Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 193/2006
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Prozess {T 7}
U 193/06

Urteil vom 20. Oktober 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard;
Gerichtsschreiberin Weber Peter

Metzger-Versicherungen, Irisstrasse 9, 8032 Zürich, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Adelrich Friedli, Stationsstrasse 66A, 8907
Wettswil,

gegen

S.________, 1952, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin lic.
iur. Sabine Furthmann,
Im Heugarten 46, 8617 Mönchaltorf

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 13. März 2006)

Sachverhalt:

A.
Die 1952 geborene S.________ war seit 1973 als Hilfsarbeiterin bei der
Metzgerei G.________ tätig und in dieser Eigenschaft bei der
Metzger-Versicherungen obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Daneben arbeitete sie
teilzeitig in der Gebäudereinigung bei der Firma V.________. Mit
Unfallmeldung vom 26. Juli 2002 teilte die Metzgerei G.________ der
Versicherung mit, dass S.________ am 24. August 2000 Opfer einer
Vergewaltigung geworden sei. Nach verschiedenen Abklärungen verneinte die
Metzger-Versicherungen mit Verfügung vom 14. Oktober 2004 einen Anspruch auf
Versicherungsleistungen, da der rechtsgenügliche Nachweis eines
Unfallereignisses nicht erbracht sei. Mit Einspracheentscheid vom 4. November
2004 (recte: 4. April 2005) hielt sie an ihrer Verfügung fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich gut mit der Feststellung, dass die Versicherung für den Unfall
vom 25. August 2000 leistungspflichtig ist (Entscheid vom 13. März 2006).

C.
Die Metzger-Versicherungen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt,
in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides sei festzustellen, dass die
Versicherte keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen habe.

Während S.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Unfallversicherungsbereich geändert
worden. Da in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1) und sich der zur Diskussion
stehende Vorfall vor dem 1. Januar 2003 ereignet hat, sind im vorliegenden
Fall, entgegen der Vorinstanz, die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar (BGE 131 V 11 Erw. 1, 130 V 447 Erw. 1.2.1 mit
Hinweisen). Dies ändert jedoch nichts, da der redaktionell neu gefasste
Unfallbegriff des Art. 4 ATSG keine materiellrechtliche Änderung bringt,
weshalb die zum alten Recht ergangene Rechtsprechung auch bei Anwendbarkeit
des ATSG zu berücksichtigen wäre (RKUV 2004 Nr. U 530 S. 576 [Urteil F. vom
5. Juli 2004, U 123/04]).

1.2 Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen und
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Unfall, bei dem es
sich um ein Schreckereignis handelt, und dem eingetretenen Gesundheitsschaden
(vgl. auch BGE 129 V 181 Erw. 3 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Richtig
ist, dass die Adäquanz zwischen einem Schreckereignis ohne körperliche
Verletzungen und den nachfolgend aufgetretenen psychischen Störungen nach der
allgemeinen Formel (gewöhnlicher Lauf der Dinge und allgemeine
Lebenserfahrung) zu beurteilen ist (BGE 129 V 184 f. Erw. 4.2). Dabei ist mit
der Vorinstanz gemäss Rechtsprechung nicht allein auf den psychisch gesunden
Versicherten, sondern auf eine weite Bandbreite der Versicherten abzustellen.
In diesem Rahmen bilden auch solche Versicherte Bezugspersonen für die
Adäquanzbeurteilung, welche im Hinblick auf die erlebnismässige Verarbeitung
eines Unfalles zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko gehören, weil sie aus
versicherungsmässiger Sicht auf einen Unfall nicht "optimal" reagieren.
Daraus ergibt sich, dass für die Beurteilung der Frage, ob ein konkretes
Unfallereignis als alleinige Ursache oder als Teilursache nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist,
zu einer bestimmten psychischen Schädigung zu führen, kein allzu strenger,
sondern im dargelegten Sinne ein realitätsgerechter Massstab angelegt werden
muss (BGE 129 V 181 ff. Erw. 3.3 mit Hinweisen).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid mit sorgfältiger und in
allen Teilen überzeugender Begründung, worauf verwiesen wird, erwogen, dass
aufgrund der gesamten Situation, insbesondere des psychiatrischen Gutachtens
der Frau Dr. med. A.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
FMH (vom 15. März 2005), mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen ist, dass die Beschwerdegegnerin am 25. August 2000 Opfer einer
massiven sexuellen Nötigung geworden ist und es sich bei diesem Ereignis (von
einem betrunkenen Unbekannten in nächtlichem Hinterhof unter Drohung mit
einem Messer zu sexuellen Handlungen im Sinne von oralem Geschlechtsverkehr
gezwungen zu werden) um einen Unfall im Rechtssinne und zwar in Form eines
aussergewöhnlichen Schreckereignisses gehandelt hat. Letzteres wird von der
Beschwerdeführerin denn auch nicht mehr bestritten.

2.2 Gestützt auf das überzeugende psychiatrische Gutachten der Frau Dr. med.
A.________ (vom 15. März 2005), welches alle rechtsprechungsgemässen (BGE 125
V 352 Erw. 3 mit Hinweisen) Kriterien für eine beweistaugliche medizinische
Entscheidungsgrundlage erfüllt und dem mithin voller Beweiswert zukommt, ist
sie zudem zu Recht davon ausgegangen, dass die Versicherte durch dieses
nunmehr unbestrittene Ereignis eine gesundheitliche Beeinträchtigung im Sinne
einer schweren chronischen posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F43.1)
erlitten hat. Gemäss Gutachten wies die Versicherte ausnahmslos alle
geforderten Symptome auf. Wenn die Beschwerdeführerin dagegen einwendet, das
diagnostische Kriterium A der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung,
das als "Geschehen von ausserordentlicher Bedrohung oder mit katastrophalem
Ausmass", welches "bei nahezu jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen
würde", bezeichnet werde, sei nicht erfüllt, gilt einerseits festzustellen,
dass die Diagnose und Würdigung der gesundheitlichen Situation in den
Aufgabenbereich des Mediziners bzw. der Medizinerin fällt und Indizien gegen
die Zuverlässigkeit des Gutachtens vom 15. März 2005 keine ersichtlich sind.
Zudem entsteht gemäss ICD 10 eine posttraumatische Belastungsstörung als
verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine
Situation aussergewöhnlicher Bedrohung, worunter als Beispiel explizit auch
Opfer einer Vergewaltigung aufgeführt ist (Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.],
Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien, 5. Aufl.,
Bern 2005, S. 169, F43.1). Beim fraglichen Ereignis handelt es sich
hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen (Traumatisierung) um eine der
Vergewaltigung gleichzustellende Tat (vgl. Philipp Maier, in:
Niggli/Wiprächtiger, Hrsg., Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, Art.
190 N. 1). Wie die Beschwerdegegnerin zu Recht vorträgt, belegen überdies
zahlreiche Studien, dass das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung
zu entwickeln, nach sexueller Gewalt (Vergewaltigungen/ sexuelle Nötigung)
besonders hoch ist (Frauke Teegen, Posttraumatische Belastungsstörungen bei
gefährdeten Berufsgruppen, Praxis der Arbeits- und Organisationspsychologie
1. Aufl., Bern 2003, S. 29 und Daniel Hell, Jérome Endrass, Jürg Vontobel,
Kurzes Lehrbuch der Psychiatrie, 1. Aufl. Bern 2003, S. 139). Was in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde dagegen eingewendet wird überzeugt nicht.
Insbesondere wird eine diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung in
keiner Weise dadurch ausgeschlossen, dass zur Zeit des Schreckereignisses
eine arterielle Hypertonie verbunden mit Arbeitsunfähigkeit bestanden hat.
Überdies ist nicht nachvollziehbar, inwiefern die Bedrohung durch einen
alkoholisierten Täter weniger schwerwiegend sein soll, können doch dessen
Reaktionen besonders unberechenbar sein.

2.3
2.3.1 Schliesslich hat die Vorinstanz das Vorliegen eines adäquaten
Kausalzusammenhangs zwischen den bestehenden psychischen Beschwerden und dem
Unfall zu Recht bejaht. Nach geltender Rechtsprechung (BGE 129 V 177) ist bei
der Anwendung der Adäquanzformel grundsätzlich auf eine weite Bandbreite von
Versicherten abzustellen (vgl. Erw. 1.2 hievor) und dabei im allgemeinen kein
allzu strenger Massstab anzulegen. An den adäquaten Kausalzusammenhang
zwischen psychischen Beschwerden und den sogenannten Schreckereignissen im
speziellen werden jedoch hohe Anforderungen gestellt (vgl. Urteil H. vom 14.
April 2005 [U 390/04]). So verneinte das Eidgenössische Versicherungsgericht
(allerdings in Anwendung der Adäquanzkriterien von BGE 115 V 139) im Fall
einer Versicherten, die auf offener Strasse von einem Unbekannten
angegriffen, zu Boden gedrückt und in Tötungsabsicht gewürgt worden war
(wobei sie auch körperliche Beeinträchtigungen - Schrammen am Hals und
Schmerzen in der Lendengegend - erlitt; RKUV 1996 Nr. U 256 S. 215) die
Adäquanz, ebenso wie bei einem Mann, der in Zusammenhang mit seinem Geschäft
von einem unbekannten Begleiter eines Kunden mit dem Messer bedroht und
erpresst worden war (jedoch keine somatischen Verletzungen davontrug; Urteil
C. vom 19. März 2003, U 15/00) und im Fall einer Spielsalonaufsicht, die nach
Geschäftsschluss überraschend von einem Vermummten mit der Pistole bedroht
und (ohne dass sie körperlich angegriffen worden wäre) zur Geldherausgabe
gezwungen worden war (BGE 129 V 177). Gleich beurteilte es den Fall einer
Versicherten, die bei einem nächtlichen Angriff eines alkoholisierten Mannes
gewürgt und beschimpft worden war. Es hielt dazu fest, dass ein solches
Ereignis nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht geeignet sei, langjährige
Angst- und depressive Zustände herbeizuführen, dies umso mehr als sich keine
Hinweise auf einen Vergewaltigungsversuch in den Akten fänden (Urteil H. vom
14. April 2005 [U 390/04]). Nach der Rechtsprechung besteht die übliche und
einigermassen typische Reaktion auf solche Ereignisse erfahrungsgemäss darin,
dass zwar eine Traumatisierung stattfindet, diese aber vom Opfer in aller
Regel innert einiger Wochen oder Monate überwunden wird.

2.3.2 Zwar erscheint unter dem Gesichtspunkt der Bedrohung für Leib und Leben
der vorliegende Fall mit den gezeigten Sachverhalten als vergleichbar.
Hingegen handelt es sich zusätzlich um einen massiven Eingriff in die
sexuelle Integrität einer Frau, welche sich überdies in einer labilen
psychischen Situation befand. So gilt zu beachten, dass sich das
Unfallereignis am Tag zugetragen hatte, als die Versicherte aus dem Spital
austrat, wo sie vom 22. bis 25. August 2000 für eine Mamma-Probeexzision
hospitalisiert war, nachdem sie sich bereits einen Monat zuvor wegen eines
Knotens in der gleichen Brust mit Verdacht auf Krebs einer Operation
unterziehen musste, mithin, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, in einem
Zeitpunkt, in welchem sie - wie jede Frau in gleicher Lage - besonders
verletzlich gewesen sein dürfte. Zudem ist der Entlassungstag der erste Tag,
da die entlassene Person als in der Lage angesehen wird, sich ausserhalb des
Schutzes des Spitals zu bewegen. Wer das Spital unter diesen Umständen in
einer labilen psychischen Verfassung verlässt, befindet sich innerhalb der
gemäss Rechtsprechung zu berücksichtigenden Bandbreite von Versicherten. Für
die im Einspracheentscheid angeführte vorbestehende extreme psychische
Vulnerabilität finden sich in den medizinischen Akten keine relevanten
Anhaltspunkte. Es kann mithin nicht von einer aussergewöhnlichen, singulären
Reaktion psychogener Art auf erlittene Schreckunfälle gesprochen werden, bei
welcher die Kausalität zu verneinen wäre (Urteil R. vom 4. August 2005 [U
2/05]). Wer in diesem Zustand unter Lebensbedrohung zu einer ekelerregenden
sexuellen Handlung, welche einer Vergewaltigung gleichkommt, gezwungen wird,
kann nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung
einen nachhaltigen psychischen Gesundheitsschaden erleiden. Daran vermögen
die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses entsprechend steht der obsiegenden Beschwerdegegnerin eine
Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 20. Oktober 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: