Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 102/2006
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Prozess {T 7}
U 102/06

Urteil vom 9. Oktober 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Schmutz

P.________, 1953, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwältin Ursula Reger-Wyttenbach, Weinbergstrasse 72,
8006 Zürich,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 21. Dezember 2005)

Sachverhalt:

A.
P. ________, geboren 1953, war als Inkasso-Sachbearbeiterin in der Firma
F.________ AG angestellt und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs-
und Nichtberufsunfällen versichert. Nach eigenen Angaben jätete sie am
6. Juli 2003 auf dem Balkon Blumenkisten. Beim Versuch, ein kleines Bäumchen
herauszuziehen, kam ihr eine nach ihrer Aussage ungefähr 300 kg schwere, auf
zwei Beinen stehende und an die Balkonmauer gelehnte Blumenkiste entgegen;
sie konnte sie mit beiden Beinen halten und so verhindern, dass Weiteres
passierte. Am nächsten Tag verspürte sie in den Füssen ein Ameisenkribbeln
und am zweiten Tag wurde sie wegen starker Schmerzen notfallmässig ins Spital
eingeliefert (Ergänzung vom 6. November 2003 zur Unfallmeldung vom
23. Oktober 2003). Bis am 28. Juli 2003 war P.________ arbeitsunfähig, danach
nahm sie ihre Bürotätigkeit mit einem Pensum von 50 % wieder auf. Die SUVA
lehnte mit Verfügung vom 13. Februar 2004 Versicherungsleistungen ab, da kein
Unfall und keine unfallähnliche Körperschädigung vorliege. Auch sei nach
ärztlicher Beurteilung die Kausalität der körperlichen Beschwerden zum
Ereignis vom 6. Juli 2003 nicht gegeben. Sie bestätigte dies mit
Einspracheentscheid vom 1. Dezember 2004.

B.
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 21. Dezember 2005 ab.

C.
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen. Sie beantragt, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die SUVA zu verpflichten,
zusätzliche medizinische und berufliche Abklärungen vorzunehmen und danach
neu über den Anspruch auf berufliche Massnahmen und Invalidenrente zu
entscheiden; zudem sei ihr die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz legt die Rechtsgrundlagen bezüglich des Unfallbegriffs (Art. 4
ATSG), insbesondere die Rechtsprechung zum Merkmal der Ungewöhnlichkeit im
Allgemeinen (BGE 129 V 404 Erw. 2.1, 122 V 233 Erw. 1, 118 V 61 Erw. 2b, 283
Erw. 2a; RKUV 2000 Nr. U 368 S. 99 f. Erw. 2b, 1999 Nr. U 345 S. 421 f.
Erw. 2a, Nr. U 333 S. 198 ff. Erw. 3) und zum Erfordernis der besonders
sinnfälligen Verumständungen bei Schädigungen, die sich auf das Körperinnere
beschränken (BGE 99 V 138 Erw. 1; RKUV 1996 Nr. U 253 S. 205 Erw. 4d, 1999
Nr. U 345 S. 422 Erw. 2b, je mit Hinweisen) richtig dar. Entsprechendes gilt
bezüglich der vorinstanzlichen Erwägungen zur rechtsprechungsgemässen
Bejahung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors bei Vorliegen einer
unkoordinierten Bewegung - d.h. einer Störung der körperlichen Bewegung durch
etwas "Programmwidriges" wie Stolpern, Ausgleiten, Anstossen oder ein
reflexartiges Abwehren eines Sturzes etc. (BGE 130 V 118 Erw. 2.1; RKUV 2000
Nr. U 368 S. 100 Erw. 2d, 1999 Nr. U 345 S. 422 Erw. 2b mit Hinweisen und
1999 Nr. U 333 S. 199 Erw. 3c/aa; vgl. Alfred Maurer, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl., Bern 1989, S. 176 f.) - oder eines mit
Blick auf die Konstitution und die berufliche oder ausserberufliche Gewöhnung
des Versicherten ausserordentlichen Kraftaufwands (einer sinnfälligen
Überanstrengung) beim Heben oder Verschieben einer Last (BGE 116 V 139
Erw. 3b mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass sich am
Unfallbegriff mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über
den Allgemeinen Teil der Sozialversicherung (ATSG) am 1. Januar 2003
inhaltlich nichts geändert hat, sodass auch die bisherige Rechtsprechung
anwendbar bleibt (RKUV 2004 Nr. U 530 S. 57 [Urteil F. vom 5. Juli 2004,
U 123/04]).

2.
Strittig ist, ob die SUVA auf Grund des von der Beschwerdeführerin gemeldeten
Ereignisses vom 6. Juli 2003 eine Leistungspflicht bezüglich der geltend
gemachten gesundheitlichen Beschwerden trifft, welche voraussetzt, dass das
Geschehen einen Unfall im Rechtssinne darstellt. Zu Recht unbestritten ist,
dass eine unfallähnliche Körperschädigung gemäss Art. 9 Abs. 2 UVV ausser
Betracht fällt.

3.
Laut ursprünglicher Sachverhaltsschilderung der Beschwerdeführerin am
6. November 2003 jätete sie am 6. Juli 2003 auf dem Balkon Blumenkisten. Beim
Versuch, ein kleines Bäumchen herauszuziehen, kam ihr die ungefähr 300 kg
schwere, auf zwei Beinen stehende und an die Balkonmauer gelehnte Blumenkiste
entgegen. Sie konnte sie mit beiden Beinen halten und so verhindern, dass
Weiteres ("Schlimmeres") passierte. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gibt
sie für den Pflanzentrog ein Gewicht von nur noch "mindestens 50 kg" an.

3.1 Wie die Vorinstanz zu Recht dargelegt hat, sind die einzelnen Umstände
des Unfallgeschehens von der Person, die eine Leistung verlangt, glaubhaft zu
machen. Kommt sie dieser Forderung nicht nach, indem sie unvollständige,
ungenaue oder widersprüchliche Angaben macht, die das Bestehen eines
unfallmässigen Schadens als unglaubwürdig erscheinen lassen, besteht keine
Leistungspflicht der Unfallversicherung. Im Streitfall obliegt es dem Gericht
zu beurteilen, ob die einzelnen Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllt
sind. Dem Untersuchungsgrundsatz entsprechend hat es von Amtes wegen die
notwendigen Beweise zu erheben und kann zu diesem Zweck auch die Parteien
heranziehen. Wird auf Grund dieser Massnahmen das Vorliegen eines
Unfallereignisses nicht wenigstens mit Wahrscheinlichkeit erstellt - die
blosse Möglichkeit genügt nicht -, so hat dieses als unbewiesen zu gelten,
was sich zu Lasten der den Anspruch erhebenden Person auswirkt. Diese
Grundsätze gelten auch bezüglich des Nachweises unfallähnlicher
Körperschädigungen (BGE 116 V 140 f. Erw. 4b, 114 V 305 f. Erw. 5b mit
Hinweisen; RKUV 1990 Nr. U 86 S. 50; in RKUV 2004 Nr. U 524 S. 546 nicht
veröffentlichte Erw. 3.1.2 des Urteils Sch. vom 19. Mai 2004, U 236/03).

3.2 Entgegen der ursprünglichen Aussage der Beschwerdeführerin ging die
Vorinstanz auf Grund der in den Akten rapportierten Masse des Pflanzentroges
nicht von einem Gewicht von 300 kg aus, sondern maximal von einem solchen von
50-80 kg. Dabei sah sie es auf Grund der beschwerdeführerischen Angaben als
erstellt an, dass dieser auf nur zwei (und nicht vier) Beinen gestanden habe
und zudem an die Balkonmauer angelehnt gewesen sei. Für sie war es daher
(zit.) wenig verwunderlich, dass die Blumenkiste durch das Ziehen an dem
Bäumchen ins Wackeln geriet und schliesslich umzukippen drohte (Erw. 4.2). Ob
das Versicherungsgericht unter diesen Vorgaben und unter Berücksichtigung der
oben angeführten Rechtsprechung zu Recht zum Schluss kam, das Ereignis vom
6. Juli 2003 erfülle den Unfallbegriff nicht, ist hier aus den nachstehenden
Gründen nicht weiter zu erörtern.

4. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde belegt die Beschwerdeführerin durch
Einlage des Berichtes "Beurteilung Pflanzentrog" der A.________ AG vom
27. Januar 2006 erstmals die Art, Anordnung und Konstruktion des
Pflanzentrogs mit Fotos und genauen Angaben. Gestützt darauf ist
festzustellen, dass die Beschwerdeführerin weder die einzelnen Umstände des
von ihr geschilderten Unfallgeschehens glaubhaft zu machen vermag, noch dass
die unmittelbare Ursache der Schädigung unter besonders sinnfälligen
Umständen gesetzt worden ist: Der fotografisch abgebildete und vermessene
Pflanzentrog aus Faserzement fasst bei 45 cm Breite, 140 cm Länge und 44 cm
Höhe sowie einer Wandstärke von 1,5 cm ein Volumen von 244,5 Litern. Ein
Liter Kübelpflanzenerde ohne Torf einer Schweizer Recycling-Erde, welche nach
Angaben des Herstellers (abrufbar unter www.ricoter.ch) besonders gut
geeignet zum Füllen von grossvolumigen Pflanzkübeln ist, weist ein
Schüttgewicht von 620 Gramm pro Liter auf, was bei 244,5 eingeschütteten
Litern Erde ein Gewicht von 151,6 kg ergibt. Ein Faserzementkübel der
genannten Grösse ist nach Herstellerangaben (abrufbar unter www.eternit.ch)
57 kg schwer. Insgesamt ist der mit schon gesetztem Inhalt abgebildete
Original-Pflanzentrog somit über 200 kg schwer, und nicht "mindestens 50 kg"
wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angegeben, oder "maximal 50-80 kg",
wie von der Vorinstanz geschätzt. Auf Grund der Abbildungen ist des Weiteren
ersichtlich, dass der 45 cm breite Trog zu zwei Dritteln (auf einer Tiefe von
31 cm) auf zwei Trägern aufliegt und zu einem Drittel (14 cm) darüber hinaus
ragt. Entgegen der vorinstanzlichen Annahme stand er somit nicht auf nur zwei
Beinen. Auch war er nicht bloss an die Balkonmauer angelehnt, sondern auf den
beiden mit der Balkonmauer verschraubten und deshalb nicht zu bewegenden
Trägern ganz nach hinten an die Wand geschoben. Um den Kübel ins Rutschen und
dann ins Kippen zu bringen, hätte die Beschwerdeführerin darum zunächst - und
zwar alleine, denn nach der ergänzten Unfallmeldung befand sich der
Lebenspartner nicht mit auf dem Balkon - ein Gewicht von mindestens 200 kg um
wenigstens 9,5 cm (= 45 cm Breite : 2 - 14 cm Überhang) nach vorne ziehen
müssen, nur um den Schwerpunkt des Gefässes an das Ende der Träger zu
bewegen. Ein solcher Kraftakt ist der Beschwerdeführerin, welche nach eigenen
Angaben über keine entsprechende Konstitution verfügt und dies im
letztinstanzlich eingelegten Bericht auch fotografisch dokumentieren lässt,
nicht zuzutrauen, und zwar umso weniger, als sie den Trog durch das Ziehen an
einem in der Erde verwurzelten Bäumchen bewegt haben will. Ein Kippen des
Kübels aus der ursprünglichen Position war bei den dokumentierten
Gegebenheiten aus physikalisch-mechanischen Gründen gar nicht möglich. Selbst
wenn es der Beschwerdeführerin jedoch gelungen sein sollte, unter Einsatz
ihres ganzen Gewichts und durch Verstemmen der Beine am Boden den 200 kg
schweren Trog ruckartig nach vorne zu ziehen, so war es ausgeschlossen, dass
sie das ins Rutschen geratene und nach unten wegkippende Objekt durch eine
der Zugrichtung genau entgegengesetzte massive Kraftwirkung abgestoppt und
stabilisiert haben konnte. Der Pflanzentrog wäre diesfalls unabwendbar nach
unten auf den Boden gekippt. So verhält es sich aber nach den ausdrücklichen
Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ("Sie reagierte darauf mit
einem Dagegenstemmen mit beiden Beiden und konnte so ein Umkippen
verhindern") nicht. Da ein Unfallgeschehen am 6. Juli 2003 nicht glaubhaft
gemacht werden kann, ist ein Leistungsanspruch zu verneinen. Der
vorinstanzliche Entscheid ist damit im Ergebnis zu schützen.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung
kann gewährt werden, da die hiefür nach Gesetz (Art. 152 in Verbindung mit
Art. 135 OG) und Praxis (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen) erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwältin Ursula
Reger-Wyttenbach, Zürich, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 9. Oktober 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: