Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 137/2006
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Prozess {T 7}
U 137/06

Urteil vom 17. Oktober 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Jancar

Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft, Place de Milan, 1007
Lausanne, Beschwerdeführerin,

gegen

Progrès Versicherungen AG, Versicherungsrecht, 8081 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

betreffend F.________, 1973

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 14. Februar 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1973 geborene F.________ arbeitete seit 1. März 2005 als
Anästhesiepfleger im Spital X.________ und war damit bei den Vaudoise
Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Vaudoise)
unfallversichert. Am 29. Mai 2005 verdrehte er sich bei der Landung mit dem
Gleitschirm das rechte Knie und klagte seither über starke Beschwerden
daselbst. Das Spital X.________, wo er am 30. Mai 2005 behandelt wurde,
stellte folgende Diagnose: Ruptur des vorderen Kreuzbandes rechts, Verdacht
auf Ruptur des hinteren Kreuzbandes rechts, fraglich mediale und laterale
Meniskusläsion Knie rechts. Als vorbestehend diagnostizierte es einen Status
nach vorderer Kreuzbandplastik mit Patellarsehne Knie rechts vor sechs Jahren
sowie einen Status nach Reruptur des vorderen Kreuzbandes und medialem
Meniskusriss 2004 (konservative Therapie). Der Versicherte war seit 30. Mai
2005 eine Woche zu 100 % sowie eine weitere Woche zu 50 % arbeitsunfähig und
ab 13. Juni 2005 wieder voll arbeitsfähig. Mit Verfügung vom 31. August 2005
verneinte die Vaudoise ihre Leistungspflicht. Die dagegen von der Progrès
Versicherungen AG (nachfolgend Progrès; Krankenversicherer des F.________)
erhobene Einsprache wies die Vaudoise ab. Der Versicherte habe am 29. Mai
2005 mit der Ruptur des vorderen Kreuzbandes rechts zwar eine
Körperschädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV erlitten. Es habe jedoch kein
unfallähnliches Ereignis im Rechtssinne stattgefunden, da die Landung normal
bis fein gewesen sei. Die durchgeführte Bewegung sei somit nicht im Rahmen
einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage vorgenommen worden und könne somit
nicht als Ereignis mit gewissem Gefährdungspotenzial betrachtet werden
(Entscheid vom 16. November 2005).

B.
In Gutheissung der hiegegen von der Progrès eingereichten Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Verfügung und den
Einspracheentscheid auf und wies die Vaudoise an, im Sinne der Erwägungen zu
verfahren. Den Erwägungen ist zu entnehmen, dass bezüglich des Ereignisses
vom 29. Mai 2005 der Tatbestand der unfallähnlichen Körperschädigung als
erfüllt angesehen wurde. Die Vaudoise wurde angewiesen, hiefür die
gesetzlichen UVG-Leistungen zu erbringen, unter Vorbehalt der übrigen
Anspruchsvoraussetzungen (Entscheid vom 14. Februar 2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Vaudoise die Aufhebung des
kantonalen Entscheides.
Die Progrès schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Gesundheit und der als Mitbeteiligter beigeladene
F.________ auf eine Vernehmlassung verzichten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob es sich beim Geschehen vom 29. Mai 2005 um ein
versichertes Ereignis handelt.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Leistungen der
Unfallversicherung im Allgemeinen (Art. 6 Abs. 1 und 2 UVG) zutreffend
dargelegt. Gleiches gilt bezüglich des Begriffs der Körperschädigungen, die
auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung Unfällen gleichgestellt sind
(Art. 6 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 UVV [in der seit 1. Januar
1998 gültigen Fassung]), sowie der zuletzt in BGE 129 V 466 mit Hinweisen
bestätigten und präzisierten Rechtsprechung, wonach dabei am Erfordernis des
äusseren Faktors gemäss BGE 123 V 43 und RKUV 2001 Nr. U 435 S. 332
festzuhalten ist. Darauf wird verwiesen.

2.
Im eben zitierten BGE 129 V 466 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
seine Rechtsprechung zu den unfallähnlichen Körperschädigungen dahingehend
präzisiert, dass tatbestandsmässig ein ausserhalb des Körpers liegender,
objektiv feststellbarer, sinnfälliger, eben unfallähnlicher Vorfall
erforderlich ist. Wo ein solches Ereignis mit Einwirkung auf den Körper nicht
stattgefunden hat, und sei es auch nur als Auslöser eines in Art. 9 Abs. 2
lit. a-h UVV aufgezählten Gesundheitsschadens, ist eine eindeutig krankheits-
oder degenerativ bedingte Gesundheitsschädigung gegeben. Kein unfallähnliches
Ereignis liegt in all jenen Fällen vor, in denen der äussere Faktor mit dem
(erstmaligen) Auftreten der für eine der in Art. 9 Abs. 2 lit. a-h UVV
enthaltenen Gesundheitsschäden typischen Schmerzen gleichgesetzt wird. Auch
nicht erfüllt ist das Erfordernis des äusseren schädigenden Faktors, wenn das
(erstmalige) Auftreten von Schmerzen mit einer blossen Lebensverrichtung
einhergeht, welche die versicherte Person zu beschreiben in der Lage ist;
denn für die Bejahung eines äusseren, auf den menschlichen Körper schädigend
einwirkenden Faktors ist stets ein Geschehen verlangt, dem ein gewisses
gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohnt. Das ist zu bejahen, wenn die zum
einschiessenden Schmerz führende Tätigkeit im Rahmen einer allgemein
gesteigerten Gefahrenlage vorgenommen wird, wie dies etwa für viele
sportliche Betätigungen zutreffen kann. Wer hingegen beim Aufstehen,
Absitzen, Abliegen, der Bewegung im Raum, Handreichungen usw. einen
einschiessenden Schmerz erleidet, welcher sich als Symptom einer Schädigung
nach Art. 9 Abs. 2 UVV herausstellt, kann sich nicht auf das Vorliegen einer
unfallähnlichen Körperschädigung berufen. Erfüllt ist demgegenüber das
Erfordernis des äusseren schädigenden Faktors bei Änderungen der Körperlage,
die nach unfallmedizinischer Erfahrung häufig zu körpereigenen Traumen führen
können, wie das plötzliche Aufstehen aus der Hocke, die heftige und/oder
belastende Bewegung und die durch äussere Einflüsse unkontrollierbare
Änderung der Körperlage (BGE 129 V 467 ff. Erw. 2.2 und 4.2). Erforderlich
und hinreichend für die Bejahung eines äusseren Faktors ist, dass diesem ein
gesteigertes Schädigungspotenzial zukommt, sei es zufolge einer allgemein
gesteigerten Gefahrenlage, sei es durch Hinzutreten eines zur
Unkontrollierbarkeit der Vornahme der alltäglichen Lebensverrichtung
führenden Faktors (BGE 129 V 471 Erw. 4.3).
Der Auslösungsfaktor kann dabei alltäglich und diskret sein. Es muss sich
indessen um ein plötzliches Ereignis handeln, wie eine heftige Bewegung oder
das plötzliche Aufstehen aus der Hocke. Dabei kommt es beim Begriffsmerkmal
der Plötzlichkeit im Rahmen der unfallähnlichen Körperschädigungen nicht in
erster Linie auf die Dauer der schädigenden Einwirkung an als vielmehr auf
deren Einmaligkeit. Keine unfallähnliche Körperschädigung liegt demgemäss
vor, wenn eine Verletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 lit. a-h UVV
ausschliesslich auf wiederholte, im täglichen Leben laufend auftretende
Mikrotraumata zurückzuführen ist, welche eine allmähliche Abnützung bewirken
und schliesslich zu einem behandlungsbedürftigen Gesundheitsschaden führen
(Urteil B. vom 21. Dezember 2005 Erw. 2, U 368/05; Urteil A. vom 27. Oktober
2005 Erw. 4.2, U 223/05, mit Hinweisen auf BGE 116 V 148 Erw. 2c und Alfred
Bühler, Die unfallähnliche Körperschädigung, in: SZS 1996 S. 88).

3.
In tatsächlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass der Versicherte sich
beim Landen mit dem Gleitschirm das rechte Knie verdreht hat, wobei er im
"Fragebogen Unfallbegriff" der Beschwerdeführerin vom 10. August 2005 angab,
es habe sich um eine "normale bis feine Landung" gehandelt. Beweismässig ist
mithin nicht erstellt, dass er bei der Landung stürzte oder mit etwas
zusammenstiess oder eine unkoordinierte Bewegung in dem Sinne machte, dass
sein Bewegungsablauf durch etwas Programmwidriges oder Sinnfälliges, wie ein
Ausgleiten, ein Stolpern oder ein reflexartiges Abwehren eines Sturzes etc.,
gestört wurde, was zur Bejahung des für das Vorliegen eines Unfalles im
Rechtssinne erforderlichen Merkmals eines ungewöhnlichen äusseren Faktors
führen würde (BGE 130 V 118 Erw. 2.1, 122 V 232 Erw. 1; RKUV 1999 Nr. U 333
S. 199 Erw. 3c/aa und dd; vgl. auch erwähntes Urteil U 368/05 Erw. 3.1). Ein
Unfall im Rechtssinne fällt daher ausser Betracht, was denn auch allseits
unbestritten ist.

4.
4.1 Die Vaudoise und das kantonale Gericht gelangten mit Blick auf die
medizinischen Unterlagen zutreffend zum Schluss, dass der Versicherte beim
Ereignis vom 29. Mai 2005 eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes rechts und
damit eine Körperschädigung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 lit. g UVV erlitten
hat. Seither klage er über Beeinträchtigungen am rechten Knie. Richtig ist
mit der Vorinstanz auch, dass er vor diesem Ereignis trotz vorgeschädigtem
rechten Kniegelenk beschwerdefrei war.

4.2 Die Vaudoise macht letztinstanzlich geltend, laut den Aussagen des
Versicherten sei die Landung "fein bis normal" erfolgt. Es habe keine heftige
oder brüske Bewegung vorgelegen; der Versicherte sei vom Gleitschirm sogar
getragen oder in der Luft zurückgehalten worden. Er sei somit bei optimaler
Wetterlage sanft am Boden angekommen. Die Voraussetzung der Sinnfälligkeit
beziehe sich auf den äusseren Faktor selber, vorliegend auf das Landen auf
dem Boden unter normalen oder optimalen Bedingungen, und nicht auf die Folgen
der Landung, d.h. das Verdrehen des Knies in Folge dieser Landung.

4.3 Die Landung mit einem Gleitschirm stellt ein Geschehen mit einem
gesteigerten Gefährundgspotenzial dar. Es handelt sich nicht um eine
alltägliche Lebensverrichtung wie z.B. das blosse Aufstehen, Absitzen,
Abliegen oder Bewegen im Raum. Obwohl der Versicherte die Landung als "normal
bis fein" beschrieb, ist diese nicht planmässig gelungen, indem er sich beim
Aufsetzen auf den Boden das rechte Knie verdrehte. Es ist mithin durch eine
plötzliche und unkontrollierte Drehbewegung des Kniegelenks zur
Kreuzbandläsion gekommen, worauf sofort starke Beschwerden und Schmerzen
auftraten. Die Verletzung ist mithin auf ein sinnfälliges Ereignis anlässlich
der Ausübung einer erhöht risikogeneigten Sportart zurückzuführen. Damit hat
sich das gesteigerte Gefährdungspotenzial realisiert, weshalb mit der
Vorinstanz auf ein unfallähnliches Ereignis zu erkennen ist. Die Einwendungen
der Vaudoise vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.

4.4 Die Vaudoise ist somit dem Grundsatz nach für die am 29. Mai 2005
zugezogene Knieverletzung rechts leistungspflichtig. Hieran ändert die
Vorschädigung des Knies (Erw. 4.1) nichts (Art. 36 UVG), da es nach der
Rechtsprechung genügt, wenn ein äusseres Ereignis erstellt ist, welches
zumindest im Sinne eines Auslösungsfaktors die eingetretene
Gesundheitsschädigung bewirkt hat (BGE 129 V 466 Erw. 2.1, 123 V 45, vgl.
auch Urteil W. vom 21. März 2006 Erw. 6.2, U 222/05, je mit Hinweisen). Das
trifft hier nach dem Gesagten zu.

5.
Streitigkeiten zwischen Versicherungsträgern über Leistungen aus Unfallfolgen
für einen gemeinsamen Versicherten sind kostenpflichtig (BGE 126 V 192 Erw. 6
mit Hinweisen). Die unterliegende Vaudoise hat demnach die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Da die Progrès eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation
ist, steht ihr trotz Obsiegens keine Parteientschädigung zu (BGE 128 V 133
Erw. 5b; in BGE 129 V 466 nicht publizierte Erw. 6). Dem beigeladenen
Versicherten steht ebenfalls keine Parteientschädigung zu, da er sich nicht
vernehmen liess (SVR 1995 AHV Nr. 70 S. 214 Erw. 6b).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden der Beschwerdeführerin  auferlegt
und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Es wird keine Parteientschädigung ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, dem Bundesamt für Gesundheit und F.________ zugestellt.
Luzern, 17. Oktober 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: