Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 19/2006
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P 19/06

Urteil vom 19. Juni 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger,
Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Attinger.

Stadt X.________, Beschwerdeführerin,

gegen

Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, Ausgleichskasse,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, Beschwerdegegnerin,

betreffend S.________, 1955, vertreten durch seinen Beistand.

Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 2. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene, an Multipler Sklerose leidende S.________ meldete sich im
September 2004 bei der Gemeindezweigstelle Y.________ der
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, Ausgleichskasse, zum Bezug von
Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente an. Verfügungsweise hielt die
Sozialversicherungsanstalt am 15. Oktober 2004 fest, "die Anmeldung zum Bezug
einer Ergänzungsleistung (müsse) im Kanton Zürich vorgenommen werden". Mit
seinem Heimeintritt in der Stadt X.________ habe der Versicherte in dieser
(zürcherischen) Gemeinde zivilrechtlichen Wohnsitz genommen und den
bisherigen, in Y.________ gelegenen aufgegeben. Folglich sei nicht der Kanton
Aargau für die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistungen zuständig.
Die von der Stadt X.________ hiegegen erhobene Einsprache wies die
Sozialversicherungsanstalt mit Entscheid vom 4. Mai 2005 ab.

B.
B.aDas Versicherungsgericht des Kantons Aargau trat auf die von der Stadt
X.________ gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mangels
Aktivlegitimation dieser Gemeinde nicht ein (Entscheid vom 16. August 2005).

B.b Das Eidgenössische Versicherungsgericht hiess die gegen den
Nichteintretens-Entscheid des kantonalen Gerichts eingereichte
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Stadt X.________ (soweit es darauf eintrat)
mit Urteil vom 24. Januar 2006 gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und
wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese über die Beschwerde
gegen den Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt vom 4. Mai 2005
materiell entscheide.

B.c Mit Entscheid vom 2. März 2006 wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau die Beschwerde ab und beantwortete damit die Frage nach der örtlichen
Zuständigkeit dahin gehend, dass der Kanton Zürich bzw. (nach dessen
EL-Durchführungsregelung) die Stadt X.________ die Ergänzungsleistungen
festzusetzen und auszuzahlen habe.

C.
Die Stadt X.________ führt erneut Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, es sei festzustellen, dass S.________ nach wie vor in Y.________
Wohnsitz habe und demzufolge die Sozialversicherungsanstalt des Kantons
Aargau für die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistungen zuständig
sei.

Während S.________ auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen lässt, verzichten die Sozialversicherungsanstalt und das Bundesamt
für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG;
SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da
der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren
noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

1.2 Im letztinstanzlichen Verfahren um die örtliche Zuständigkeit zur
Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistungen gilt die umfassende
Kognition gemäss Art. 132 OG (in der hier anwendbaren, bis Ende Juni 2006
gültig gewesenen Fassung; BGE 108 V 22 E. 1 S. 24).

2.
Gemäss Art. 1a Abs. 1 ELG leistet der Bund Beiträge an die Kantone, die
aufgrund eigener, den Anforderungen dieses Gesetzes entsprechender
Bestimmungen den Bezügern von Renten der Alters- und
Hinterlassenenversicherung (AHV) sowie der Invalidenversicherung (IV)
Ergänzungsleistungen gewähren. Die Kantone bezeichnen die Organe, denen die
Entgegennahme der Gesuche, die Festsetzung und Auszahlung der
Ergänzungsleistungen obliegen; sie können mit diesen Aufgaben die kantonalen
Ausgleichskassen betrauen (Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Satz ELG).
Während der Kanton Aargau - wie die meisten Kantone - die kantonale
Ausgleichskasse (Sozialversicherungsanstalt) mit der EL-Durchführung betraut
hat (§ 16 des aargauischen Gesetzes über die Ergänzungsleistungen zur AHV und
IV [Ergänzungsleistungsgesetz; SAR 831.200]), hat der Kanton Zürich diese
Aufgabe den politischen Gemeinden übertragen (§ 2 des Zürcher Gesetzes über
die Zusatzleistungen zur eidgenössischen AHV/IV [Zusatzleistungsgesetz;
LS 831.3]). Diese haben grösstenteils für die Finanzierung der
auszurichtenden Ergänzungsleistungen aufzukommen und die mit der jeweiligen
Fallführung verbundenen Verwaltungskosten gänzlich zu übernehmen (§§ 33 ff.
des zürcherischen Zusatzleistungsgesetzes in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1
letzter Satz und Art. 9 ELG).

3.
Zuständig für die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistung ist nach
Art. 1a Abs. 3 ELG der Kanton, in dem der Bezüger seinen Wohnsitz hat. Bei
streitiger Zuständigkeit haben die kantonalen Versicherungsgerichte und
letztinstanzlich das Bundesgericht über die Wohnsitzfrage zu entscheiden (BGE
132 V 74 E. 4.1.2 S. 79, 127 V 237 E. 1 S. 238, 108 V 22 E. 2a S. 24).

3.1 Der im Rahmen des EL-Rechts massgebende Wohnsitz einer Person bestimmt
sich gemäss Art. 13 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 ELG nach den
Art. 23-26 ZGB. Der zivilrechtliche Wohnsitz einer Person befindet sich an
dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält (Art. 23
Abs. 1 ZGB) und den sie sich zum Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen gemacht
hat (BGE 127 V 237 E. 1 S. 238, 125 III 100 E. 3 S. 102). Für die Begründung
des Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: ein objektives
äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die Absicht
dauernden Verbleibens. Nach der Rechtsprechung kommt es nicht auf den inneren
Willen, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände
objektiv schliessen lassen (BGE 127 V 237 E. 1 S. 238, 125 V 76 E. 2a S. 77).
Der Wohnsitz bleibt an diesem Ort bestehen, solange nicht anderswo ein neuer
begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB). Der Aufenthalt an einem Ort zum Zweck
des Besuchs einer Lehranstalt und die Unterbringung einer Person in einer
Erziehungs-, Versorgungs-, Heil- oder Strafanstalt begründen nach Art. 26 ZGB
keinen Wohnsitz.

Obwohl der Wortlaut nicht ohne weiteres darauf schliessen lässt, wird in
Art. 26 ZGB eine widerlegbare Vermutung angestellt, wonach der Aufenthalt am
Studienort oder in einer Anstalt nicht bedeute, dass auch der
Lebensmittelpunkt an den fraglichen Ort verlegt worden ist; Art. 26 ZGB
umschreibt somit im Ergebnis negativ, was Art. 23 Abs. 1 ZGB zum Wohnsitz in
grundsätzlicher Hinsicht positiv festhält. Bei der Unterbringung in einer
Anstalt, d.h. der Anstaltseinweisung durch Dritte, die nicht aus eigenem
Willen erfolgt, wird man regelmässig eine Wohnsitznahme von vornherein
ausschliessen müssen. Eine andere Sichtweise ist einzunehmen, wenn sich eine
urteilsfähige mündige Person aus freien Stücken, d.h. freiwillig und
selbstbestimmt zu einem Anstaltsaufenthalt unbeschränkter Dauer entschliesst
und überdies die Anstalt und den Aufenthaltsort frei wählt. Sofern bei einem
unter solchen Begleitumständen erfolgenden Anstaltseintritt der
Lebensmittelpunkt in die Anstalt verlegt wird, wird am Anstaltsort ein neuer
Wohnsitz begründet. Als freiwillig und selbstbestimmt hat der
Anstaltseintritt auch dann zu gelten, wenn er vom "Zwang der Umstände" (etwa
Angewiesensein auf Betreuung, finanzielle Gründe) diktiert wird (BGE 127 V
237 E. 2b und c S. 239 ff., 108 V 22 E. 2b und 3b S. 25 f.; Pra 2001 Nr. 131
S. 787 ff. E. 4a und b; Ralph Jöhl, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, 2. A.
2006, Rz. 44 ff.; Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur AHV
und IV [WEL], Rz. 1018, 1020 f.).
3.2 S.________ trat am 1. September 2002 ins Heim Z.________ in X.________
ein. Hiebei handelt es sich um ein Wohnheim für körperlich
Schwerstbehinderte, die an den Folgen einer Multiplen Sklerose, einer
Hirnverletzung oder einer anderen chronischen neurologischen Krankheit leiden
und dauernd auf Assistenz, Pflege, Betreuung oder Begleitung angewiesen sind.
Gemäss den Angaben seines Beistandes in der vorinstanzlichen Stellungnahme
vom 13. Juli 2005 wurde die Institution seinerzeit vom Versicherten und
seiner Ehefrau ausgewählt, weil zu Hause die erforderliche Pflege und
Betreuung nicht mehr habe erbracht werden können und der Kanton Aargau über
kein ähnliches (hoch spezialisiertes) Invalidenwohnheim verfüge. S.________
fühle sich im Heim Z.________ sehr wohl und sei dort auch gut aufgehoben.
Gemäss Scheidungsurteil vom 23. August 2004 ist er berechtigt, seine beiden
1989 und 1991 geborenen Söhne jeweils am 1. und 3. Sonntag des Monats bei
sich im Pflegeheim zu Besuch zu empfangen.

3.3 Im hier zu beurteilenden Fall mag offen bleiben, ob das Heim Z.________
eine Anstalt im Sinne von Art. 26 ZGB ist oder nicht (vgl. dazu BGE 127 V 237
E. 2b am Anfang und am Ende sowie E. 2c am Ende S. 239 ff.). Wenn die Frage
zu bejahen wäre, müsste jedenfalls die gesetzliche Vermutung, wonach der
Lebensmittelpunkt von  S.________ nicht an den Ort des Invalidenwohnheims
übergegangen sei, als widerlegt gelten: Die angeführte Aktenlage lässt
nämlich einzig den Schluss zu, dass sich der Versicherte freiwillig und
eigenverantwortlich für einen unbefristeten Aufenthalt im Heim Z.________
entschieden hat. Entgegen der Auffassung der Beschwerde führenden Stadt
X.________ ändert daran der äussere Umstand nichts, dass "es mindestens in
der Deutschschweiz keine andere vergleichbare Einrichtung gibt" (E. 3.1
hievor am Ende). Des Weitern muss aufgrund der erkennbaren Gegebenheiten
gefolgert werden, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen von S.________
spätestens mit der im September 2004 rechtskräftig gewordenen Ehescheidung in
das Heim Z.________ verlegt worden ist und damit in X.________ ein neuer
Wohnsitz begründet wurde. Dass der Versicherte in dieser Stadt bloss "als
Wochenaufenthalter gemeldet" ist, führt - entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung - zu keiner anderen
Betrachtungsweise, weil für den zivilrechtlichen Wohnsitz nicht massgebend
ist, wo eine Person angemeldet ist und ihre Schriften hinterlegt hat (BGE
127 V 237 E. 2c S. 241). Was den Einwand der Beschwerdeführerin anbelangt,
die geltende gesetzliche Regelung benachteilige die Standortgemeinden von
Institutionen zur Betreuung und Pflege Invalider, ist auf BGE 127 V 237 E. 2d
am Ende S. 242 zu verweisen, wo das frühere Eidgenössische
Versicherungsgericht in vergleichbarem Zusammenhang festhielt, es bleibe
Sache des Gesetzgebers, Abhilfe zu schaffen und gegebenenfalls
ergänzungsleistungsrechtlich eine vom zivilrechtlichen Wohnsitz abweichende
Lösung vorzusehen.

3.4 Nach dem Gesagten sind die Behörden der Stadt X.________ und nicht die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau zuständig für die Festsetzung
und Auszahlung der Ergänzungsleistungen ab dem Zeitpunkt der im September
2004 erfolgten Anmeldung zum Leistungsbezug (Art. 21 Abs. 1 ELV).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Sache geht an die Stadt X.________, damit sie über den Anspruch von
S.________ auf Ergänzungsleistungen ab September 2004 verfüge.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
dem Bundesamt für Sozialversicherungen und S.________ zugestellt.

Luzern, 19. Juni 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: