Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 47/2006
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Prozess {T 7}
P 47/06

Urteil vom 4. Dezember 2006
IV. Kammer

Präsident Ursprung, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber
Fessler

R.________, 1953, Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 21. Juni 2006)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 3. Juli 2002 sprach die Ausgleichskasse des Kantons Bern
R.________, Bezüger einer ganzen Rente der Invalidenversicherung,
Ergänzungsleistungen von monatlich Fr. 664.- (1. September bis 31. Dezember
2000), Fr. 661.- (1. Januar 2001 bis 31. Mai 2002) und Fr. 642.- (ab 1. Juni
2002) zu, was das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom
18. Juni 2003 bestätigte. Ende Mai 2003 ersuchte R.________ um Neufestsetzung
der Ergänzungsleistung. Mit Verfügung vom 11. Juni 2003 setzte die
Ausgleichskasse unter Hinweis auf die eingereichten Unterlagen die
Ergänzungsleistung ab 1. Juni 2003 auf Fr. 489.- im Monat herab.
Mit Schreiben vom 6. Mai 2005 ersuchte R.________ um Korrektur der Verfügung
vom 11. Juni 2003 und Nachzahlung der zu wenig ausgerichteten
Ergänzungsleistungen sowie um Neuveranlagung aufgrund des erfolgten
Vermögensverzehrs. Zur Begründung führte er an, die Zahlen seiner
Vermögenswerte zum 31. Dezember 2002 seien nicht korrekt. Mit Verfügung vom
2. Juni 2005 erhöhte die Ausgleichskasse die Ergänzungsleistung ab 1. Mai
2005 auf monatlich Fr. 910.-. Auf ein Gesuch um Wiedererwägung der Verfügung
vom 11. Juni 2003 trat sie nicht ein. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 21. Juli 2005 fest.

B.
Die Beschwerde des R.________ und auch dessen Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom
21. Juni 2006 ab.

C.
R.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren,
Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien aufzuheben und es seien ihm
Ergänzungsleistungen in der Höhe von Fr. 8976.- nachzuzahlen.
Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Verbeiständung für das
erstinstanzliche Beschwerdeverfahren durch das kantonale Gericht ist nicht
angefochten. Insoweit ist der vorinstanzliche Entscheid in formelle
Rechtskraft erwachsen und einer Überprüfung durch das Eidgenössische
Versicherungsgericht entzogen (BGE 125 V 415 Erw. 2a, 117 V 295 Erw. 2b).

2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die mit unangefochten in Rechtskraft
erwachsener Verfügung vom 11. Juni 2003 festgesetzte Ergänzungsleistung für
die Zeit vom 1. Juli 2003 bis 30. April 2005 auf unrichtigen tatsächlichen
Grundlagen beruht. Bei den anrechenbaren Einnahmen wurden ein Vermögensertrag
von Fr. 1001.- sowie 1/15 des Vermögens (Fr. 83'498.- [Stand am 31. Dezember
2002]) von Fr. 3899.- berücksichtigt. Im Vermögen war u.a. der Rückkaufswert
einer Freizügigkeitspolice der beruflichen Vorsorge in der Höhe von
Fr. 54'675.- sowie das Guthaben auf der Bank X.________ von Fr. 25'510.65
enthalten. Tatsächlich war dem EL-Bezüger am 11. November 2002 die Police zum
Rückkaufswert von Fr. 55'590.70 per 1. November 2002 auf sein Konto bei der
Bank X.________ ausbezahlt worden. Davon verbrauchte er bis Ende Dezember
2002 rund Fr. 30'000.-. Die anrechenbaren Einnahmen (Vermögensertrag,
Vermögensverzehr) wurden somit auf der Grundlage eines zu hohen Vermögens
ermittelt, was entsprechend tiefere Ergänzungsleistungen ergab.

3.
Das kantonale Gericht hat die Weigerung der Ausgleichskasse, auf ihre
Verfügung vom 11. Juni 2003 zurückzukommen und für die Monate Juli 2003 bis
April 2005 Ergänzungsleistungen nachzuzahlen, bestätigt. Es hat im
Wesentlichen erwogen, um den Nachzahlungsanspruch zu wahren, hätte die
Meldung des Bezugs des Rückkaufswertes der Freizügigkeitspolice im November
2002 sowie des anschliessenden Vermögensverzehrs bis Ende Dezember 2002 bis
zum Erlass der Verfügung vom 11. Juni 2003 oder innert der Einsprachefrist
erfolgen müssen. Der EL-Bezüger habe dies versäumt. Die Ausgleichskasse habe
daher nach Art. 25 Abs. 2 lit. b ELV die Erhöhung der Ergänzungsleistung
zufolge des eingetretenen Ausgabenüberschusses auf den Beginn des Monats
verfügen müssen, in dem die Änderung gemeldet worden sei. Prozessuale
Revisionsgründe im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG seien nicht gegeben. Daran
ändere das Arztzeugnis des behandelnden Psychiaters Dr. med. C.________ vom
19. Oktober 2004 nichts. Zur Wiedererwägung der Verfügung vom 11. Juni 2003
gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG könne die Ausgleichskasse praxisgemäss nicht
verhalten werden.

4.
Der Beschwerdeführer bringt vor, es sei im Zusammenhang mit der
PK-Geldüberweisung auf das Konto der Bank X.________ zu einer falschen
Vermögensberechnung gekommen. Dies habe er gemeldet. Darauf gehe das
kantonale Gericht mit keinem Wort ein. Im Weitern wäre Dr. med. C.________
bereit, über seine damalige Unfähigkeit, u.a. Büroarbeiten zu erledigen,
Auskunft zu geben. In der vorinstanzlichen Beschwerde liess er vorbringen, er
sei aufgrund schwerer psychischer Probleme nicht im Stande gewesen, auf die
Verfügung vom 11. Juni 2003 zu reagieren. Diese sei irgendwo im damals
herrschenden Papierchaos verschwunden. Erst mit Hilfe einer Bekannten sei es
ihm gelungen, Ordnung in seine Unterlagen zu bringen und im Juni 2005 die
unrichtigen EL-Berechnungsgrundlagen zu melden.

5.
5.1 Gemäss Akten ersuchte der Beschwerdeführer Ende Mai 2003 um Neufestsetzung
der Ergänzungsleistung. Dem Gesuch beigelegt waren eine Kopie vom
Kontoabschluss per 31. Dezember 2002 der Bank X.________ sowie eine Kopie vom
Kontoauszug Dezember 2002 der Postfinance. Ein Beleg über die am 11. November
2002 erfolgte Auszahlung der Freizügigkeitspolice zum Rückkaufswert per
1. November 2002 auf das Konto bei der Bank X.________ wurde nicht erwähnt.
Dieser für die EL-Berechnung bedeutsame Umstand konnte dem Kontoabschluss per
31. Dezember 2002 der Bank X.________ nicht entnommen werden. Bereits das
Gesuch um Neufestsetzung der Ergänzungsleistung unter Beilage der relevanten,
wenn auch unvollständigen Unterlagen spricht gegen die Annahme, der
Beschwerdeführer sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen,
auch die vorzeitige Auflösung der Police zu melden. Bei zumutbarer Sorgfalt
vermeidbare Versäumnisse im Rahmen des ordentlichen Verfahrens können aber
nicht auf dem Weg der prozessualen Revision von Verfügungen oder
Einspracheentscheiden (BGE 127 V 469 Erw. 2c) nachgeholt werden (Urteil B.
vom 18. September 2002 [I 183/02] Erw. 2 mit Hinweisen und Urteil des
Bundesgerichts vom 7. Mai 2004 in Sachen X. gegen Kantonales Steueramt Zürich
[2A.288/2003] Erw. 2.2).
Fällt eine prozessuale Revision der Verfügung vom 11. Juni 2003 nicht in
Betracht, kann darauf auch nicht wiedererwägungsweise (BGE 127 V 469 Erw. 2c)
zurückgekommen werden. Die Voraussetzung der zweifellosen Unrichtigkeit ist
zwar gegeben. Sie beruht jedoch auf einer unrichtigen
Sachverhaltsfeststellung, was bei zumutbarer Sorgfalt seitens des
Beschwerdeführers hätte vermieden werden können (vgl. SVR 1997 EL Nr. 36
S. 107).

5.2 Zu prüfen bleibt, ob ein Grund für die Wiederherstellung der
Einsprachefrist gegen die Verfügung vom 11. Juni 2003 nach Art. 41 Abs. 1
ATSG besteht. Diese Bestimmung lautet wie folgt: Ist die gesuchstellende
Person oder ihre Vertretung unverschuldeterweise abgehalten worden, binnen
Frist zu handeln, so wird diese wiederhergestellt, sofern sie unter Angabe
des Grundes binnen 10 Tagen nach Wegfall des Hindernisses darum ersucht. Nach
der sinngemäss anwendbaren Rechtsprechung zu Art. 35 Abs. 1 OG und Art. 24
VwVG kann Krankheit ein Fristwiederherstellungsgrund sein (BGE 112 V 255
Erw. 2a mit Hinweisen und Urteil S. AG vom 9. Juli 2004 [C 272/03] Erw. 1).
Voraussetzung ist, dass die körperliche, geistige oder psychische
Beeinträchtigung jegliches auf die Fristwahrung gerichtetes Handeln wie etwa
den Beizug eines (Ersatz-)Vertreters verunmöglichte (vgl. Urteil H. vom
11. April 2004 [H 44/05] Erw. 2.1 und Urteil des Bundesgerichts vom 14. Juni
2005 in Sachen X. gegen Einwohnergemeinde Bern [1P.123/2005] Erw. 1, je mit
Hinweisen). Die Erkrankung hört auf, ein unverschuldetes Hindernis im Sinne
von Art. 35 Abs. 1 OG und Art. 41 Abs. 1 ATSG zu sein, sobald es für den
Betroffenen objektiv und subjektiv zumutbar wird, die Rechtshandlung selber
vorzunehmen oder die als notwendig erkennbare Interessenwahrung an einen
Dritten zu übertragen (BGE 119 II 87 Erw. 2a, 112 V 255).
Es ist aufgrund der Ausführungen in Erw. 5.1 fraglich, ob der
Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen effektiv nicht in der Lage war,
selber rechtzeitig gegen die Verfügung vom 11. Juni 2003 Einsprache zu
erheben oder wenigstens eine Drittperson damit zu beauftragen. Allenfalls
könnte im Umstand, dass die Ergänzungsleistung nicht, wie offenbar erwartet,
erhöht, sondern um Fr. 153.- von Fr. 642.- auf Fr. 489.- im Monat
herabgesetzt wurde, ein Indiz für die objektive und subjektive Unmöglichkeit
jeglichen auf die Fristwahrung gerichteten Handelns erblickt werden. Dies
kann jedoch offen bleiben. In seinem zuhanden des zuständigen Steueramtes
verfassten Arztzeugnis vom 19. Oktober 2004 führte der behandelnde Psychiater
Dr. med. C.________ u.a. aus, der Patient habe über eine längere Phase den
finanziellen und administrativen Angelegenheiten nicht mehr nachkommen
können. Er sei somit auch nicht in der Lage gewesen, die Steuererklärungen
fristgemäss einzureichen. Es werde ihm möglich sein, das Versäumte bis
spätestens Ende Oktober 2004 nachzuholen. Eine entsprechende Fristerstreckung
und ein Rückzug des Einschätzungsentscheides würde ihn sehr entlasten. Der
Beschwerdeführer macht nicht geltend, er habe aus gesundheitlichen Gründen
die offenen Steuererklärungen tatsächlich nicht, wie von seinem Arzt
gegenüber dem Steueramt in Aussicht gestellt, eingereicht. Damit besteht aber
kein Grund zur Annahme, er wäre damals nicht auch in der Lage gewesen, die
Unrichtigkeit der EL-Berechnung gemäss Verfügung vom 11. Juni 2003 zu melden.
Sein Gesuch vom 6. Mai 2005 hat daher für eine Wiederherstellung der
Einsprachefrist nach Art. 41 Abs. 1 ATSG als verspätet zu gelten.
Der angefochtene Entscheid ist somit rechtens.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 4. Dezember 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: