Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 12/2006
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{T 7}
P 12/06

Urteil vom 2. Februar 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Widmer, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiber Flückiger.

B. ________, 1934, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Marc Brügger-Kuret,
Bahnhofstrasse 15, 8570 Weinfelden,

gegen

Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, Ausgleichskasse, EL-Stelle, St.
Gallerstrasse 13, 8501 Frauenfeld, Beschwerdegegner.

Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission
des Kantons Thurgau vom 23. Januar 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1934 geborene B.________ meldete sich am 23. Dezember 2004 zum Bezug von
Ergänzungsleistungen zur Altersrente der Alters- und
Hinterlassenenversicherung an. Die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau holte
verschiedene Auskünfte ein. Anschliessend verneinte sie mit Verfügung vom
15. Juni 2005 einen Leistungsanspruch. Die der Beurteilung zu Grunde liegende
Berechnung enthält einen als Vermögensverzicht aufgerechneten Betrag von
Fr. 562'500.-. Im Beiblatt zur Verfügung wurde erläuternd ausgeführt, der
Gesuchsteller und seine Ehefrau hätten insgesamt rund Fr. 750'000.- in eine
Anleihe (12 %) der Investments M.________ angelegt. Aus dieser Investition
habe ein Totalverlust resultiert. Angesichts des hohen Risikos, welches mit
dieser Anlage eingegangen worden sei, müssten drei Viertel der Investition
als Verzichtsvermögen angerechnet werden. Diesen Standpunkt bestätigte die
Verwaltung mit Einspracheentscheid vom 31. August 2005.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau ab (Entscheid vom 23. Januar 2006).

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neuberechnung der
Ergänzungsleistungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Ferner wird um
unentgeltliche Verbeiständung ersucht.
Rekurskommission und Ausgleichskasse schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10
Rz 75). Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten
Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch
nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses
Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale
Gerichtsentscheid am 23. Januar 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007
erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in
Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege
(OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 395 Erw. 1.2).

2.
Die kantonale Rekurskommission hat die vorliegend relevanten Bestimmungen
über die Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung (Art. 3a Abs. 1 und 4,
Art. 3b Abs. 1 und 3 sowie Art. 3c Abs. 1 ELG) zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zur
Anrechenbarkeit von Vermögen, auf welches verzichtet worden ist (Art. 3c
Abs. 1 lit. g ELG), und zum Begriff des Vermögensverzichts, insbesondere im
Zusammenhang mit Investitionen (Rz 2061 der Wegleitung über die
Ergänzungsleistungen zur AHV und IV, WEL; nicht veröffentlichtes Urteil S.
vom 30. November 1998, P 17/97; vgl. auch BGE 131 V 329).

3.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf
Ergänzungsleistungen und in diesem Rahmen die Frage, ob die Ausgleichskasse
zu Recht einen Betrag von Fr. 562'500.- unter dem Titel "Vermögensverzicht"
angerechnet hat.

3.1 In tatsächlicher Hinsicht steht aufgrund der Akten fest, dass der
Beschwerdeführer am 10. Januar 2004 die C.________ AG ermächtigte seine bei
der Bank X.________ geführten Geschäftsbeziehungen im Namen und auf Rechnung
und Gefahr des Vollmachtgebers ohne jede Einschränkung und in freiem Ermessen
zu verwalten. Unter der Überschrift "Zusatzermächtigungen" wurde der
Vollmachtnehmerin ausdrücklich gestattet, "im Rahmen der Vermögensverwaltung
auch Anlagen zu tätigen, die nicht leicht handelbar sind und/oder für die
kein repräsentativer Markt bzw. nicht leicht nachvollziehbare Kurse
(Handelspreise) bestehen". Anlagen im Sinne dieser Zusatzermächtigung sind
gemäss deren Wortlaut "Anlagen, welche besondere Risiken in Bezug auf die
Anlagedauer (Haltefristen), Marktgängigkeit (eingeschränkte Veräusserbarkeit
aufgrund fehlender Abnehmer oder Umfang der Anlagen), Herkunft, rechtliche
Konstruktion und Beherrschungsverhältnisse aufweisen". Weiter wurde
festgehalten, der Vollmachtgeber bestätige "mit der Erteilung dieser
Ermächtigung vom Vermögensverwalter über die mit diesen Geschäftsarten
verbundenen besonderen Risiken informiert worden zu sein, diese Risiken
verstanden zu haben und mit ihnen einverstanden zu sein". Gestützt auf diese
Vollmacht wurde gleichentags der Auftrag erteilt, für einen Gesamtbetrag von
rund Fr. 750'000.- Notes (Schuldverschreibungen) zu 12 % der Investments
M.________ zu erwerben. Das investierte Geld umfasste praktisch das gesamte
liquide Vermögen des Beschwerdeführers, einschliesslich bar ausbezahlter
Pensionskassengelder. Die Zahlungen der Investments M.________ blieben in der
Folge aus und die Gesellschaft fiel in Liquidation. Für den Beschwerdeführer
resultierte ein Totalverlust.

3.2 Wie die kantonale Rekurskommission zutreffend erwogen hat, bejahte die
Rechtsprechung - mit Blick auf die konkreten Umstände - einen
Vermögensverzicht bei einem EL-Ansprecher, welcher ohne Rechtspflicht, ohne
jede Sicherheit und ohne adäquate Gegenleistung  ein grösseres Darlehen
gewährt hatte und dabei vollumfänglich zu Verlust gekommen war (nicht
veröffentlichtes Urteil S. vom 30. November 1998, P 17/97). Über den
Verzichtscharakter einer Vermögensanlage entscheidet, wie das Bundesgericht
in einem neuen Urteil präzisiert hat, nicht in erster Linie das Fehlen einer
Rechtspflicht und einer adäquaten Gegenleistung, sondern das Ausmass des
Risikos, welches im Zeitpunkt der Investition eingegangen wird (Urteil A. vom
26. Januar 2007, P 55/05, Erw. 3.2 am Ende).

3.3 Das mit einer Investition verbundene Risiko hängt in erster Linie von der
Bonität des Schuldners und der Möglichkeit ab, den Anspruch auf Rückzahlung
des angelegten Betrags und Leistung von Zinsen gegebenenfalls durchzusetzen.
Während öffentliche Anleihen westlicher Industrienationen im Allgemeinen als
sicher gelten können, trifft dies bei privaten Unternehmen in stark
unterschiedlichem Masse zu. Insbesondere Gesellschaften, deren Struktur nicht
oder nicht genügend transparent ist, bieten unter Umständen nur geringe
Gewähr für die Begleichung künftiger Forderungen.

3.4 Die Investments M.________ war auf der Insel Y.________ registriert. Über
die Gesellschaft, welche nicht börsenkotiert war und in keinem Rating
figurierte, existierten ebenso wenig zugängliche Informationen wie über die
gezeichneten Notes mit einem versprochenen Zins von 12 %. Auch wenn das volle
Ausmass der fehlenden Transparenz und der dubiosen Machenschaften der
Gesellschaft erst nach der Tätigung der Investition bekannt wurde, muss von
einer bereits im damaligen Zeitpunkt gegebenen Erkennbarkeit des
ausserordentlich hohen Risikos ausgegangen werden. Insbesondere wies der
Zinssatz von 12 % angesichts des damaligen niedrigen Zinsniveaus auf die
äusserst fragliche Bonität der Schuldnerin hin, hätte diese doch andernfalls
zu wesentlich günstigeren Konditionen Finanzmittel beschaffen können. Dem
Versprechen eines hohen Zinses stand unter diesen Umständen das massiv
erhöhte Risiko eines Verlustes der hingegebenen Gelder und damit des gesamten
liquiden Vermögens gegenüber. Dass es sich um ein ausgesprochenes
Risikogeschäft handelte, musste sowohl dem bevollmächtigten
Vermögensverwalter als auch dem Beschwerdeführer bewusst sein. Letzterer
hatte denn auch die bereits erwähnte Spezialvollmacht für Anlagen mit
besonderem Risiko unterzeichnet. Die Tatsache, dass sich sein Vermögen
bereits zuvor wegen ungünstigen Börsengangs von rund Fr. 1'240'000.- auf rund
Fr. 860'000.- verringert hatte und die riskante Investition gemäss den
Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erfolgte, um diesen Verlust
wieder wettzumachen, vermag den Vorwurf grobfahrlässigen Verhaltens (vgl. das
zitierte Urteil A. vom 26. Januar 2007, P 55/05, Erw. 5.1 und 5.2) nicht zu
entkräften. Wenn Verwaltung und Vorinstanz drei Viertel des investierten
Betrags als Verzichtsvermögen aufgerechnet haben, lässt sich dies unter den
gegebenen Umständen nicht beanstanden.

3.5 Die Vorinstanz hat mit Recht offen gelassen, ob der Verzichtsbetrag wegen
der zwischenzeitlich erfolgten Scheidung hälftig auf die Eheleute aufzuteilen
sei, da unabhängig davon ein Einnahmenüberschuss resultiert.

4.
In der ergänzenden Beschwerdeschrift vom 7. März 2006 wird eventualiter
beantragt, es sei das Verfahren bis zum Abschluss eines vom Beschwerdeführer
angestrengten Schadenersatzverfahrens gegen die Bank X.________ zu sistieren.
Dieser Antrag ist abzuweisen, weil der Ausgang des Schadenersatzprozesses
nicht geeignet ist, die Beurteilung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen zu
beeinflussen: Wird das Schadenersatzbegehren abgewiesen, ändert dies an der
Risikonatur des Geschäftes nichts; wird es gutgeheissen, so erhält der
Versicherte Mittel in die Hand, die seine Bedürftigkeit ausschliessen.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 Satz 1 OG). Die unentgeltliche
Verbeiständung kann gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen
(BGE 125 V 202 Erw. 4a) erfüllt sind. Der Beschwerdeführer wird jedoch auf
Art. 152 Abs. 3 OG hingewiesen, wonach er dem Gericht Ersatz zu leisten haben
wird, wenn er dereinst dazu im Stande sein sollte.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Das Sistierungsgesuch wird abgewiesen.

2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Marc
Brügger-Kuret, Weinfelden, aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 2. Februar 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: