits in ihrem
Bericht vom 21. Oktober 2003 auf den depressiven Eindruck hinwies, den der
Patient vermittelte, und festhielt, nach ihrer Ansicht liege in erster Linie
eine posttraumatische Belastungsstörung vor, wobei diese Diagnose
psychiatrischerseits weiter untermauert werden müsste. Dementsprechend schlug
sie den Beginn einer medikamentösen antidepressiven Behandlung vor. Am
17. Dezember 2003 erklärte Frau Dr. med. H.________, die gesamte Symptomatik
habe sich deutlich verstärkt. Klinisch-neurologisch habe nach wie vor kein
objektivierbarer pathologischer Befund erhoben werden können. Aus ihrer Sicht
liege eine posttraumatische Belastungsstörung mit vermutlich auch
somatoformer Schmerzverarbeitungsstörung vor. Sie empfehle noch einmal
dringend die Vorstellung bei einem psychiatrischen Fachkollegen. Aus
neurootologischer Sicht (Bericht Dr. med. L.________ vom 11. März 2004)
liessen sich ebenfalls keine relevanten pathologischen Befunde feststellen.
Die fachärztlichen Abklärungen im Psychiatrischen Zentrum Y.________, in
dessen Klinik der Beschwerdeführer am 13. April 2004 - nach vorgängigen
ambulanten Untersuchungen - stationär eingetreten war, ergaben die Diagnose
"sonstige depressive Episoden" (ICD-10: F32.8). Diese seien vorwiegend
somatisiert in Form von Müdigkeit, Kraftlosigkeit und Kopfschmerzen. Bereits
zu Beginn der ambulanten Therapie sei deutlich geworden, dass bei dem
chronifiziert komplexen Krankheitsbild eine ambulante psychiatrische
Behandlung nicht ausreichen würde.

3.2 Nach dem Gesagten entstand bereits anlässlich der ersten
spezialärztlichen Untersuchung durch die Neurologin Dr. med. H.________ der
Eindruck, im Zentrum der Symptomatik stehe ein Krankheitsbild, welches dem
psychiatrischen Bereich zuzuordnen sei. Dieser Verdacht wurde von
fachärztlicher Seite durch das Psychiatrische Zentrum Y.________ bestätigt.
Damit ist hinreichend erstellt, dass eine ausgeprägte psychische
Fehlentwicklung praktisch von Anfang an deutlich im Vordergrund stand. Die
weiteren ärztlichen Stellungnahmen sind nicht geeignet, diese Einschätzung in
Frage zu stellen. So führt Frau Dr. med. R.________ in ihrem Bericht vom
15. Juni 2004 die von ihr attestierte fortdauernde Arbeitsunfähigkeit in
erster Linie auf ein psychisches Krankheitsbild zurück, indem sie erklärt,
dem Patienten könne insbesondere auf Grund der schweren depressiven
Entwicklung noch keine Arbeit zugemutet werden. Auch Dr. med. K.________
erwähnt in der Stellungnahme vom 14. Juni 2004 in Konkretisierung seiner
Aussage, der Versicherte habe wirklich Beschwerden, die psychiatrische
Behandlung in Y.________, und diagnostiziert in seinem Schreiben vom
7. September 2004 neben einem HWS-Distorsionstrauma auch eine psychische
Erkrankung. Bei dieser Aktenlage hat das kantonale Gericht, der SUVA folgend,
zu Recht erkannt, die Adäquanz sei nach der mit BGE 115 V 133 ff.
eingeleiteten Rechtsprechung zu beurteilen. Zusätzliche Abklärungen
rechtfertigen sich nicht, weil davon keine weiteren relevanten Erkenntnisse
erwartet werden können (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 131 I 157 Erw. 3,
124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d; SVR 2005 MV Nr. 1 S. 2 Erw. 2.3 [=
Urteil T. vom 17. Juni 2004, M 1/02] mit Hinweisen).

3.3 Über den Hergang des Unfalls vom 23. September 2003 ist den Akten zu
entnehmen, dass der Beschwerdeführer vor einer Bushaltestelle abbremste, um
ein Postauto in den Verkehr einbiegen zu lassen. Der Lenker des nachfolgenden
Personenwagens bemerkte dies zu spät und fuhr auf das Heck des vom
Versicherten gelenkten Autos auf. Gemäss der biomechanischen Kurzbeurteilung
vom 29. Dezember 2003 dürfte die durch die Kollision bedingte
Geschwindigkeitsänderung (delta-v) des vom Beschwerdeführers gelenkten
Fahrzeugs Suzuki "innerhalb oder oberhalb eines Bereiches von 10-15 km/h"
gelegen haben. Im Rahmen der für die Belange der Adäquanzbeurteilung
vorzunehmenden Einteilung (BGE 115 V 139 Erw. 6) ist dieses Ereignis den
mittelschweren Unfällen im Grenzbereich zu den leichten zuzuordnen (vgl. zur
Praxis in vergleichbaren Fällen statt vieler RKUV 2003 Nr. U 489 S. 360
Erw. 4.2 [= Urteil A. vom 24. Juni 2003, U 193/01]). Die Adäquanz des
Kausalzusammenhangs ist demzufolge zu bejahen, falls ein einzelnes der in die
Beurteilung einzubeziehenden Merkmale (BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa) in besonders
ausgeprägter Weise erfüllt ist oder die zu berücksichtigenden Kriterien
insgesamt in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sind (BGE 115 V 140
Erw. 6c/bb). Dies trifft, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, nicht
zu. Zu bejahen ist allenfalls das Merkmal der Dauerbeschwerden (wobei auch
diesbezüglich, entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts, einzig auf
die physischen Anteile abzustellen ist), dies jedoch nicht in einer
Ausprägung, welche für sich allein zur Bejahung der Adäquanz ausreichen
würde.

3.4 Nach dem Gesagten hat die SUVA mit dem vorinstanzlich bestätigten
Einspracheentscheid vom 11. Mai 2005 ihre Leistungen mit Recht auf den
15. Mai 2004 eingestellt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb
abzuweisen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht von Appenzell
Ausserrhoden und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 23. Juni 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: