Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 40/2006
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Urteil vom 19. Juni 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

S. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Urs Wüthrich,
Zentralplatz 51, 2501 Biel,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Leistungen, Chutzenstrasse 10,
3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 2. Juni 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1956 geborene S.________ wurde mit Urteil vom 7. Mai 1999 von H.________
geschieden. Der ehemalige Ehegatte wurde dabei zur Entrichtung von
monatlichen Unterhaltsbeiträgen verpflichtet. Da S.________ ihren Haushalt
(spätestens) seit 1. Dezember 1999 mit einem neuen Lebenspartner teilt,
strengte H.________ im Mai 2004 die Aufhebung der Unterhaltsverpflichtung an.
Mit gerichtlichem Vergleich vom 11. März 2005 wurde die bis 2009 befristete
Unterhaltsrente einvernehmlich ab 1. Januar 2005 aufgehoben.

Am 13. Juli 2005 meldete sich S.________ zum Bezug von Ergänzungsleistungen
zur AHV/IV an. Die Ausgleichskasse des Kantons Bern rechnete die erwähnten
Unterhaltsbeiträge als Verzichtseinkommen auf und wies das Leistungsgesuch
mit Verfügung vom 20. September 2005 ab Juli 2005 zufolge eines Überschusses
ab. An ihrem Standpunkt hielt sie mit Einspracheentscheid vom 15. November
2005 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 2. Juni 2006 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ die Ausrichtung von
Ergänzungsleistungen in gesetzlicher Höhe seit wann rechtens beantragen.
Zudem lässt sie um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz
75) und es wurden die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde,
richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft
gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG)
vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über
den Anspruch auf Ergänzungsleistungen (Art. 2 Abs. 1 ELG) sowie über die
Bestandteile und Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung (Art. 3 und 3a
ELG) zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden. Richtig sind auch
die Ausführungen zur Anrechenbarkeit von familienrechtlichen
Unterhaltsbeiträgen (Art. 3c Abs. 1 lit. h ELG) und von Einnahmen sowie
Vermögenswerten, auf welche verzichtet worden ist (Art. 3c Abs. 1 lit. g
ELG).

3.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf
Ergänzungsleistungen und in diesem Rahmen die Frage, ob die Ausgleichskasse
zu Recht die Unterhaltsrente, die mit gerichtlich genehmigter Vereinbarung
vom 11. März 2005 per 1. Januar 2005 aufgehoben worden war, als
Verzichtseinkommen aufgerechnet hat.

3.1 Die Ausgleichskasse nahm diese Aufrechnung vor im Wesentlichen mit der
Begründung, es liege kein materieller Entscheid über die Abänderung des
Scheidungsurteils, sondern lediglich ein gerichtlicher Vergleich vor, an
welchen die EL-Durchführungsstelle nicht gebunden sei. Die allenfalls die
Unterhaltspflicht aufhebende Tatsache des gefestigten Konkubinates sei - so
die Verwaltungsbehörde - mangels materieller Prüfung durch den Zivilrichter
nicht rechtsgenüglich nachgewiesen. Die Ausgleichskasse beruft sich für die
Begründung ihres Standpunktes auf BGE 120 V 442 ff., in welchem das
Eidgenössische Versicherungsgericht die Aufrechnung von Unterhaltsbeiträgen,
auf welche eine im Konkubinat lebende Frau aussergerichtlich  verzichtet
hatte, bestätigte und darlegte, dass es der EL-Ansprecherin hätte zugemutet
werden können, sich auf einen Abänderungsprozess einzulassen, anstatt in
einer aussergerichtlichen Vereinbarung auf Unterhaltsbeiträge zu verzichten.

3.2 Das kantonale Gericht bestätigte die Aufrechnung. Es führte aus, selbst
bei einer gerichtlichen Genehmigung eines Vergleichs habe der Zivilrichter
mangels eingehender materieller Prüfung nicht über die Begründetheit des
streitigen Anspruchs entschieden, mit der Folge, dass die
EL-Durchführungsorgane an den Vergleich nicht gebunden seien. Der
EL-Ansprecherin stehe jedoch - so die Vorinstanz - der Nachweis offen, dass
der genehmigte Vergleich der Sach- und Rechtslage entspreche. Hierzu habe die
EL-Behörde der gesuchstellenden Person Gelegenheit zu geben. Erbringe diese
den Nachweis, dass kein Anspruch auf Unterhaltsbeiträge mehr bestehe oder
dass der Unterhaltspflichtige nicht in der Lage sei, die geschuldeten
Beiträge zu entrichten, liege kein Verzichtstatbestand vor. Dieser Nachweis
sei im konkreten Fall nicht gelungen.

3.3 Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, der Vorschlag zum
Vergleichsabschluss sei vom Richter in Kenntnis der Sachlage erfolgt. Die
Frage des Vorliegens eines qualifizierten Konkubinates sei aufgrund der
gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung bestehenden Tatsachenvermutung
nicht schwierig zu beantworten. Die einzige Möglichkeit, dieser
Tatsachenvermutung entgegenzuwirken, sei das Erbringen des Gegenbeweises, was
einzig durch sie erfolgen könnte. Da sie jedoch in einem Konkubinat lebe,
hätte sie diesen Beweis nicht antreten können und sich somit in ein
aussichtsloses Verfahren einlassen müssen, in welchem sie demzufolge zur
Tragung sämtlicher Kosten verpflichtet worden wäre.

4.
4.1 Familienrechtliche Unterhaltsbeiträge fallen hinsichtlich des Anspruchs
auf Ergänzungsleistungen unter die anrechenbaren Einnahmen (Art. 3c Abs. 1
lit. h ELG). Wenn darauf verzichtet wird, ohne dass dafür eine Gegenleistung
erbracht wird, werden sie grundsätzlich aufgerechnet (Art. 3c Abs. 1 lit. g
ELG). Voraussetzung dafür ist, dass der Unterhaltsanspruch noch besteht.

4.2 Das Scheidungsurteil betreffend die Ehe der Beschwerdeführerin und ihrem
ehemaligen Gatten ist am 7. Mai 1999 und damit vor Inkrafttreten der
ZGB-Revision 1998/2000 ergangen. Die Abänderung des Ehegattenunterhalts
beurteilt sich deshalb nach den Bestimmungen des früheren Rechts unter
Vorbehalt der Bestimmungen über das Verfahren (Art. 7a Abs. 3 SchlTZGB).
Gemäss aArt. 153 Abs. 1 ZGB hört die Pflicht zur Entrichtung der Rente auf,
wenn der berechtigte Ehegatte sich wieder verheiratet. Dem Aufhebungsgrund
der Wiederverheiratung gemäss dieser Bestimmung steht nach der Rechtsprechung
der Fall gleich, in dem der unterhaltsberechtigte Ehegatte in einer festen
Beziehung lebt, die ihm ähnliche Vorteile sichert wie die Ehe. Entscheidend
für den Wegfall des Unterhaltsbeitrages ist, ob der Unterhaltsberechtigte mit
dem neuen Partner eine so enge Lebensgemeinschaft bildet, dass dieser bereit
ist, ihm Beistand und Unterstützung zu leisten, wie es Art. 159 Abs. 3 ZGB
von einem Ehegatten fordert  (BGE 124 III 52 E. 2a/aa S. 54). Die Beweislast
für den Aufhebungsgrund liegt beim Kläger (Art. 8 ZGB). Weil der Beweis
dafür, dass sich die Konkubinatspartner die Treue halten und sich Beistand
leisten wie Eheleute, schwierig zu erbringen ist, hat das Bundesgericht eine
Tatsachenvermutung in dem Sinne aufgestellt, dass bei einem Konkubinat,
welches im Zeitpunkt der Einleitung des Abänderungsverfahrens bereits fünf
Jahre gedauert hat, grundsätzlich davon auszugehen ist, es handle sich um
eine Schicksalsgemeinschaft ähnlich einer Ehe. Der Kläger hat nur die
Vermutungsbasis zu beweisen, d.h. zu beweisen, dass ein Konkubinat vorliegt
und dass dieses fünf Jahre gedauert hat. Gelingt ihm dies, greift die
erwähnte Vermutungsfolge. Es ist alsdann Sache der unterhaltsberechtigten
Beklagten zu beweisen, das Konkubinat sei nicht so eng und stabil, dass sie
Beistand und Unterstützung ähnlich wie in einer Ehe erwarten könne, oder dass
sie trotz des qualifizierten Konkubinats aus besonderen und ernsthaften
Gründen weiterhin Anspruch auf die Scheidungsrente erheben dürfe (zum Ganzen:
Urteil 5C.70/2003 vom 2. Juni 2003 in FamPra.ch 2003 S. 905).

5.
5.1 In tatsächlicher Hinsicht steht auf Grund der Akten fest, dass M.________
(spätestens) seit 1. Dezember 1999 in der Wohnung der Beschwerdeführerin
lebt. Der ehemalige Ehegatte der Beschwerdeführerin liess ihr im Mai 2004
mitteilen, wegen des fünfjährigen Konkubinates fielen die Unterhaltsbeiträge
dahin, was entweder gestützt auf eine Parteivereinbarung oder durch
richterliches Abänderungsurteil erfolgen könne. Die Anfrage, ob sie bereit
sei, eine Vereinbarung abzuschliessen, verneinte die Beschwerdeführerin nach
Vorabklärungen bei der Ausgleichskasse. Der ehemalige Gatte liess daher eine
Urteilsabänderungklage einreichen mit dem Begehren, die
Unterhaltsverpflichtung sei aufzuheben. Im Rahmen des Aussöhnungsversuches
führte der Gerichtspräsident Vergleichsverhandlungen durch, welche den
Abschluss einer Vereinbarung zur Folge hatten.

5.2 Der Auffassung von Verwaltung und Vorinstanz, nur ein materieller
Gerichtsentscheid über die Frage des Vorliegens eines Konkubinats könne die
EL-Stelle binden, kann nicht ohne weiteres beigepflichtet werden. Dem
kantonalen Gericht ist insoweit zuzustimmen, als die Gefahr des
Rechtsmissbrauchs besteht, wenn geschiedene Ehegatten untereinander den
Rentenanspruch aufheben und der auf den Anspruch verzichtende Gatte in der
Folge Ergänzungsleistungen verlangt. Dieser Sachverhalt - eine
aussergerichtliche Vereinbarung zur Aufhebung von Unterhaltsbeiträgen -
liegt BGE 120 V 442 ff., auf welchen sich die Ausgleichskasse beruft, zu
Grunde. Vorliegend aber wurde im Rahmen des Abänderungsprozesses ein
gerichtlicher Vergleich abgeschlossen. Die Ausführungen der Vorinstanz zum
gerichtlichen Vergleich sind zwar korrekt, treffen jedoch bei der Abänderung
von Unterhaltsbeiträgen nur zu, wenn es um Abänderung zufolge veränderter
Verhältnisse geht und demzufolge umfassender Abklärungsbedarf besteht. Die
Aufhebung der Unterhaltsbeiträge zufolge Bestehens eines Konkubinats ist
insofern ein Sonderfall, als - wie bereits in Erw. 4.2 dargelegt - nach
fünfjährigem Konkubinat eine Tatsachenvermutung in dem Sinne besteht, es
handle sich um eine Schicksalsgemeinschaft ähnlich einer Ehe, was den
Untergang des Unterhaltsanspruchs zur Folge hat.

Das fünfjährige Zusammenleben der Beschwerdeführerin mit M.________ ergibt
sich aus dessen Wohnsitzbescheinigung, sodass die Vermutungsfolge greift.
Selbst wenn das Gericht nicht gehalten ist, einen gerichtlichen Vergleich
materiell zu überprüfen, ist doch davon auszugehen, dass es bei Vorliegen
irgendwelcher Hinweise auf Missbrauch den Vergleich nicht genehmigen würde.
Sollte die EL-Stelle trotz richterlicher Genehmigung Zweifel gehabt haben,
ist kein Grund ersichtlich, von der Pflicht der Verwaltung zur Untersuchung
des Sachverhalts von Amtes wegen abzusehen und sie zu verhalten, weitere
Abklärungen vorzunehmen.

5.3 Konsequenz der Argumentation von Verwaltung und Vorinstanz wäre
schliesslich, dass sich die Beschwerdeführerin auf einen aussichtslosen
Prozess einzulassen und die daraus resultierenden Kosten zu tragen hätte. Ein
solch unnötiger Leerlauf kann indessen - wie dies bereits für den Fall der
Uneinbringlichkeit rechtlich bestehender Beiträge entschieden worden ist (BGE
120 V 442 m.H. auf ZAK 1992 S. 255 E. 2c,  P 62/91; Urteil P 57/01vom 17.
Juli 2003, E. 4.1) - nicht verlangt werden.

6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).

Zufolge teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde steht der
Beschwerdeführerin eine reduzierte Parteientschädigung zu (Art. 159 in
Verbindung mit Art. 135 OG). Für den Restbetrag kann ihr die unentgeltliche
Verbeiständung gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt
sind (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es
wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach
die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn
sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 2. Juni 2006 und der
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Bern vom 15. November
2005 aufgehoben werden, und es wird die Sache an die Ausgleichskasse des
Kantons Bern zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen über den
Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Urs
Wüthrich, Biel, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
ausgerichtet.

5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren
entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 19. Juni 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: