Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 113/2006
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U 113/06

Urteil vom 8. Mai 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

K._________, 1960, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Burren,
Hintere Bahnhofstrasse 6, 5001 Aarau

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 11. Januar 2006)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 24. November 2004 stellte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) die K._________ (geboren 1960) für die
Folgen von zwei Unfällen (vom 2. Januar 2002 und 27. Januar 2003)
ausgerichteten Leistungen auf Ende November 2004 ein, woran sie auf
Einsprache hin mit Entscheid vom 25. Januar 2005 festhielt.

B.
Am 10. Mai 2005 liess K._________ beim Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Beschwerde führen mit den Rechtsbegehren, der Einspracheentscheid sei
aufzuheben und es seien ihm angemessene Leistungen zu gewähren; des Weiteren
sei ein zusätzliches, umfassendes (insbesondere psychiatrisches) Gutachten
anzuordnen.
Die SUVA beantragte, auf die Beschwerde sei zufolge Fristversäumnis nicht
einzutreten; eventuell sei das Rechtsmittel abzuweisen.
Das kantonale Versicherungsgericht stellte fest, dass die Beschwerdefrist
aufgrund der neuen Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
nach Massgabe des kantonalen Verfahrensrechts zu bestimmen und im
vorliegenden Fall bei Aufgabe der Beschwerde am 10. Mai 2005 bereits
abgelaufen gewesen sei. Indessen sei die Beschwerde nach dem Grundsatz von
Treu und Glauben als rechtzeitig eingereicht zu erachten, nachdem das
kantonale Versicherungsgericht in einem Schreiben an den Aargauischen
Anwaltverband vom 22. Oktober 2003 festgehalten habe, dass die Fristen gemäss
Art. 60 in Verbindung mit Art. 38-41 ATSG ausser in BVG-Prozessen in allen
Verfahren, insbesondere auch in UVG-Verfahren, zur Anwendung gelangten.
Darauf habe sich der Rechtsvertreter des Versicherten verlassen dürfen.
Dementsprechend trat das Versicherungsgericht auf die Beschwerde ein, hob den
Einspracheentscheid vom 25. Januar 2005 in teilweiser Gutheissung des
Rechtsmittels auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen und neuer
Verfügung im Sinne der Erwägungen an die SUVA zurück (Entscheid vom 11.
Januar 2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, der kantonale
Gerichtsentscheid sei aufzuheben mit der Feststellung, dass auf die
Beschwerde vom 10. Mai 2005 nicht einzutreten ist.

K. _________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und um Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen. Das Bundesamt
für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die vom Versicherten am 10. Mai 2005
eingereichte Beschwerde nach Massgabe des hier anwendbaren kantonalen
Verfahrensrechts verspätet war. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz
zu Recht auf die Beschwerde eingetreten ist, weil sie die Voraussetzungen des
Vertrauensschutzes als erfüllt erachtet hat.

3.
Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben schützt den Bürger
und die Bürgerin in ihrem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten
und bedeutet u.a., dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter
bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung
der Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine
falsche Auskunft bindend,

1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug
auf bestimmte Personen gehandelt hat;
2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig
war oder wenn die rechtsuchende Person die Behörde aus zureichen- den
Gründen als zuständig betrachten durfte;
3. wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne
weiteres erkennen konnte;
4. wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft
Dis- positionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig
ge- macht werden können;
5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung
keine Änderung erfahren hat (BGE 127 I 36 Erw. 3a, 126 II 387 Erw.
3a; RKUV 2000 Nr. KV 126 S. 223; zu Art. 4 Abs. 1 aBV
ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 121 V 66 Erw. 2a
mit Hinweisen).

4.
4.1 Der Vertrauensschutz gilt auch und erst recht, wenn eine richterliche
Behörde eine unrichtige Auskunft erteilt. Eine solche falsche Auskunft ist im
Schreiben des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 22. Oktober 2003
an den Aargauischen Anwaltsverband zu erblicken. Darin wies die Vorinstanz
unter dem Titel Fristenstillstand im Versicherungsgerichtsverfahren darauf
hin, dass es beschlossen habe, die Fristen gemäss Art. 60 in Verbindung mit
Art. 38-41 ATSG (ausser in BVG-Verfahren) in allen Verfahren, insbesondere
auch in UVG-Verfahren, anzuwenden. Die in § 89 der Aargauischen
Zivilprozessordnung enthaltene Regelung der Friststillstände werde nicht mehr
beachtet. Demgegenüber stünden die dreimonatigen Fristen nach Art. 106 UVG
und 104 MVG aufgrund von Art. 38 Abs. 4 ATSG still. Die Übergangsbestimmung
von Art. 82 Abs. 2 ATSG spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht entschied in BGE 131 V 314 und 325
gegenteilig, wobei diese Grundsatzentscheide erst am 26. August 2005
ergingen. Das zitierte Schreiben charakterisiert sich als von Amtes wegen
erteilte Auskunft über die Praxis, welche das kantonale Versicherungsgericht
unter der Herrschaft des ATSG bei Fristberechnungen (unter Beachtung des
Fristenstillstandes im Gegensatz zum bisherigen Recht) eingeschlagen hatte.

4.2
4.2.1 Die SUVA bestreitet insbesondere, dass die erste Voraussetzung des
Vertrauensschutzes erfüllt sei, indem sie geltend macht, die Vorinstanz habe
nicht in einer konkreten Situation und mit Bezug auf bestimmte Personen
gehandelt. Diese Auffassung überzeugt nicht. Wie der Beschwerdegegner zu
Recht einwendet, bezieht sich zwar das Schreiben vom 22. Oktober 2003 nicht
auf eine bestimmte Person, geht aber doch von einer sehr konkreten
prozessualen Situation aus und legt klar fest, wie das kantonale Gericht
künftig den Fristenstillstand handhaben wird. Darauf darf der Bürger, auch
der Rechtsanwalt, vertrauen. Das Schreiben war nicht an eine Einzelperson,
sondern einen Verband adressiert und damit an einen ganz spezifischen und
konkreten Adressatenkreis gerichtet.

4.2.2 Angesichts der Rechtsfragen, welche die Anwendung des
Fristenstillstandes aufgeworfen hat und die in drei Grundsatzurteilen (BGE
131 V 305, 314 und 325) beantwortet wurden, lässt sich nicht sagen, dass die
Unrichtigkeit des Inhaltes des Schreibens ohne weiteres erkennbar war.

4.2.3 Das Schreiben des kantonalen Gerichts ist keine Rechtsmittelbelehrung,
wozu es hinsichtlich Einspracheentscheiden gar nicht zuständig ist. Es ist
jedoch eine die Einhaltung der Rechtsmittelfristen beschlagende
Rechtsbelehrung, für welche die Grundsätze, die bei unrichtiger
Rechtsmittelbelehrung gelten, analogieweise herangezogen werden können. Aus
unrichtiger Rechtsmittelbelehrung dürfen den Parteien keine Nachteile
erwachsen (Art. 107 Abs. 3 OG). Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser
Bestimmung, welcher die Rechtsprechung allgemeine Bedeutung für die ganze
Rechtsordnung beimisst (BGE 117 Ia 298 Erw. 2, 423 Erw. 2c; vgl. auch BGE 124
I 258 Erw. 1a/aa), ist, dass sich eine Prozesspartei nach Treu und Glauben
auf eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung verlassen durfte (BGE 112 Ia 310,
106 Ia 16 f. mit Hinweisen). Wer hingegen die Fehlerhaftigkeit einer
Rechtsmittelbelehrung erkennt oder bei gebührender Aufmerksamkeit hätte
erkennen müssen, kann sich nicht auf die darin enthaltenen unzutreffenden
Angaben berufen (BGE 124 I 258 Erw. 1a/aa, 119 IV 330). Allerdings sind nur
grobe Fehler einer Partei geeignet, eine falsche Rechtsmittelbelehrung
aufzuwiegen (BGE 106 Ia 17 Erw. 3b). So geniesst eine Partei keinen
Vertrauensschutz, wenn sie oder ihr Anwalt die Mängel der
Rechtsmittelbelehrung durch Konsultierung des massgebenden Gesetzestextes
allein erkennen konnte (BGE 118 Ib 330 Erw. 1c); andererseits wird in diesem
Zusammenhang auch von einem Anwalt nicht verlangt, dass er neben dem
Gesetzestext Literatur oder Rechtsprechung nachschlage (BGE 117 Ia 422 Erw.
2a; vgl. zur falschen Auskunft einer Gemeinde Urteil des Bundesgerichts in
Sachen A. vom 6. März 2001, 1P.674/2000).

4.3 Nach diesen Grundsätzen durfte sich der Anwalt auf die Richtigkeit des
Schreibens, das die zuständige Rechtsmittelinstanz versandt hatte, verlassen.
Nicht nur das Gericht selber, sondern auch die Gegenpartei hat dieses gegen
sich gelten zu lassen. Die Vorinstanz ist demnach zu Recht auf die Beschwerde
eingetreten.

5.
In materieller Hinsicht bringt die SUVA keine Einwendungen gegen den
angefochtenen Entscheid vor. Es sind denn auch keine Gründe ersichtlich, die
gegen die vorinstanzlich angeordnete Rückweisung der Sache an die SUVA zur
Einholung eines psychiatrischen Gutachtens und zu neuer Verfügung sprechen
würden.

6.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der SUVA aufzuerlegen
(Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Diese hat dem
Beschwerdegegner sodann eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG), womit das Gesuch um unentgeltliche
Verbeiständung gegenstandslos ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der SUVA auferlegt und mit dem
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 8. Mai 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: