Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 122/2006
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Prozess {T 7}
U 122/06

Urteil vom 19. September 2006

I. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari,
Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundes-
richter Lustenberger; Gerichtsschreiber Arnold

H.________, 1978, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Sven Marguth, Aarbergergasse 21, 3011 Bern,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 20. Januar 2006)

Sachverhalt:

A.
Der 1978 geborene H.________ war seit 3. Januar 2000 für die Eidgenössische
Verwaltung tätig und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheit
versichert. Laut Unfallmeldung UVG vom 17. September 2004 erlitt er am 15.
September 2004, 20.30 Uhr, beim Sprung mit dem (Einer-)Kajak von der alten
Aarebrücke in Olten einen starken Schlag auf den Rücken, als er nicht wie
vorgesehen im Winkel von 45 Grad, sondern flach mit dem Kajakboden auf die
Wasseroberfläche aufschlug. Dabei zog er sich Kompressionsfrakturen des
Brustwirbelkörpers (BWK) 11 und des Lendenwirbelkörpers (LWK) 1 zu, die vom
Unfalltag bis 22. September 2004 im Kantonsspital X.________, Chirurgische
Klinik, stationär mittels einer (für insgesamt acht Wochen geplanten)
Ruhigstellung des betroffenen Wirbelsäulenteils durch eine so genannte
Risser-Brace behandelt wurden. Bei Klinikaustritt hatte sich der
Allgemeinzustand gebessert, die Motorik und die Sensibilität waren laut
behandelnden Ärzten intakt (Austrittsbericht des Kantonsspitals vom 24.
September 2004). Die SUVA anerkannte grundsätzlich ihre Leistungspflicht,
kürzte jedoch mit Verfügung vom 1. Dezember 2004 die Geldleistungen wegen
Vorliegens eines Wagnisses um 50 %. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 1. März 2005).

B.
Die dagegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn ab (Entscheid vom 20. Januar 2006).

C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in
Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die SUVA zu verpflichten, die
gesetzlichen Leistungen seit 18. September 2004 ungekürzt auszurichten.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Kürzung der
Geldleistungen um 50 % aus dem Unfallereignis vom 17. September 2004 wegen
Vorliegen eines Wagnisses vor Bundesrecht stand hält.

1.2 Gemäss Art. 39 UVG (in der seit 1. Januar 2003 gültigen Fassung) kann der
Bundesrat aussergewöhnliche Gefahren und Wagnisse bezeichnen, die in der
Versicherung der Nichtberufsunfälle zur Verweigerung sämtlicher Leistungen
oder zur Kürzung der Geldleistungen führen. Die Verweigerung oder Kürzung
kann er in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 - 3 ATSG ordnen. Von dieser
Kompetenz hat die Exekutive u.a. mit dem Erlass von Art. 50 UVV (in Kraft
seit 1. Januar 1984) Gebrauch gemacht. Danach werden bei Nichtberufsunfällen,
die auf ein Wagnis zurückgehen, die Geldleistungen um die Hälfte gekürzt und
in besonders schweren Fällen verweigert (Abs. 1). Wagnisse sind Handlungen,
mit denen sich der Versicherte einer besonders grossen Gefahr aussetzt, ohne
die Vorkehren zu treffen oder treffen zu können, die das Risiko auf ein
vernünftiges Mass beschränken (Abs. 2 Satz 1).

2.
2.1 Der Begriff des Wagnisses im Sinne der genannten Bestimmungen ist mit
jenem identisch, welcher unter der Herrschaft des bis 31. Dezember 1983 in
Kraft gestandenen KUVG gültig war (Art. 67 Abs. 3 KUVG/Beschluss des
SUVA-Verwaltungsrates vom 31. Oktober 1967).
Nachdem ursprünglich anhand ausschliesslich objektiver Kriterien beurteilt
wurde, ob eine Handlung als Wagnis zu qualifizieren sei, differenzierte BGE
97 V 72 ff. danach, ob die Unternehmung mit so erheblichen Gefahren für Leib
und Leben verbunden ist, dass diese Gefahren durch die handelnden Personen
nicht auf ein vernünftiges Mass reduziert werden können, unabhängig davon,
wer auch immer unter noch so günstigen Umständen zu Werke gehen mag. Ist
diese Frage zu verneinen und die zu beurteilende Betätigung an sich
schützenswert (a.a.O., Erw. 2d in fine), ist - gleichsam in einem dritten
Schritt - anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles, worunter die
persönlichen Fähigkeiten der Beteiligten und die Art der Durchführung des
Unternehmens, zu prüfen, ob die objektiv vorhandenen Risiken und Gefahren auf
ein vertretbares Mass herabgesetzt wurden (a.a.O., Erw. 2c und 5). Diese mehr
als 35 Jahre alten Grundsätze gelten nach wie vor. Mit der Lehre (Alfred
Maurer, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 508 f. mit
Hinweisen; Alexandra Rumo-Jungo, Die Leistungskürzung oder -verweigerung
gemäss Art. 37 - 39 UVG, Diss. Freiburg 1993, S. 296 und 302 f.) und der
Judikatur (BGE 97 V 72 ff., 125 V 315 Erw. 3a am Ende; RKUV 2001 Nr. U 424 [U
187/99] S. 205 Erw. 2b) ist die Frage des schützenswerten Charakters einer
Handlung nicht erst auf der Ebene des relativen (in diesem Sinne: BGE 112 V
47 Erw. 2a, 112 V 300 Erw. 1b), sondern auf derjenigen des absoluten
Wagnisses zu prüfen. Ein absolutes Wagnis liegt demnach in zwei
Konstellationen vor: Zum einen, wenn eine Handlung auf Grund objektiver
Gegebenheiten mit Gefahren verbunden ist, die unabhängig von den konkreten
Verhältnissen nicht auf ein vernünftiges Mass herabgesetzt werden können.
Mangelt es am schützenswerten Charakter einer Handlung, indem z.B.
unsinnigerweise ein Trinkglas, sei es aus Jux oder aus der Wut heraus, mit
einer Hand zusammengepresst wird, ist aus objektiven Gründen ebenfalls auf
ein absolutes Wagnis zu erkennen (so implizit u.a. BGE 125 V 315 Erw. 3a am
Ende). Die für den Begriff des relativen Wagnisses charakteristische
Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse scheidet hier von vornherein aus
(zutreffend: Alfred Maurer, a.a.O., S. 508 f. mit Hinweisen; Alexandra
Rumo-Jungo, a.a.O., S. 96 und 302 f.; anders: Alexandra Rumo-Jungo,
Bundesgesetz über die Unfallversicherung, in: Murer/ Stauffer [Hrsg.],
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, 3. Aufl.,
Zürich 2003, S. 228 mit Hinweisen).

2.2 Nach der neueren Rechtsprechung zu verschiedenen gefährlichen Sportarten
gelten zunächst solche als absolute Wagnisse (in der ersten Variante gemäss
Erw. 2.1. hievor), die wettkampfmässig betrieben werden und bei denen es auf
die Geschwindigkeit ankommt (Motocross-Rennen: RKUV 1991 Nr. U 127 [U 5/90]
S. 221; Auto-Bergrennen: BGE 113 V 222, 112 V 44; Karting-Rennen: nicht
veröffentlichtes Urteil N. vom 4. November 1964, U 23/64). Im Weitern gelten
Boxwettkämpfe als absolutes Wagnis, da die Angriffe direkt auf den Körper
zielen (EVGE 1962 S. 280). In gleicher Weise qualifiziert wird
wettkampfmässiges Thaiboxen (RKUV 2005 Nr. U 552 [U 336/04] S. 306). Die
Ausübung anderer Sportarten kann je nach Beeinflussbarkeit des Risikos einmal
ein absolutes, ein anderes Mal - bei weiteren gegebenen Umständen - ein
relatives Wagnis darstellen (Canyoning: BGE 125 V 312; Auto-Rallye: BGE 106 V
45; Deltasegeln: BGE 104 V 19, nicht veröffentlichte Urteile J. vom 1. Juli
1980, U 45/79, und D. vom 27. September 1978, U 5/78; Höhlentauchen: BGE 96 V
100; Klettern: BGE 97 V 72 und 86; Schlitteln mit aufgeblasenen Auto- und
Lastwagenschläuchen: RKUV 1999 Nr. U 348 [U 288/98] S. 473).

3.
3.1 Gemäss Unfallmeldung UVG (vom 17. September 2004) sowie insbesondere auf
Grund der Angaben des Beschwerdeführers anlässlich der Befragung durch einen
Mitarbeiter der SUVA (vom 18. November 2004) ist von folgendem Geschehen
auszugehen: Der Beschwerdeführer trainierte am 15. September 2004 nach
Arbeitsende mit Kollegen vom Kanuclub. Nachdem sie zuerst im Schwimmbad
Z.________ Sprünge mit dem Kajak aus drei und fünf Metern ohne nennenswerte
Probleme absolviert hatten, dislozierten sie zur alten Holzbrücke in Olten,
wo der Beschwerdeführer am 20.30 Uhr als einziger versuchte, aus einer Höhe
von circa sieben Metern in die Aare zu springen. Im (Einer-)Kajak sitzend
wurde er dabei von einem Kollegen über die Brückenbrüstung hinausgeschoben,
worauf das Unheil seinen Gang nahm und er nicht wie vorgesehen im Winkel von
45 Grad eintauchte, sondern flach auf dem Wasser aufschlug.

3.2
3.2.1 Ob ein Wagnis vorliegt, ist auf Grund des konkreten Geschehnisses zu
beurteilen. Im Rahmen einer länger dauernden Unternehmung, wie z.B. einer
Reise, einer Berg- oder einer Klettertour, kann die gesamte Tour ein Wagnis -
relativer oder absoluter Art - sein. Ist dies zu verneinen, bleibt zu prüfen,
ob eine Einzelhandlung oder ein Handlungsabschnitt den Wagnisbegriff
erfüllten (vgl. BGE 97 V 83 f. Erw. 6a bezüglich Kletterpartie und Maurer,
a.a.O., S. 511 f. mit Hinweisen). Im hier zu beurteilenden Fall ist denn auch
nicht darüber zu befinden, ob, und gegebenenfalls unter welchen
Voraussetzungen, Kajakfahren im Wildwasser an sich ein Wagnis im Rechtssinne
ist. Es kann dabei insbesondere auch offen bleiben, wie es sich mit dem
Befahren von hohen Stufen (vertikalen Abrissen im Flussbett) und Wasserfällen
verhält. Zu entscheiden ist vielmehr allein darüber, ob dem fraglichen Sprung
vom 15. September 2004 Wagnischarakter zukommt oder nicht.

3.2.2 Über die Motivlage für den Sprung von der alten Holzbrücke besteht
Uneinigkeit. Die Beschwerdegegnerin ging im kantonalen Prozess von einem
nicht schützenswerten "Kajak-Stunt" aus. Laut Vorinstanz weisen die gesamten
Umstände darauf hin, dass es sich zumindest um einen "stuntähnlichen" Sprung
gehandelt habe, welchen der Beschwerdeführer als einziger der Trainingsgruppe
absolviert habe, um dem Unbekannten nachzueifern, welchem dieses Unterfangen
vor Jahren gelungen sein soll. Der Beschwerdeführer erneuert letztinstanzlich
seinen Standpunkt, er habe den Sprung ausschliesslich zu Trainingszwecken
getätigt. Wohl sei er noch nie aus sieben Metern gesprungen, er habe indes
eine Vielzahl von Sprüngen vom 5-Meter-Turm in der Badeanstalt bewältigt und
eine grosse Zahl kleinerer Stufen befahren. Nachdem der Beschwerdeführer
gegenüber einem Mitarbeiter der SUVA am 18. November 2004 erklärt hatte, er
habe sich den Sprung auch deshalb zugetraut, weil er bereits vor Jahren
jemandem geglückt sei, weist er letztinstanzlich darauf hin, die fraglichen
Sprünge seien von drei ihm persönlich bekannten Mitgliedern des Kanu-Clubs zu
Trainingszwecken absolviert worden. Er habe darauf vertraut, dass ihm der
Sprung ebenfalls gelinge, nachdem er in etwa über das gleiche technische
Rüstzeug verfüge wie die Sportskollegen.

Der Beschwerdeführer räumt ein, dass der Kanu-Club nicht regelmässig auf der
alten Holzbrücke trainiert. Das ist gelinde gesagt eine Untertreibung,
nachdem seinen eigenen Angaben zufolge in den letzten Jahren nebst ihm eine,
allenfalls drei, weitere Personen diesen Sprung absolviert haben. Mit Blick
darauf, dass der fragliche Sprung offenkundig eine Rarität darstellt und dem
Vorhaben insgesamt eine hohe Attraktivität innewohnt (spektakulärer Sprung
von einer imposanten alten Brücke in der Stadt, in der Abenddämmerung),
spricht einiges dafür, dass der Sprung nicht bloss zu Trainingszwecken
ausgeführt wurde, sondern tatsächlich ein so genannter "Stunt" beabsichtigt
war. Ob dies der Fall war, was die Frage nach sich zöge, ob von einer nicht
schützenswerten Handlung auszugehen sei, braucht freilich nicht abschliessend
erörtert zu werden. Ebenso kann offen bleiben, ob das Unterfangen insofern
ein absolutes Wagnis darstellt, als dessen inhärente grosse Risiken nicht auf
ein vernünftiges Mass reduziert werden konnten. In diesem Zusammenhang
erübrigen sich beweismässige Weiterungen zur Frage nach der Beschaffenheit
der Holzbrücke (Breite der Brüstung, Dachform, Querverstrebungen, die den
Zugang zum Wasser erschweren etc.). Mit der Beschwerdegegnerin ist davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer den fraglichen Sprung bei Dämmerlicht
und ohne irgendwelche weitergehende Vorkehren getätigt hat. Indem er sich
bloss durch eine einzelne Person "anschieben" liess, ist mit der Vorinstanz
nach Lage der Akten zumindest auf ein relatives Wagnis im Rechtssinne zu
erkennen.

3.2.3 Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid rechtens (zur
Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit von Art. 50 Abs. 1 UVV: BGE 113 V 223
Erw. 3).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 19. September 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: