Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 109/2006
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{T 7}
U 109/06

Urteil vom 4. April 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter U. Meyer und Frésard,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1940, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Thomas Laube,
Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom     21. Dezember 2005.

Sachverhalt:

A.
M.________ (geb. 1940) erlitt am 22. September 1997 mit seinem Auto einen
Verkehrsunfall, bei dem er sich eine Distorsionsverletzung der
Halswirbelsäule und eine Schädelkontusion zuzog. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA), welche die Heilbehandlung übernahm und
eine Komplementärrente zu einer ganzen Invalidenrente erbringt, sah bezüglich
der unfallbedingt beeinträchtigten Integrität zunächst eine Entschädigung von
5 % vor (Verfügung vom 26. März 2001). Auf Einsprache hin erhöhte die SUVA
die Integritätsentschädigung auf 30 % (Verfügung vom 30. Oktober 2002). Eine
erneute Einsprache hiess die Anstalt durch Zusprechung einer
Integritätsentschädigung von 50 % gut (Entscheid vom 12. Januar 2005).

B.
Die hiegegen erhobene mit dem Rechtsbegehren auf Zusprechung einer 90%igen
Integritätsentschädigung erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau im Umfange von 70 % und Zuerkennung eines ab 12. April 2002
laufenden Verzugszinses teilweise gut (Entscheid vom 21. Dezember 2005).

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt im Hauptstandpunkt
die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.

Während der Versicherte auf Abweisung der Beschwerde schliessen und den
Eventualantrag auf angemessene Erhöhung der Integritätsentschädigung stellen
lässt, hat das Bundesamt für Gesundheit von einer Vernehmlassung abgesehen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts nicht
auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die
Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an
die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten
hinausgehen (Art. 132 OG).

3.
Obwohl das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren das Institut der
Anschlussbeschwerde nicht kennt (Art. 110 OG; BGE 106 V 247), ist der
Eventualantrag des Beschwerdegegners auf angemessene Erhöhung der
vorinstanzlich zugesprochenen 70%igen Integritätsentschädigung zulässig. Zwar
hat der Versicherte seinerseits von der Einreichung einer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgesehen; doch hält sich sein Antrag im Rahmen
des Streitgegenstandes - die in masslicher Hinsicht umstrittene
Integritätsentschädigung -, weshalb das Gericht im Rahmen der vollen
Kognition (E. 2) auch dieses Begehren zu prüfen hat.

4.
Das kantonale Gericht hat die Rechtsgrundlagen für die Bemessung der
Integritätsentschädigung in der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 24
f. UVG, Art. 36 UVV, Anhang 3/UVV; anstaltseigene
Integritätsschadenstabellen) und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 116 V
156, 113 V 218) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

5.
Umstritten unter Vorinstanz und Parteien ist, wie die als Unfallfolgen
(Art. 6 Abs. 1 UVG) anerkannten Gesundheitsstörungen - auf welch unbestritten
gebliebenen Gesichtspunkt weder aufgrund der Aktenlage noch den Vorbringen in
den Rechtsschriften der Verfahrensbeteiligten einzugehen ist (BGE 110 V 48 E.
4a S. 53) - integritätsschadenmässig zu beurteilen sind. Es geht dabei im
Wesentlichen um Schwindel/Tinnitus/Gleichgewichtsstörung einerseits, eine
mittelschwere psychische Störung andererseits. Die Vorinstanz hat für
Schwindel/Tinnitus/Gleichgewichtsstörung gestützt auf die Berichte des Dr.
med. A.________ 40 % anerkannt, für die psychische Schädigung 50 %,
gesamthaft somit 90 %; im Rahmen der anschliessenden Gesamtwürdigung hat die
Vorinstanz unter Berücksichtigung der Schilderung der Beschwerden im Bericht
des Kantonsspitals X.________ vom 20. April 2005 den Integritätsschadensgrad
auf 70 % reduziert, gelinge es dem Beschwerdeführer doch, den Tinnitus
zeitweise als weniger belastend zu empfinden und auch das Schwindelgefühl
einigermassen in den Griff zu bekommen; er fahre immerhin noch selbst sein
Auto und es werde ihm nur eine mittelgradige depressive Störung attestiert;
er wirke weniger depressiv im Vergleich zum Bericht des Psychiatrischen
Dienstes E.________ vom 7. November 2000, was Anlass zur Hoffnung auf eine
weitere Besserung gebe. Der Beschwerdegegner pflichtet der vorinstanzlichen
Bewertung der Gleichgewichtsproblematik (35 %), des Tinnitus (5 %) und der
Psyche (50 %) mit 90 % bei, nicht aber bezüglich der Funktionseinschränkungen
der Wirbelsäule und der neuropsychologisch begründeten Hirnleistungsdefizite
sowie der Störungen des Geruchs- und Geschmacksinnes. Würden auch diese
Befunde berücksichtigt, ergäbe die Addition der Einzelschäden insgesamt
140 %, weshalb eine Reduktion auf 90 % angesichts der multiplen, komplexen
Schäden, welche die Lebensqualität doch in sehr grossem Ausmass
beeinträchtigten, den Umständen eher angemessen sei.

Die Beschwerde führende SUVA verweist auf die Fülle von Beschwerden und
Klagen sowie vereinzelten Befunde, für die im Laufe der Jahre eine ganze
Reihe von Symptomenbeschreibungen vorgenommen und zwar als Diagnosen
bezeichnet worden seien, wobei es sich aber um keine realen Diagnosen handle.

6.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat mit dem die auch heute noch
geltende Rechtsprechung begründenden Urteil BGE 116 V 156 umschrieben, wie
der Integritätsschadensgrad zu ermitteln ist, wenn ein versichertes Ereignis
zu einem Integritätsschaden (BGE 116 V 156 E. 3a S. 157) oder zu
verschiedenen Integritätsschäden (BGE 116 V 156 E. 3b S. 157) geführt hat.
Während die Beschwerde führende SUVA dem Sinne nach der Anwendung der E. 3a
das Wort redet, gehen Vorinstanz und Beschwerdegegner von verschiedenen
Integritätsschäden aus, wobei sie sich nur darin unterscheiden, welche der
Befunde und Beeinträchtigungen in die bei dieser Tatbestandsvariante
vorzunehmende Zusammenzählung einzustellen sind.

BGE 116 V 156 E. 3b S. 157 geht von "verschiedenen Integritätsschäden" aus.
Darunter können nur Beeinträchtigungen der Integrität verstanden werden, die
sich medizinisch eindeutig, d.h. weitgehend ermessensfrei feststellen und in
ihren Auswirkungen voneinander klar unterscheiden lassen. Die gegenteilige
Betrachtungsweise würde letztlich der der Integritätsentschädigung nach Art.
24 f. UVG zugrunde liegenden Konzeption zuwiderlaufen, dass sich die
Integritätsentschädigung abstrakt-egalitär, d.h. allein nach der Schwere des
medizinischen Befundes bemisst (BGE 115 V 147, 113 V 218 E. 4b S. 221). Von
solchen medizinisch klar unterscheidbaren einzelnen Integritätsschädigungen,
welche im Sinne von BGE 116 V 156 E. 3b S. 157 zu addieren sind, kann im
Falle des Beschwerdegegners offensichtlich keine Rede sein. Er leidet an
einem syndromalen, psychisch stark geprägten, multiplen Beschwerdebild,
dessen einzelne Komponenten sich einerseits gegenseitig beeinflussen und die
sich anderseits weder pathogenetisch klar eruieren noch, wie der
Beschwerdegegner verschiedentlich behauptet, sich bezüglich der ihnen
zugeschriebenen Funktionseinschränkungen differenzieren lassen. Dies geht
insbesondere aus den Ausführungen des Dr. med. A.________ hervor, welcher
seine Integritätsschadensschätzung von 35 % (ohne den Tinnitus von 5 %) nur
unter Berücksichtigung der "subjektiven Beschwerden des Patienten, sowohl aus
visuo-okulomotorischen als auch zerviko-propriozeptiven und vestibulären
Bereich" stellen kann. Darin ist keine abstrakt-egalitärer Bewertung
zugängliche medizinische Befunderhebung zu erblicken. Das gilt klarerweise
auch für die von der SUVA anerkannte "mittelschwere psychische Störung", die
nach den psychiatrischen Beschreibungen, namentlich jenen durch die
SUVA-Ärzte Dres. med. G.________ und H.________, bezüglich Klinik,
Symptomatik, Leidensdruck, Schwere und Verlauf usw. keineswegs so imponieren,
dass allein ihretwegen vom Verlust der Hälfte menschlicher Unversehrtheit
auszugehen wäre. Die übrigen vom Beschwerdegegner angesprochenen
Beeinträchtigungszustände und Funktionsstörungen haben mangels medizinischer
Erfassbarkeit und Objektivierbarkeit keine integritätsschadensmässig
erhebliche Bedeutung.

Es ist daher - entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts -  weder
bundesrechts- noch tatsachenwidrig noch unangemessen, wenn die SUVA den
Zustand, in dem sich der Beschwerdegegner wegen seines Unfalles befindet, mit
der Anerkennung einer 50%igen Integritätseinbusse abgegolten hat.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 21. Dezember 2005 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 4. April 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: