Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 187/2006
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Prozess {T 7}
U 187/06

Urteil vom 13. November 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Seiler; Gerichtsschreiberin
Amstutz

B.________, 1947, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin
Linda Keller, Brühlgasse 39, 9000 St. Gallen,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 28. Februar 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene B.________ war seit 1. November 2002 als Inhaber der Firma
"X.________", selbstständig erwerbstätig und daher am 31. August 2004, als er
einen Berufsunfall mit anschliessender Arbeitsunfähigkeit erlitt, nicht
obligatorisch bei der Schweizerischen Unfallversicherung (SUVA) versichert.
Gleichwohl meldete er - in der Annahme eines Versicherungsverhältnisses - das
Unfallereignis am 2. September 2004 der SUVA. Mit Verfügung vom 8. März 2005
verneinte die Anstalt eine Leistungspflicht mit der Begründung, der
Leistungsansprecher sei weder obligatorisch noch freiwillig, auf der Basis
eines Versicherungsvertrages, bei ihr versichert. Im bestätigenden
Einspracheentscheid vom 5. Juli 2005 präzisierte die SUVA, an der fehlenden
Versicherungsdeckung ändere der Umstand nichts, dass der Unfallversicherer
vom Betrieb "X.________" Prämienzahlungen (auch) für B.________
entgegengenommen habe; dies sei aufgrund nicht wahrheitsgemässer
Deklarationen der Firma geschehen, wie der Einsprecher habe erkennen können
und müssen, weshalb er sich nicht auf eine geschützte Vertrauensposition
berufen könne.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde des B.________ mit dem Antrag, der
Einspracheentscheid vom 5. Juli 2005 sei aufzuheben und die SUVA zu
verpflichten, ihm die gesetzlichen Versicherungsleistungen auszurichten, wies
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, mit Entscheid vom 28.
Februar 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ sein vorinstanzlich
gestelltes Rechtsbegehren erneuern.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Unbestritten ist, dass der seit 1. November 2002 selbstständig erwerbende
Beschwerdeführer im Unfallzeitpunkt am 31. August 2004 mangels
Arbeitnehmereigenschaft nicht obligatorisch bei der SUVA unfallversichert war
(Art. 1a Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 1 UVV, je in der seit 1. Januar
2003 geltenden Fassung). Ebenfalls fest steht, dass eine freiwillige
Versicherung in Form eines schriftlichen Vertrages nicht zustande gekommen
ist (Art. 4 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 136 UVV). Ausser Frage steht
ferner, dass die SUVA dem Beschwerdeführer bezüglich der Versicherungsdeckung
weder eine unrichtige Auskunft erteilt noch ausdrückliche Zusicherungen
gemacht hat. Zu prüfender Streitpunkt bleibt, ob die SUVA - wie in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde behauptet - mit der unwidersprochenen
Entgegennahme von Prämienzahlungen der Einzelfirma "X.________" ihre
Informationspflichten gemäss Art. 72 UVV und Art. 27 Abs. 2 ATSG verletzt hat
und der Beschwerdeführer infolgedessen gestützt auf den Grundsatz von Treu
und Glauben Versicherungsschutz beanspruchen kann.

2.
2.1 Gemäss Art. 27 ATSG sind die Versicherungsträger und Durchführungsorgane
der einzelnen Sozialversicherungen verpflichtet, im Rahmen ihres
Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und
Pflichten aufzuklären (Abs. 1). Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich
unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind
die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder
die Pflichten zu erfüllen sind. Für Beratungen, die aufwändige
Nachforschungen erfordern, kann der Bundesrat die Erhebung von Gebühren
vorsehen und den Gebührentarif festlegen (Abs. 2). Absatz 1 des Art. 27 ATSG
stipuliert eine allgemeine und permanente Aufklärungspflicht der
Versicherungsträger und Durchführungsorgane, die nicht erst auf persönliches
Verlangen der interessierten Personen zu erfolgen hat, und hauptsächlich
durch die Abgabe von Informationsbroschüren, Merkblättern und Wegleitungen
erfüllt wird. Der im hier zu beurteilenden Fall relevante Absatz 2 derselben
Bestimmung beschlägt dagegen ein individuelles Recht auf Beratung durch den
zuständigen Versicherungsträger. Jede versicherte Person kann vom
Versicherungsträger im konkreten Einzelfall eine unentgeltliche Beratung über
ihre Rechte und Pflichten verlangen (BGE 131 V 476 Erw. 4.1). Das
Eidgenössische Versicherungsgericht hat bisher offen gelassen, wo die Grenzen
der in Art. 27 Abs. 2 ATSG verankerten Beratungspflicht in
generell-abstrakter Weise zu ziehen sind. Es hat jedoch entschieden, dass es
auf jeden Fall zum Kern der Beratungspflicht gehört, die versicherte Person
darauf aufmerksam zu machen, ihr Verhalten könne eine der Voraussetzungen des
Leistungsanspruches gefährden (BGE 131 V 479 f. Erw. 4.3 in fine).

Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht nach Art. 27
Abs. 2 ATSG kommt gemäss konstanter (BGE 124 V 221 Erw. 2b, 113 V 71 Erw. 2,
112 V 120 Erw. 3b; ARV 2003 S. 127 Erw. 3b, 2002 S. 115 Erw. 2c, 2000 S. 98
Erw. 2b) und unter der Herrschaft des ATSG weitergeltenden Rechtsprechung
(BGE 131 V 481 Erw. 5) einer falsch erteilten Auskunft des
Versicherungsträgers gleich. Dieser hat in Nachachtung des Vertrauensprinzips
hierfür einzustehen, sofern sämtliche Voraussetzungen des
öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutzes (dazu BGE 131 V 480 f. Erw. 5, 127
I 36 Erw. 3a, 126 II 387 Erw. 3a; RKUV 2000 Nr. KV 126 S. 223; zu Art. 4 Abs.
1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 121 V 66 Erw. 2a mit
Hinweisen) erfüllt sind.

2.2 Gemäss Art. 72 Satz 1 UVV sorgen die Versicherer dafür, dass die
Arbeitgeber über die Durchführung der Unfallversicherung ausreichend
informiert werden. Diese - nach Inkrafttreten des ATSG im Wortlaut
unverändert belassene - Verordnungsbestimmung verpflichtet den Versicherer zu
einer substantiellen Information ihrer angeschlossenen Arbeitgeber von Amtes
wegen. Die entsprechende Verfahrenspflicht geht nach der vor 1. Januar 2003
ergangenen Rechtsprechung über die praxisgemäss aus dem Grundsatz von Treu
und Glauben hergeleitete allgemeine Pflicht der Sozialversicherungsträger,
die an der Versicherung Beteiligten auf Verlangen in Einzelfragen zu beraten
oder ihnen Auskunft zu erteilen, hinaus (BGE 121 V 32 f. Erw. 2a). Wie sich
die Informationspflicht gemäss Art. 72 UVV inhaltlich zur nunmehr in Art. 27
ATSG statuierten Aufklärungs- und Beratungspflicht verhält, bedarf mit Blick
auf die nachfolgenden Ausführungen (Erw. 3 hernach) keiner abschliessenden
Prüfung (vgl. immerhin Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht:
Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und
Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4523 ff., hier: 4583). Fest steht
jedenfalls, dass auch im Rahmen von Art. 72 UVV - analog zu Art. 27 Abs. 2
ATSG - der Grundsatz gilt, wonach die Verletzung der Informationspflicht nur
dann zu Rechtsfolgen führen kann, wenn die Voraussetzungen für eine
erfolgreiche Berufung auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz (Art. 9
BV) allesamt erfüllt sind (RKUV 2004 Nr. U 517 S. 429 f. Erw. 2.1 [Urteil Z.
vom 29. März 2004, U 255/03], 2001 Nr. U 441 S. 542 f. [Urteil R. vom 27.
August 2001, U 285/99], 2000 Nr. U 387 S. 274 f. Erw. 3b [Urteil G. vom 14.
April 2000, U 340/99]).

3.
3.1 Der Unfallversicherer ist im Rahmen von Art. 72 UVV und Art. 27 Abs. 2
ATSG nicht voraussetzungslos verpflichtet, über eine fehlende obligatorische
Versicherung und die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung gemäss Art.
4. Abs. 1 UVG zu informieren, sondern nur dann, wenn ein hinreichender Anlass
zur Information besteht. Fehlen Anhaltspunkte dafür, dass jemand überhaupt in
den von der freiwilligen Versicherung erfassten Personenkreis fällt, stellt
die unterbliebene Information über diese Form der Versicherungsdeckung mithin
keine Verletzung gemäss Art. 72 UVV und Art. 27 Abs. 2 ATSG dar.

3.2 Der Beschwerdeführer räumt ein, dass er in der für das Jahr 2003
ausgestellten Lohndeklaration seiner Firma fälschlicherweise als Arbeitnehmer
aufgeführt war. Damit hat er - in Verletzung seiner Pflicht zur
wahrheitsgemässen Deklaration der für die Prämienberechnung massgebenden
Löhne gemäss Art. 120 Abs. 2 UVV - die SUVA in den Irrtum versetzt, er gehöre
zum Kreis der obligatorisch Versicherten. Nach Lage der Akten hatte die SUVA
bis Oktober 2004 keinen Anlass zur Annahme, dass die in der Lohndeklaration
2003 enthaltenen Angaben über den erwerblichen Status unzutreffend sein
könnten. Erst am 19. Oktober 2004 gab der Beschwerdeführer einem
SUVA-Aussendienstmitarbeiter bekannt, er sei als selbstständiger Unternehmer
tätig und habe aktuell keine Angestellten. Der erst letztinstanzlich
vorgebrachte Einwand, anlässlich der Gründung der Einzelfirma im Jahre 2002
sei der Beschwerdeführer von einem "SUVA-Berater" persönlich aufgesucht und
bezüglich des Abschlusses der erforderlichen Versicherung beraten worden,
womit der Unfallversicherer Kenntnis über seine selbstständige
Erwerbstätigkeit gehabt habe und er sich habe versichert wähnen dürfen, ist
als weder bewiesene noch durch irgendwelche Abklärungsmassnahmen beweisbare
Schutzbehauptung zu werten und daher nicht zu hören. Es bleibt mithin bei der
Feststellung, dass vor dem Unfall für die SUVA nichts darauf hindeutete, dass
die Lohndeklaration 2003 die Statusverhältnisse unzutreffend wiedergab. Die
SUVA durfte daher die Zahlung der gestützt darauf erhobenen Prämienrechungen
unwidersprochen entgegen nehmen, ohne damit Informationspflichten nach Art.
72 UVV und Art. 27 Abs. 2 UVV zu verletzen. Die Berufung auf eine rechtlich
geschützte Vertrauensstellung scheitert folglich bereits am Fehlen einer
pflichtwidrigen Unterlassung der SUVA.

3.3 Selbst wenn mit dem Beschwerdeführer davon ausgegangen wird, dass die
SUVA ihn bei gebotener Prüfung der Lohndeklaration 2003 ohne Weiteres als
(selbstständigerwerbenden) Inhaber der Einzelfirma "X.________" hätte
erkennen können, und die unterbliebene Reaktion des Unfallversicherers die
gesetzliche Informationspflicht verletzt, greift der Vertrauensschutz mangels
Erfüllung der weiteren Voraussetzungen hierfür nicht.

3.3.1 Allgemein kann sich auf berechtigtes Vertrauen nur berufen, wer bei der
Aufmerksamkeit, wie sie nach den Umständen von ihm verlangt werden darf,
selber als gutgläubig gelten kann (BGE 130 III 399 Erw. 1.2.3). Keinen
Vertrauensschutz kann somit beanspruchen, wer nicht selber die zur Wahrung
seiner Rechte notwendigen Schritte unverzüglich unternommen hat, die ihm Treu
und Glauben geboten hätten (vgl. BGE 127 II 230 Erw. 1b; Urteil 5P.158/2005
der II. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 15. Juli 2005 [zu Art. 9 BV]).
Im Zusammenhang mit der Verletzung von Informationspflichten fehlt es an der
erforderlichen Gutgläubigkeit rechtsprechungsgemäss namentlich dann, wenn
eine Person den Inhalt einer pflichtwidrig unterbliebenen Auskunft oder
Information kennt oder dieser so selbstverständlich ist, dass mit einer
Auskunft oder Information anderen Inhalts nicht gerechnet werden muss (vgl.
BGE 131 V 480 f. Erw. 5).

3.3.2 Nach Lage der Akten und den Parteivorbringen besteht kein Zweifel, dass
dem Beschwerdeführer sein Status als Selbstständigerwerbender ab dem
Zeitpunkt seiner Firmengründung stets bewusst war. Im Jahre 2002 führte er in
der Zusammenstellung der "Entgelte an obligatorisch versicherte Personen" zu
Handen der SUVA denn auch - richtigerweise - nur den Lohn seines damaligen
Angestellten auf. Es war ihm somit schon damals bekannt und musste ihm auch
im Jahre 2003 (und 2004) gleichermassen klar sein, dass er als
Selbstständigerwerbender nicht zum Kreis der obligatorisch Versicherten
gehörte. Bei fehlendem obligatorischen Versicherungsschutz ist nun aber
selbstverständlich, dass eine Unfallversicherungsdeckung wenn überhaupt, dann
lediglich durch eine freiwillige Vereinbarung erreicht werden kann. Mit einer
anderen als dieser Möglichkeit, eine Versicherungsverhältnis zu begründen,
ist schlechterdings nicht zu rechnen. Bei dieser Sachlage ist der
Beschwerdeführer hinsichtlich seines Versicherungsschutzes im fraglichen
Zeitraum 2003/2004 nicht als gutgläubig einzustufen. Der Berufung auf eine
Informationspflichtverletzung des Unfallversicherers und eine daraus
resultierende, schützenswerte Vertrauensposition kann somit mangels
Gutgläubigkeit kein Erfolg beschieden sein (Erw. 3.3.1).

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 13. November 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: